Ich sitze an meinem Esszimmertisch und versuche, einem Hörspiel zu folgen. Es gelingt mir nicht. Meine Gedanken schweifen wieder und wieder ab. Sie schweifen zu all den Problemen und Anforderungen, die mir Tag für Tag begegnen. Sie lassen mich einfach nicht zur Ruhe kommen.
Ich bin unzufrieden mit mir selbst. Ich merke, wie ich mich langsam, aber stetig verändere. Wobei die Veränderung an und für sich eigentlich nicht das Problem ist. Das Problem ist, dass ich mich in eine Richtung verändere, die mir selbst zuwider ist. Ich merke, wie ich immer dünnhäutiger werde. Wie ich immer schneller aus der Haut fahre und häufig denke „Was für ein Idiot.“, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die meine Sicht auf die Welt nicht teilen.
Heute war meine Zündschnur besonders kurz, sodass ich aus der Haut fuhr und einen Kollegen anschrie. Ich schrie ihn an und versuchte ihn nur noch fertig zu machen, da er mit seiner Art und seinem Benehmen zeigte, dass er überzeugt davon ist, dass sich die Welt allein um ihn dreht, wobei sein Horizont eigentlich nur das Brett vor seinem Kopf ist. Der Kollege jammerte und jammerte, dass ihm für seine Arbeit mehr zustünde. Mehr Anerkennung, mehr Bezahlung, generell einfach mehr. Wobei ich meistens der war, der mit schmutzigen Hosen am Ende des Tages dastand, weil es ein Problem gab und er zu fein dafür war, das Problem zu suchen und zu lösen, wenn er sich dabei schmutzig machen könnte.
Nein, ich denke schon wieder abfällig über andere Menschen. Ich möchte nicht nur als Nörgler leben. Ich möchte etwas verändern, und das kann man nicht, wenn man nur meckert und andere herabsetzt.
Meinen Kopf in meine Hände gestützt, versuche ich noch einmal, mich einfach und allein auf das Hörspiel zu konzentrieren und schließlich schaffe ich es. Doch kaum sind meine Gedanken zur Ruhe gekommen, höre ich ein immer schneller wieder kehrendes „Bing“-Geräusch. Es kommt von meinem Smartphone und ich sehe, dass es innerhalb von einer halben Stunde 42 neue ungelesene Nachrichten und fünf E-Mails gibt. Lust habe ich eigentlich keine, die Nachrichten zu lesen, doch Neugier treibt mich an, doch einen Blick auf die Nachrichten zu werfen. Die meisten neuen Nachrichten sind in einer Chatgruppe, in der jemand unreflektiert einen Beitrag geteilt hat und sich jetzt die Mitglieder gegenseitig zerfleischen. Der Beitrag handelt von einer neuen Strukturreform, die die Regierung auf den Weg gebracht hat und dass man für diese alle beteiligten Politiker wegsperren sollte, da diese den deutschen Interessen zuwiderlaufe, da sie nur dazu diente, Deutschland in einen Krieg mit Russland zu treiben. Ein Teil der Teilnehmer bringt zum Ausdruck, dass der Post stimme und man endlich etwas gegen die Regierung tun müsse. Auf diese Ausführungen hin bringen einige Gemäßigtere zum Ausdruck, dass Reformen schon lange überfällig sein und man halt nicht länger in der Vergangenheit leben könne, sondern sich den Problemen und Herausforderungen der Zukunft stellen müsste.
Es brandet ein Hin und Her an Nachrichten und die Teilnehmer entfernen sich immer weiter vom eigentlichen Thema, bis sie sich eigentlich nur noch beschimpfen. Da ich kurz geteilten Beiträgen in Chats und auf Social-Media-Plattformen nicht traue, gehe ich kurz auf die Internetseite der Zeit und lese, worum es eigentlich geht. Schon nach kurzem Überfliegen eines Artikels zum Thema stelle ich fest, dass wieder nur die halbe Wahrheit verbreitet wurde. So geht es bei der Strukturreform darum, die Verteidigungsfähigkeit wiederherzustellen, aber auch darum, und das ist das, was ich eher kritisch finde, die Vergangenheit künstlich am Leben zu halten, indem sie verschiedene Agrar- und Industrielobbyvereine zufriedenstellen. Sie tun das, indem für deren Mitglieder Subventionen ausgebaut und Steuern gesenkt werden, womit verschiedene Missstände der Vergangenheit auf Kosten der Zukunft als Zombies am Leben erhalten und dadurch notwendige und unvermeidliche Reformen verzögert werden. Doch davon hört man nichts, da der Postende, den ich leider viel zu gut kenne, selbst davon profitiert und er liebend gerne Rosinenpickerei betreibt, in dem er nur das von Reformen mitnehmen möchte, was ihn selbst nutzt und alles andere „Geldverschwendung“ nennt.
Früher hätte ich mit diskutiert. Ich hätte versucht, zu vermitteln. Doch heute? Ich habe keine Kraft mehr. Denn zum Diskutieren und Erörtern von Problemen und deren Lösungen gehört es, offen zu sein und sich auf den anderen einzulassen, aber heute denken die meisten nur noch, dass sie uneingeschränkt Recht und das Recht auf ihrer Seite hätten. Wie soll man mit solchen Menschen diskutieren?
Ich merke, wie ich mich innerlich verspanne, wie mein Arm vor innerlicher Anspannung anfängt zu zucken. Warum tue ich mir das nur an? Warum bin ich nur so versessen darauf, zu wissen, was andere in die Welt hinausschreien, wenn mich ihre geteilten Inhalte und Nachrichten doch nur belasten? Kurzentschlossen verlasse ich die Chatgruppe. Ich schaue mir die Apps auf meinem Smartphone an und sehe, wie viele rote Zahlen über den einzelnen Apps stehen, die anzeigen, wie viele „wichtige“ Nachrichten ich in ihnen verpasst habe. Was hat mich nur dazu getrieben, die alle auf mein Smartphone zu installieren?
Nach einem kurzen Moment des Zögerns beschließe ich, die Sozial-Media-Apps zu löschen und nehme mir vor, nur noch einmal täglich auf meinem PC auf den Plattformen vorbeizuschauen. Doch was ist mit den Chatapps? Ich öffne eine nach der anderen und stelle fest, dass meine meisten Bekannten auch alle diese Apps benutzen. Warum nur so viele? Bei meinem Durchstöbern der Apps merke ich, dass ich eigentlich nur in einer App aktiv mit Freunden und Bekannten schreibe und so melde ich mich bei den anderen ab und lösche sie ebenfalls von meinem Smartphone. In der verbleibenden App lösche ich darüber hinaus die meisten Gruppenchats, die sich über die Jahre angesammelt haben und in denen meistens nur noch Belanglosigkeiten ausgetauscht werden. Zu guter Letzt schalte ich die akustische Benachrichtigung aus, sodass ich nur optisch angezeigt bekomme, wenn ich aktiv auf mein Smartphone schaue, dass ich eine neue Nachricht bekommen habe.
Das getan, lege ich mein Smartphone zur Seite und versuche mich wieder auf das Hörspiel zu konzentrieren. Ach, endlich etwas Ruhe.
Die Zeit vergeht und langsam beruhige und entspanne ich mich. Als das Hörspiel geendet hat, stelle ich fest, dass es schon spät geworden ist und beschließe, zu Bett zu gehen. Doch noch bevor ich ganz bettfertig bin, klingelt es an der Wohnungstür. „Wer kann das jetzt nur noch sein?“, frage ich mich. Ich öffne die Tür und stelle fest, dass vor ihr ein Bekannter mit einem Sixpack Bier steht.
Der Bekannte grinst mich an und meint, dass er in der Gegend war und dachte, er komme mal auf ein Bier, wobei er das Sixpack hochhebt, und um etwas zu quatschen vorbei. Ich, der eigentlich keine Lust habe, meine, dass es schon spät sei und ich am nächsten Tag früh aufstehen müsse, worauf der Bekannte meint, dass eine Stunde noch ginge. Darauf lasse ich ihn herein und wir setzen uns in mein Wohnzimmer. Als wir sitzen, bietet er mir eine Flasche Bier an, worauf ich erwidere, dass ich, wie er genau wisse, keinen Alkohol trinke. „Ach, stimmt ja.“ ist das, was er darauf erwidert, bevor er grinsend eine Flasche öffnet und sagt: „Na ja, da bleibt halt mehr für mich.“, wobei mich das Gefühl beschleicht, dass er genau wusste, dass ich keinen Alkohol trinke und er nur nicht als unhöflich herüberkommen wollte, weil er sich selbst eingeladen hat.
So sitzen wir da und er erzählt. Er klagt mir sein Leid, wobei er eher einen Monolog hält, anstatt dass wir einen Dialog führen. Er klagt über seine Arbeit, die ihn nicht erfülle, und all diejenigen, die seiner Meinung nach, ihr Geld fürs Nichtstun bekommen.
Doch nicht nur das, er beklagt sich auch über seine Freundin, die sich in letzter Zeit gehen ließe und ihn höchstens noch einmal die Woche ran lasse. Wobei ich mir nicht verkneifen kann zu sagen, dass mich das nun wirklich nicht interessiere, worauf er seine vierte Flasche Bier öffnet und meint: „Ach, stimmt ja, du als Single, weißt ja gar nicht, wie das ist, wenn man nicht mehr dran darf.“ Worauf ich ruhig aber bestimmt sage: „Wenn dir meine Meinung nicht passt, dort ist die Tür, du kannst gerne gehen.“ Worauf hin er etwas herumdruckst und sagt, dass es doch gar nicht so gemeint gewesen wäre, es sei halt nur so frustrierend. Wobei ich bei mir denke, dass seine Freundin, die ich auch schon ewig und relativ gut kenne, nach etwas mehr als einer Dekade vielleicht doch gemerkt hat, dass Statussymbole und vermeintliches Männlichkeitsgebaren doch nicht alles sind, um eine erfüllende Beziehung zu führen.
Ich denke zurück, wie sich der Bekannte, den ich bereits seit meiner Schulzeit kenne, von seinen ersten Gehältern einen viel zu großen, raumverbrauchenden und verdammt teuren BMW holte, damit „Geilheitsrunden“ drehte und am Ende jeden Monats blank war, da das Auto all sein verdientes Geld fraß. Doch schon damals meinte er, dass man halt investieren müsse, um jemand zu sein und man nur, wenn man den Frauen auch etwas bieten könne, eine abbekäme. Ich wollte es nicht glauben, doch tatsächlich hatte er viele Jahre lang ständig wechselnde Freundinnen, bis er bei seiner jetzigen landete. Wie ich aber auch merkte, waren die meisten seiner damaligen Freundinnen wirklich nur wegen seines Autos mit ihm zusammen, da er sie mit ihm überallhin und besonders auch auf Partys fahren konnte und sie von anderen Frauen darum beneidet wurden. Es war auch etwas auffällig, dass er darum auch eher jüngere Frauen als Freundin hatte, die sich bislang nicht selbst ein Auto leisten konnten, geschweige denn bereits den Führerschein hatten. Zwei seiner damaligen Freundinnen machten gar just in dem Moment mit ihm Schluss, als er mal temporär sein Auto für längere Zeit stehen lassen musste, einmal, weil er sich das Bein gebrochen hatte und ein anderes Mal, weil er auf eine notwendige Reparatur sparen musste. Um es kurz zu machen, sein materielles Gebaren und dass die Frauen darauf flogen, war mir schon damals einfach zu wider.
Damals hatte ich aufgrund dieser Beobachtungen eine Phase, in der ich mich ins Lernen zurückzog und von Partys und Feiern nichts mehr hören wollte, denn wenn ich Personen auf meine Beobachtung ansprach, hieß es, dass das nun einmal so sei. Freundinnen und Freunde begannen auch auf einmal wieder darüber hinaus davon zu reden, dass dieses und jenes „typisch männlich“ und „typisch weiblich“ wäre. Unter anderem, dass Männer Sport schauten und sich mit Autos und anderen technischen Geräten beschäftigten, während Frauen eher kochten, Wäsche wuschen und in ihrer Freizeit Bücher ließen. Der Mann habe fit und sportlich zu sein und die Frau gut auszusehen, was sie dabei in ihren Köpfen hatten, zählte scheinbar nicht. Damals war ich genervt von dieser Einstellung und immer wenn ich so etwas hörte, dachte ich bei mir, dass sich die Menschheit nie änderte, da diese Einteilung in „typisch weiblich“ und „typisch männlich“, typisch menschlich ist, und viele, auch wenn sie andere Lippenbekenntnisse machen, doch am Status quo festhalten, da sie sich davon Vorteile, gesellschaftliche Teilhabe und zum Teil auch Anerkennung versprechen.
„Hey, hörst du mir überhaupt noch zu?“, reißt mich mein Bekannter plötzlich aus meinen Gedanken und ich merke, dass ich meilenweit weg war, und mich sein Gerede und Gejammer, eigentlich gar nicht interessiert und ich mit meiner Zeit besseres anfangen könnte. So erwidere ich: „Tut mir leid, ich war gerade im Gedanken versunken, aber mal eine ehrliche Frage: ‚Du jammerst hier über deine Arbeit und deine Freundin herum, doch hast du einmal, nur ein einziges Mal versucht, etwas zu ändern? Hast du mal mit deiner Freundin darüber gesprochen, was sie und du überhaupt von eurer Beziehung erwarten? Wann hast du ihr das letzte Mal ohne besonderen Anlass eine Freude bereitet?’ Vielleicht solltest du mal, anstatt hier bei mir zu sitzen, Bier zu trinken und mir die Ohren vollzujammern, dir selbst klarmachen, was du von der Beziehung mit deiner Freundin erwartest und mit deiner Freundin darüber sprechen. Vielleicht, aber nur vielleicht, schafft ihr es dann wieder, eine glückliche Beziehung zu führen. Dabei lass dir aber auch gesagt sein, dass sich eine Beziehung, die von Dauer sein soll, nicht nur um ‚Sex‘ drehen sollte, mit dem du mir hier die Ohren voll jammerst.“ „Was fährst du mich so an! Von dir hätte ich mehr Verständnis erwartet!“ schreit mich mein Bekannter an. „Ja, du hast Verständnis erwartet, aber nur Verständnis für deine Sicht der Dinge und nicht für deine Freundin. Du hast erwartet, dass ich dasitze, dir zuhöre und dir in allem recht gebe. Doch ich bin nicht so einer, der nur nickt und ja und amen sagt. Ich sage, was ich denke und das, von dem ich überzeugt bin. Wenn dir das nicht passt, so zwingt dich keiner, hier zu sein!“ „Dann gehe ich halt und unsere Freundschaft ist vorbei!“, schreit mich mein Bekannter abschließend an, bevor er aufspringt und meine Wohnung verlässt. Ich merke, wie die Wut in mir hochkocht. Ich merke, dass ich schon wieder meine Ideale verraten habe, indem ich nicht argumentiert, sondern meinen Bekannten angegriffen habe. Doch ich denke auch, dass er keine Freundschaft beenden kann, die, wenn es sie denn überhaupt einmal gab, schon lange gestorben ist.
Ich räume den Wohnzimmertisch auf und gehe zu Bett. Vielleicht, aber nur vielleicht, wird ja morgen ein besserer Tag.