Als ich auf dem Heimweg in der S-Bahn sitze und an meinem Smartphone kurz die neusten Nachrichten des Tages überfliege, ploppt eine Mitteilung auf, dass mir meine beste Freundin eine Sprachnachricht geschickt hat. Ich öffne die Messenger-App und höre ihre Sprachnachricht an.
In meinem Kopfhörer fängt es auf einmal an zu schluchzen, und ich verstehe kaum etwas von dem, was sie sagt. Nach dem ersten Mal durchhören glaube ich so viel verstanden zu haben, dass sie dringend jemanden zum Reden bräuchte und fragt, ob ich heute Abend noch Zeit hätte, auf dass sie vorbeikäme. So schreibe ich ihr zurück, dass ich gerade noch unterwegs bin, aber dass ich gegen 20:00 Uhr zu Hause sein sollte, und sie dann noch gerne vorbeikommen könne. Das getan, höre ich ihre Sprachnachricht noch einmal an und stelle fest, dass ich sie nicht nur wegen des Schluchzens schwer verstanden habe, sondern auch, weil sie leicht lallt. Scheinbar hatte sie, bevor sie mir die Sprachnachricht schickte, versucht, ihr Ungemach im Alkohol zu ertränken, aber ohne Erfolg.
Ich lehne mich zurück und frage mich, was meine beste Freundin nur so aus der Bahn geworfen hat, denn normalerweise ist sie eine der stabilsten Menschen in meinem sozialen Umfeld, zu der eher andere Menschen mit ihren Problemen kommen, als dass sie selbst bei anderen Hilfe sucht.
Schließlich komme ich zu Hause an und ich sehe meine gute Freundin bereits auf dem Rasen neben der Haustür sitzen, obwohl es erst 19:30 Uhr ist. Mein Blick fällt auch gleich auf die Schnapsflasche in ihrer Hand, in der nur noch ein Schluck den Boden bedeckt. Ich gehe zu ihr hin und sie begrüßt mich mit den Worten: „Ach, da bist du ja.“ Sie macht einen jämmerlichen Eindruck und so bücke ich mich vor, um ihr aufzuhelfen. Als ich sie so hochziehe, geht die Bewegung fließend in eine Umarmung über und sie weint mir in den Pullover. Während wir so dastehen, schluchzt sie, dass alles scheiße sei. Sie schluchzt, dass ihr Freund ein Arschloch sei, da er aus heiterem Himmel mit einer anderen geschlafen hätte, wie sie heute erfuhr, und darauf angesprochen einfach lapidar meinte, dass er halt festgestellt habe, dass eine Frau in seinem Leben nicht genug sei, da er viel mehr Liebe zu geben hätte.
Ich erwidere erst einmal nichts, sondern tätschle ihr nur den Rücken. Was sollte ich denn auch sagen? Dass ich über die Jahre schon merkte, dass er sich immer weiter in eine esoterische Richtung entwickelte und er von der freien Liebe träumte? Wobei er unter freier Liebe, frei von Verantwortung, ungebunden und ohne Verpflichtungen, meint. Davon, dass ich sie mal darauf ansprach und sie nur meinte, dass er halt neue Interessen habe und sich ruhig „Appetit holen könne“, solange er nur zu Hause isst. Doch das wäre unpassend.
Mir wird langsam kalt und so frage ich sie, ob wir nicht in meine Wohnung gehen wollen, worauf sie die Umarmung löst und mit mir hineingeht. In meiner Wohnung nehme ich ihr erst einmal die Schnapsflasche ab und gebe ihr stattdessen ein Glas Wasser, was sie widerstrebend zulässt. Denn alkoholische Getränke hat sie wahrlich genug gehabt.
Schließlich setzen wir uns auf mein Sofa und ich frage sie, was sie denn jetzt vorhabe, worauf hin sie meint, dass sie es noch nicht wisse. Da ich auch nicht weiß, was ich jetzt tun oder sagen soll, bleibe ich auch einfach nur stillsitzen und so schweigen wir beide.
Die Zeit vergeht und ich merke, wie ich müde werde und schlafen möchte. Doch was mit meiner guten Freundin tun? Sie in ihrem Zustand nach Hause zu schicken oder vor die Tür zu setzen, wäre das Schlechteste. Kurzentschlossen biete ich ihr an, dass sie bei mir übernachten kann, was sie dankend annimmt. Da ich weiß, wie unbequem mein Sofa zum Schlafen ist, biete ich ihr darüber hinaus mein Bett an, was sie widerstrebend annimmt. Schließlich suche ich ihr noch eine frische Zahnbürste heraus und ein frisch gewaschenes T-Shirt, das sie nachts, im Bett, tragen könne, damit sie nicht friere. Schließlich geht meine gute Freundin als Erstes duschen und putzt sich die Zähne, bevor ich dasselbe tue.
Als ich fertig bin, gehe ich zu meinem Schlafzimmer und klopfe an die Tür, worauf hin sie: „Komm herein!“, ruft. Ich öffne die Tür und bleibe wie angewurzelt stehen. Der Grund dafür ist, dass meine gute Freundin im Evakostüm verführerisch auf dem Bett, mit der Bettdecke neben sich, liegt. Ich stammele eine Entschuldigung und dass ich eigentlich nur meine Kleidung für den nächsten Tag holen wolle, worauf sie meint, dass ich mich mal nicht so haben soll. Ich schlucke und gehe zu meinem Kleiderschrank, aus dem ich die Kleidung für den kommenden Tag heraussuche. Damit fertig, sage ich, dass ich am nächsten Morgen um fünf Uhr aufstehe und ich sie da wecken, aber sie auch gerne länger schlafen könne. Worauf sie meint, dass sie sich selbst einen Wecker stelle. Abschließend sage ich, dass sie ja wisse, wo alles steht und sich am nächsten Morgen fürs Frühstück einfach bedienen könne, bevor ich sie noch bitte, dass sie dann beim Gehen einfach die Wohnungstür hinter sich zuzieht. Als ich wieder in der Tür stehe, meint sie plötzlich: „Aber dein Bett ist eigentlich groß genug, dass wir beide in ihm Platz finden und schlafen können.“ „Ja, das ist es, aber das wäre unpassend.“ ist das, was ich sage. Und noch bevor ich das Zimmer gänzlich verlassen kann, höre ich sie schluchzen: „Du findest mich auch abstoßend, denn sonst hättest du keine Bedenken, einfach neben mir im Bett zu schlafen.“
Ich drehe mich um, um sie anzusehen, und ich merke, wie sich etwas in meiner Hose regt. Verdammt, so unpassend, doch meine gute Freundin hat wirklich einen schönen Körper und jahrelang hätte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als ihr nah zu sein. Aber in dieser Situation? Nein! Und so sage ich: „Nein, ich finde dich nicht abstoßend. Ganz im Gegensatz. Ich finde, dass du ein wunderschöner und netter Mensch bist, nur in dieser Situation wäre es einfach falsch. Denn was wäre, wenn doch etwas passiert? Wäre das nur dem Alkohol geschuldet, den du schon zur Genüge getrunken hast, oder wäre es dem Gedanken geschuldet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Also, deck dich bitte zu, damit du dich nicht auch noch erkältest und versuche etwas Schlaf zu finden.“ Das gesagt, verlasse ich endgültig das Schlafzimmer und gehe ins Wohnzimmer, wo ich mich aufs Sofa lege. Ich versuche zu schlafen, doch der Schlaf stellt sich nicht ein.
Immer wieder wandern meine Gedanken zu meiner guten Freundin. Immer wieder dahin, dass ich mir wünschte, ihr nah zu sein. Doch, um welchen Preis und mit welchen Konsequenzen? Ah, was hat nur das Verlangen nach ihr in mir entfacht? War es der Anblick ihres nackten Körpers? War es die Erkenntnis, dass sie vielleicht bald wiederzuhaben ist? Und warum denke ich überhaupt darüber nach! Sie ist eine gute Freundin und das, was jetzt zählt, ist, für sie da zu sein, ohne irgendwelche Hintergedanken zu haben.
Ich wälze mich hin und her. Ich ringe mit meinen Gedanken und meinem Begehren, bis ich schließlich doch noch wegdämmere.
Mein Smartphonewecker klingelt und reißt mich aus unruhigen Träumen. Ich fühle mich gerädert, doch ändern lässt sich das leider nicht. Leise schleiche ich durch meine Wohnung, um meine gute Freundin nicht zu wecken. Als ich die Wohnung verlasse, möchte ich routiniert die Wohnungstür zuschließen, doch dann fällt mir ein, dass ja noch meine gute Freundin da ist, und sie dann die Wohnung nicht mehr verlassen könnte. Das wäre ein schöner Schlamassel. Also noch mal aufschließen und schauen, dass sie von innen zu öffnen ist. Gut, auf zur S-Bahn.
In der S-Bahn kann ich meine Augen nicht offenhalten und dämmere weg. Ich träume wirr. Als ich die Augen wieder öffne, fährt die S-Bahn gerade wieder an und ich sehe, wie sich meine Ausstiegshaltestelle hinter der S-Bahn entfernt. Verdammt! Ich stehe auf und steige die nächste Haltestelle aus und laufe von ihr zu meiner Arbeitsstelle, wodurch sich der Weg um fünfhundert Meter verlängert.
Der Tag beginnt routiniert und als ich um 9:00 Uhr Frühstückspause mache, schreibe ich meiner guten Freundin eine Textnachricht, in der ich frage, ob sie schon wach ist, und wie es ihr heute geht. Schließlich packe ich das Smartphone wieder weg und gehe meiner Arbeitsroutine nach.
Als ich am späten Nachmittag Feierabend mache, schaue ich noch einmal in die Chatapp, doch immer noch keine Antwort. Ich schaue den Status der Nachricht an und sehe, dass sie die Nachricht um 10:37 Uhr gelesen hat. Warum antwortete sie nicht? Ich beginne mir Sorgen zu machen und so beschließe ich sie, wenn sie bis 19:00 Uhr nicht geantwortet haben sollte, anzurufen. Gedacht, getan. Als ich um 19:00 Uhr immer noch keine Nachricht von ihr erhalten habe, versuche ich sie anzurufen, doch es geht nur die Mailbox ran. Ist irgendetwas passiert?
Ich mache mir wirklich Sorgen und überlege, wer etwas von meiner guten Freundin wissen könnte. Da fällt mir eine gemeinsame Freundin ein und ich rufe sie an.
Schon nach kurzem Klingeln geht die gemeinsame Freundin ans Telefon und ich frage sie nach einer flüchtigen Begrüßung, ob sie etwas von meiner guten Freundin wisse. Auf meine Frage hin meint sie nur, dass meine gute Freundin heute zu ihr gekommen sei und dass es ihr gut gehe, aber auch, dass sie erst einmal keinen Kontakt zu mir haben möchte. Diese Aussage irritiert mich und so frage ich unsere gemeinsame Freundin, ob sie den Grund dafür wisse und mich selbst, ob ich am letzten Tag etwas falsch gemacht habe. Ich hatte doch versucht, alles richtigzumachen. Auf meine Frage hin meint unsere gemeinsame Freundin nur kryptisch: „Es gibt Situationen, in denen man eigentlich nur Fehler machen kann. Situationen, in denen ein anderer Mensch einem alles zum Vorwurf machen kann, auch manchmal sich selbst.“ Worauf ich noch verwirrter als vorher bin, mich aber bei ihr bedanke, und meine, dass sie meine gute Freundin wenigstens von mir grüßen solle. Sie sagt, dass sie das täte und legt auf.
Nach dem Telefonat mit unserer gemeinsamen Freundin weiß ich zwar, dass meiner guten Freundin nichts Schlimmes passiert ist, doch aus irgendeinem Grund breitet sich eine Leere in mir aus. So bleibe ich einfach in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa sitzen.
Während ich so dasitze und nachdenke, wird mir bewusst, was unsere gemeinsame Freundin meinte und ich verstehe, dass sie recht hat. Es gibt Situationen, in denen einem von anderen Menschen alles falsch ausgelegt werden kann, oder man, wenn der andere vielleicht selbst keinen Fehler macht, bei sich selbst einen Fehler sieht und aufgrund dessen erst einmal keinen Kontakt zu dem Anderen mehr haben möchte. Dem Anderen, der einen an diesen Moment erinnert. Ich überlege, wie man solche Situationen trotzdem lösen könnte, doch mir fällt kein Weg ein, der alle Beteiligte zufriedenstellte. Schlussendlich bleibt einem in solchen Situationen nur, den Weg zu wählen, der den eigenen Überzeugungen am ehesten entspricht und mit dem man möglichst wenig Schaden anrichtet. Alles andere wird, auch wenn es wehtut, die Zeit zeigen.
Mit diesem Gedanken im Kopf lege ich mich aufs Sofa und schaue an die Decke. Ich frage mich, ob das jetzt das Ende unserer Freundschaft ist. Ich hoffe nicht, denn solch einen witzigen und charmanten Menschen, wie meine gute Freundin, habe ich bisher nicht noch einmal kennengelernt.