Ich wache wieder schweißgebadet auf, nur diesmal auf meinem Sofa. Verdammt, wie spät ist es? Ich schaue auf die Uhr. Mitternacht. Na dann habe ich ja noch Zeit, noch eine Runde zu schlafen, doch zuerst gehe ich ins Bad, dusche mich und putze mir die Zähne, bevor ich mich schließlich in mein Bett fallen lasse. Im Bett kann ich aber nicht wieder einschlafen. Gedanken streifen durch meinen Kopf. Warum war ich schon wieder durchgeschwitzt? Ich versuche mich daran zu erinnern, ob ich etwas träumte, und tatsächlich erinnere ich mich vage an einen Traum, oder war es doch eher ein Bild von einem Traum? Ich erinnere mich, das Abschlussbild meiner Mittelschulklasse zu sehen. Ich, leicht rechts, hinter vielen Köpfen beinahe verdeckt. Doch, viele lachende Gesichter um mich herum. Plötzlich fangen einige an zu verblassen, bis sie schließlich gänzlich verschwinden. Bei wieder anderen, um genau zu sein, bei vier meiner damaligen Mitschüler, vertrocknet die Haut und das Fleisch und am Ende sind nur noch Gerippe übrig. Das Verschwinden meiner ehemaligen Klassenkameraden geht so lange, bis nur noch die vier Gerippe, einer meiner alten Freunde und ich, auf dem Bild zu sehen sind. Doch scheinbar ist das Ende noch nicht erreicht, denn auch der Freund verblasst schon langsam. Was mag das nur bedeuten?
Ich denke nach und stelle fest, dass die, die verschwunden sind, diejenigen waren, zu denen ich über die Jahre den Kontakt verloren habe. Sie verschwanden aus meinem Leben, in der Reihenfolge, wie sie auf dem Bild verblassten, entweder indem sie wegzogen oder indem wir uns auseinanderlebten. Verschiedene Interessen und politische Ansichten trennten uns, wohingegen manchmal nur unsere gemeinsame Schulzeit das war, was uns einst verband. Die Schulzeit, die schon so lange her ist, sodass es seit vielen Jahrzehnten keine Schnittfläche mehr zwischen uns gibt. So weit, so gut. Was die verschwindenden Klassenkameraden auf dem Bild in meinem Traum betrifft, so habe ich scheinbar die Bedeutung erkannt. Doch was ist mit den Klassenkameraden, die zu Skeletten wurden? Ich versuche, mich an die Gesichter im Traum zu erinnern. An die Gesichter meiner ehemaligen Klassenkameraden, vor dem Skelettieren. Schemenhaft sehe ich sie vor meinem inneren Auge und auch ihre Namen, die ich teilweise seit über zwei Dekaden nicht mehr hörte, fallen mir wieder ein. Mir wird bewusst, dass das die Mitschüler von mir sind, von denen ich definitiv weiß, dass sie bereits gestorben sind. Der Erste war bei einem Autounfall gestorben, der Zweite hatte sich im Alkohol ertränkt, der Dritte beging aus Liebeskummer Selbstmord und den Vierten richtete eine Krankheit zugrunde, die seine Lungen kollabieren ließ, sodass er des Nachts erstickte.
Ich beginne zu zittern. Ich sehe, wie nahe mir schon der Tod gekommen ist. Wie viel Zeit bleibt mir noch, bevor mich ein Unfall oder eine Krankheit dahinrafft?
An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken, und so stehe ich auf, zieh mich an und setze mich in die Küche, wo ich mir eine Tasse Tee bereite. Ich nehme mein Smartphone zur Hand und öffne mein Adressbuch. Zweihundertdreiundfünfzig Kontakte zeigt es mir an, obwohl ich nie ein geselliger Mensch war. Doch ich habe selten Kontakte gelöscht, und selbst Arzt-, Werkstatt- und ähnliche Telefonnummern habe ich kaum in ihm. Es mögen höchstens zehn sein. Also doch so viele Kontaktdaten von Menschen, denen ich einmal auf meinem Lebensweg begegnete, und von denen ich dachte, dass ein weiterer Kontakt mein Leben bereicherte.
Ich gehe die Kontakte durch und beginne einen nach dem anderen, zu denen ich keinen Kontakt mehr habe, zu löschen. Dabei stelle ich fest, dass die Telefonnummern immer mit umzogen, von einem Handy oder Smartphone zum anderen und einige sogar noch aus der Zeit meines ersten Handys stammen. Einige dieser Nummern stimmten sicherlich nicht mehr und andere brauchte ich bestimmt nicht mehr. Selbst von zwei bereits Verstorbenen finde ich noch die Kontaktdaten und lösche sie. Am Ende bleiben noch siebenunddreißig Kontakte übrig, wovon sechs Arzt- und Werkstättenkontakte und drei Wackelkandidaten, bei denen mich das Gefühl beschleicht, dass uns eigentlich auch nichts mehr verbindet, sind. Wackelkandidaten, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie noch eine Rolle in meinem Leben spielen oder spielen sollten.
Einer der Kontakte ist mein ehemaliger Klassenkamerad. Als ich so über den Kontakt sinniere, wird mir bewusst, dass wir schon seit beinahe zwei Jahren keinen Kontakt mehr hatten. Kurzentschlossen schreibe ich ihm eine Nachricht, in der ich frage, wie es ihm geht und ob wir uns mal wieder treffen wollen.
Das getan, sehe ich auf die Uhr und stelle fest, dass ich in einer halben Stunde auch zu meiner Arbeitsstelle aufbrechen muss. So mache ich mir noch schnell etwas zum Frühstück, bevor ich in meinen Arbeitstag starte.
Der Arbeitstag, der ein Freitag ist, verläuft ruhig und ich habe die Hoffnung, dass das Zittern meiner Hand, meine Genervtheit und meine kurze Zündschnur nur vorübergehende Erscheinungen waren. Als schließlich die Zeit kommt, nach Hause zu gehen, freue ich mich auf ein Wochenende Entspannung und Lesen.
Auf meinem Nachhauseweg erhalte ich eine SMS von meinem alten Klassenkameraden. In ihr schreibt er, dass er zurzeit viel um die Ohren habe, aber er mir anbieten könne, dass wir uns Sonntagnachmittag für zwei Stunden treffen. Als ich das lese, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich frage mich: „Wieso?“ Ich lese mir seine Nachricht noch einmal durch und stelle fest, dass der kalte Schauer, der mir meinen Rücken herunterläuft, von der Formulierung „Ich kann dir anbieten …“ kommt, die nach Arzt-, Behörden- oder Audienztermin klingt, aber nicht danach, dass man sich auf Augenhöhe mit einem Freund trifft. Es klingt eher so, als wäre man ein Bittsteller, dem der andere etwas seiner kostbaren Zeit anbietet, um ihn ruhig und zufriedenzustellen. Früher hatte er doch auch nicht so geschrieben. Früher schrieb er, auch wenn er wenig Zeit hatte, Sätze wie: „Hey, schön von dir zu hören. Ich habe zwar gerade viel zu tun, aber es würde mich freuen, wenn wir uns trotzdem am Sonntag für zwei Stunden treffen könnten.“ Es war ein viel herzlicher Ton. Ein Ton, der davon kündigte, dass wir uns auf Augenhöhe begegneten. Aber gut, vielleicht überinterpretiere ich ja auch nur wieder und so schreibe ich meinem alten Klassenkameraden zurück, dass ein Treffen am Sonntag für mich klappte, und ob wir uns in einem Café treffen möchten. Und so machen wir ein Treffen am Sonntag um 16:00 Uhr aus.
Den Rest des Freitages verbringe ich mit Lesen, bevor ich abends recht früh ins Bett gehe, um den verpassten Schlaf der letzten Nacht zumindest etwas nachzuholen. Samstag bringe ich meine Wohnung in Ordnung und arbeite etwas meinen Lektürestapel ab. Ich fühle mich ausgeglichen und freue mich schon richtig auf das Treffen mit meinem ehemaligen Klassenkameraden. Wie ist es ihm wohl in den letzten Jahren ergangen? Auch der Samstag vergeht wie im Flug und am Sonntagmorgen breche ich, nach einem späten Frühstück, zu unseren Treffen auf, wobei ich zwei Stunden Reserve für die Hinfahrt einplane, die ich, wenn ich sie denn doch nicht brauche, entweder mit einem Spaziergang oder in einem Park, zu verbringen gedenke.
Tatsächlich brauchen die öffentlichen Verkehrsmittel fünfundvierzig Minuten länger als gewöhnlich, aber macht ja nichts. In der Zeit habe ich gelesen und trotz der Verspätung habe ich ja noch etwas Zeit, einen kleinen Spaziergang zu machen. Schließlich gehe ich zum Café und bin zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit da. Von meinem ehemaligen Klassenkameraden ist noch nichts zu sehen, na gut, er hat ja noch etwas Zeit. Ich bestelle eine Tasse Tee und ein Stück veganen Rohkostkuchen und warte. Die Zeit vergeht. Erst wird 16:00 Uhr, dann 16:10 und schließlich 16:15, doch mein ehemaliger Klassenkamerad taucht nicht auf. Ich hole mein Smartphone heraus und versuche, ihn anzurufen. Besetzt. Ich schreibe eine SMS, mit der Frage, ob er noch zum Treffen komme und lege das Smartphone zur Seite. Ich frage mich, was wohl bei ihm los ist. 16:20 Uhr, ich beschließe noch bis 16:30 Uhr zu warten und, falls er bis dahin nicht kommt oder sich nicht meldet, wieder zu gehen. Es wird 16:30 Uhr und schließlich 16:35 Uhr. Ich habe gerade meinen Tee ausgetrunken und möchte bezahlen, als er doch noch auftaucht. Gemütlich kommt er zu mir an den Tisch und wir begrüßen uns. Er schaut auf die Uhr und meint: „Oh, da habe ich ja doch etwas die Zeit vergessen und ich habe auch nur noch eine Stunde Zeit, da ich dann mit ein paar Arbeitskollegen zum Bowlen gehe.“ Als ich das von ihm höre, muss ich mit mir ringen, mich nicht von meiner Wut und meinem Unverständnis über sein Auftreten übermannen zu lassen. Nicht das erste Treffen seit beinahe zwei Jahren, mit einem verbalen Ausfall zu beginnen, wobei ich den Eindruck habe, dass er sich und seine Zeit für wichtiger hält als mich und meine Zeit. Wie lässt es sich denn sonst erklären, dass er sich nicht einmal für sein Zuspätkommen entschuldigt?
Doch nicht aufregen und tief durchatmen. Ich frage meinen ehemaligen Klassenkameraden: „Und was machst du momentan so?“, worauf hin nur ein kurzes „Hey, wart mal kurz.“, in meine Richtung kommt, bevor er sich zur Bedienung umdreht, die gerade andere Gäste bedient, und sie anschnauzt: „Eh, was muss man denn hier tun, um einen Kaffee zu bekommen? Ich habe schließlich nicht ewig Zeit.“ Wieder laufen mir kalte Schauer über den Rücken und ich frage mich, was uns nur einst freundschaftlich verband.
Nachdem die Bedienung seine Bestellung aufgenommen hat und er sie ermahnte, sich nicht zu viel Zeit zu lassen, wendet er sich wieder mir zu und meint: „Schuldige, ich habe dir gerade nicht zugehört. Aber dem faulen Pack muss man zeigen, wie der Hase läuft, sonst stehen sie nur dumm herum und tun nichts.“ Woraufhin ich erwidere: „Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie faul ist. Die ganze Stunde, die ich mittlerweile hier bin, eilte sie von Tisch zu Tisch, nahm Bestellungen auf und brachte den Gästen Kuchen und Getränke. Wie möchtest du beurteilen, dass sie ‚faul‘ ist, wenn du doch gerade mal fünf Minuten hier bist.“ Die Spitze auf sein Zuspätkommen konnte ich mir einfach nicht verkneifen, genauso wie ein Contra zu seiner Vorverurteilung der Bedienung. „Na, das hat man im Gefühl. Schau sie dir doch mal an. So wie sie aussieht und wie sie spricht, ist sie keine gebürtige Deutsche.“ Ich schaue mir die Bedienung an und denke, dass sie wie ein ganz normaler Mensch aussieht. Vielleicht, aber nur vielleicht, hat sie einen etwas südländischen Teint, aber was bedeutet das in unserer heutigen Zeit schon? Ich wende mich wieder meinem alten Klassenkameraden zu und erwidere: „Also, mir fällt nichts Negatives auf. Und selbst wenn sie nicht ursprünglich aus Deutschland kommen sollte, was sagt das schon über ihre Arbeitsmotivation aus? Ich habe noch nie erlebt, dass eine Bevölkerungsgruppe nur aufgrund ihrer Nationalität oder Herkunft, besonders ‚faul‘ ist.“ „Ach ja? Da kann ich dir ein paar YouTube-Videos zeigen, da erklären sie mit Statistiken den Zusammenhang zwischen Nationalität und Produktivität. Darüber hinaus gibt es auch ein paar gute Videos, in denen mit Statistiken aufgezeigt wird, wie viele der Ausländer bei uns überhaupt arbeiten, und wie viele einen faulen Lenz schieben.“ „Ach, ja? Und ich kann dir Statistiken zeigen, dass sich das mit der Zeit angleicht, wenn Nichtmuttersprachler, die eine Arbeitserlaubnis bekommen und die Sprache nach und nach lernen, in den Arbeitsmarkt integriert werden. Viele von denen möchten auch nicht zu Hause sitzen. Wir machen ihnen die Integration in den Arbeitsmarkt häufig aber unnötig schwer, in dem wir ihnen erst sehr spät, wenn überhaupt, Arbeitserlaubnisse erteilen und ihre Abschlüsse nicht anerkennen, wodurch sie zum Teil dazu gezwungen werden, obwohl sie in ihren Herkunftsländern studiert hatten, Hilfsarbeitertätigkeiten nachzugehen, einfach darum, weil ihre Abschlüsse bei uns nichts zählen.“ „Man, du informierst dich anscheinend nur über die Mainstreammedien. Es hat einen guten Grund, dass wir ihre Abschlüsse nicht akzeptieren. Mit ihren Abschlüssen sind sie nicht in der Lage, gute deutsche Wertarbeit zu leisten.“, und schon wieder laufen mir kalte Schauer über den Rücken. Ich denke an einige Arbeitskollegen, die ihre Ausbildung, mit „vier gewinnt“, abgeschlossen haben, und weder von der Praxis noch von der Theorie wirklich Ahnung haben. Mit dem im Hinterkopf erwidere ich: „Es gibt auch Menschen mit Abschlüssen in deutschen Ausbildungsberufen, deren Fähigkeiten eigentlich nicht den gesuchten Anforderungen und Qualitätserwartungen entsprechen, doch deswegen sortieren wir sie ja nicht gleich aus. Wir nehmen sie, da uns sonst Arbeitskräfte fehlen, schauen, was sie für ein Basiswissen haben und qualifizieren sie weiter, auf dass sie die Anforderungen, die unsere Betriebe haben, erfüllen. Das Gleiche sollte man auch mit den Menschen tun, die ihre Ausbildung in anderen Ländern absolvierten.“ „Das glaubst du doch selbst nicht! Meinst du, dass sich solche Leute noch einmal hinsetzen und lernen? Im Lebtag nicht! Sie wollen nur haben und haben, und wir Hartarbeitenden müssen das Geld für sie mit erwirtschaften.“ Mein alter Klassenkamerad schaut auf seine Uhr. „Oh, ich muss auch los und ich glaube, wir sollten uns nicht mehr treffen, solange du so woke Ansichten vertrittst. Solche Ansichten haben heutzutage keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft.“ Worauf ich nur: „Na dann ‚Tschüss‘.“, sage und sehe, wie er bezahlt und keinen Cent Trinkgeld gibt.
Ich bleibe sitzen und mache die Bedienung auf mich aufmerksam. Als sie zu mir kommt, bitte ich sie, mir noch eine Tasse Tee zu bringen und bleibe erst einmal sitzen. Ich muss die Begegnung mit meinem alten Klassenkameraden etwas sacken lassen. Ich denke zurück. Ich denke an die vergangenen Jahre unserer Bekanntschaft und stelle fest, dass er zwar schon immer etwas national eingestellt war, aber nie rassistisch oder faschistisch. Was ist nur mit ihm passiert, dass er sich in den letzten zwei Jahren so stark gewandelt hat? Ich denke an andere Bekannte aus meiner Schulzeit und was für eine politische Einstellung sie haben. Ich stelle fest, dass sich hauptsächlich die mit niedrigen Bildungsabschlüssen eine rechte Gesinnung zu eigen machen, während die besser gebildeten eher linke Einstellungen vertreten. Doch nicht nur das. Ich stelle auch fest, dass abgesehen von der Bildung Verlustängste, Neid und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, über alle Bildungsschichten hinweg, eine nicht zu verachtende Rolle bei der politischen Einstellung spielen. Die Angst, dass einem etwas weggenommen wird, das man vermeintlich verdient. Neid auf andere, die mehr haben als man selbst oder etwas bekommen, das man selbst gerne hätte. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, denn schließlich sei man schon länger hier und leiste etwas, im Gegensatz zu anderen. Wobei ich denke, dass die meisten Gründe, die zu einer rechten Gesinnung führen, egoistische Gründe sind. Die Menschen sehen nur sich und wollen besitzen und profitieren, und das zur Not, zu Lasten und Kosten anderer. Sie sehen häufig nur sich, und das große Ganze, wie die Unterstützung von Hilfesuchenden, die Bekämpfung der Umweltzerstörung und des Klimawandels, sind ihnen überwiegend egal, denn sie seien ja nicht daran schuld und warum sollten sie dann deswegen Verzicht üben? Doch nicht nur das. Ich habe auch den Eindruck, dass viele der Menschen mit der sich immer schneller veränderten Welt und Gesellschaft schlichtweg überfordert sind und sich deswegen die „alten“ Zeiten zurückwünschen. Die alten Zeiten, in denen die Probleme überschaubar und deren Lösungen vermeintlich einfach waren. Die rechten Kräfte wissen natürlich um diese Sehnsucht und versprechen eine Rückkehr in die „guten alten Zeiten“, wofür sie gewählt werden, wobei eigentlich jedem klar sein sollte, dass Vergangenes vergangen ist und man die Uhr nicht mehr zurückdrehen kann.
Ich nehme mein Smartphone zur Hand und lösche die Kontaktdaten meines ehemaligen Klassenkameraden. Bei solch einem Gebaren und Auftreten hat unsere Bekanntschaft wirklich keine Grundlage mehr. Schließlich bezahle ich und entschuldige mich bei der Bedienung, für das Benehmen meines alten Klassenkameraden, worauf hin sie nur mit den Schultern zuckt und meint: „Das erlebe ich hier tagtäglich.“ Worauf sich Traurigkeit in mein Herz schleicht und ich mich frage, wie es nur so weit kommen konnte. Zeitlebens dachte ich immer, dass wir eine freie Gesellschaft sind und aus der blutigen Geschichte unseres Landes gelernt haben, dass Ausgrenzung und Diskriminierung niemals die Lösung für unsere Probleme sein können. Doch wenn die Leute Alexander Gauland glauben, der sagte: „Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für die 12 Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte.“ Und dann die Größen vergangener Jahrhunderte aufzählt, „von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck …“ an denen wir unser Handeln ausrichten sollen, so wird mir doch etwas mulmig. Denn erst einmal die Verharmlosung des Dritten Reiches als ein „Vogelschiss“, obwohl Millionen Menschen starben und verbrannte Erde hinterlassen wurde, finde ich mehr als grenzwertig. Doch nicht nur das, es fällt mir auch auf, dass er keine Dichter und Wissenschaftler nannte, sondern nur Herrscher, die über große Macht verfügten. Also, wenn sich die Bürger unserer Gesellschaft an solchen „Vorbildern“ orientieren, dann beleibt mir nur, um unsere Demokratie zu fürchten.
Mit diesen Gedanken mache ich mich auf den Heimweg, wobei ich mich frage, was ich ganz persönlich gegen den Rechtsruck in unserem Land und der Bevölkerung tun kann.