Zum Inhalt springen

Vom Versuch nicht „verrückt“ zu werden – Teil 4: Die Abstimmung mit den Füßen

Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

Manch einmal ist Routine das Einzige, was einen noch funktionieren lässt. So auch bei mir. Schlafen, aufstehen, zur Arbeit gehen, heimkommen, etwas Haushalt machen und wieder schlafen. Zwischendurch noch etwas essen oder trinken, und dabei möglichst wenig denken. Schon ist das routinierte Leben da. Ob so ein Leben sinnvoll oder erfüllend ist, sei erst einmal dahin gestellt, denn zumindest bekommt man seine Zeit so herum, so auch ich.
Nachdem ich erfahren hatte, dass meine beste Freundin erst einmal nichts mehr mit mir zu tun haben möchte, brach ein Teil meiner Welt zusammen und nur die Routine ließ mich noch funktionieren. Nach einer Woche schrieb ich noch einmal meiner besten Freundin, ob wir uns zum Reden treffen könnten, worauf ich wieder keine Antwort erhielt. Ich überlegte gar, ob ich sie vielleicht einmal überraschen sollte, indem ich bei unserer gemeinsamen Freundin vorbeiginge, da ich wusste, dass sie bei ihr, bis sie wieder eine eigene Wohnung gefunden hat, Unterschlupf gefunden hatte. Doch das käme selbst mir übergriffig vor. Und übergriffig wollte ich nicht erscheinen, denn dann hätte unsere Freundschaft erst recht keine Zukunft mehr.

Schließlich, jetzt, vier Wochen nachdem wir uns das letzte Mal gesehen hatten, schreibe ich ihr noch einmal, wobei ich mich selbst davon zu überzeugen suche, dass es wirklich das allerletzte Mal ist, bevor ich es aufgebe. Eigentlich habe ich die Hoffnung auf eine Antwort schon aufgegeben. Doch schon kurz, nachdem ich auf Senden geklickt habe, bekomme ich tatsächlich eine Antwort. Die Antwort lautet: „Bitte hör auf zu versuchen, Kontakt herzustellen. Nach unserem letzten Treffen ist es uns schlicht nicht mehr möglich, weiter eine Freundschaft auf Augenhöhe zu führen, da wir uns zwingend an die Nacht erinnerten, wenn wir uns träfen.
Darum, leb wohl.“

Ich schließe meine Augen und öffne sie wieder, als ich einen Knall höre. Mein Smartphone liegt an der gegenüberliegenden Zimmerwand und ich sehe eine eckige Delle in der Wand und das Smartphone davor, mit dem Bildschirm zum Boden, liegen. Ich frage mich, wann ich denn mein Smartphone geworfen habe, doch kann ich es nicht bewusst sagen. Ich merke nur, wie Trauer und Wut in mir um die Vorherrschaft über meinen Körper kämpfen. Die Trauer, dass die Freundschaft, die uns über viele gute und auch weniger gute Jahre verband, so einfach für immer vorbei sein sollte und die Wut darüber, aus was für einem Grund. Die Wut auf die Welt, die mich in die damalige Situation brachte. Doch nicht nur das. Zu dieser Wut gesellte sich auch noch die Wut auf mich selbst, der sein Smartphone gegen die Wand wirft, obwohl es ja nichts für die Nachricht meiner besten Freundin kann.
Ich gehe zu meinem Smartphone hin, hebe es auf und sehe, dass das Display kaputt ist. Es ist gerissen und egal, wie sehr ich auf die seitlichen Tasten drücke, es geht nicht mehr an. Verdammt. Ich überlege, ob ich es noch reparieren lassen könnte, doch bei einem Alter von sieben Jahren, wirtschaftlich und Ersatzteiltechnisch wenig zielführend.
Also ein Neues suchen. Vom gleichen Hersteller wie vorher? Ein ähnliches Modell? Eher nicht! Schon Jahre hadere ich mit dem Gebaren des Herstellers, der zwar sehr gute Geräte herstellt, doch ein amerikanischer Hersteller ist, der seine Ideale sofort über Bord warf, als Trump dagegen wetterte. Ein Hersteller, der anfing, um des Cashflows willen, sich Pseudo-Oligarchen und Machthabern mit faschistoiden Einstellungen anzubiedern. Doch nicht nur das, dann ist da auch noch das Problem, dass alle Daten in den USA gespeichert und zur „Optimierung“ der Produkte genutzt werden, zur Optimierung des Userfeelings, auf das der Benutzer noch mehr Zeit vor dem Gerät verbringt.
Als ich so über den Kauf eines Smartphones nachdenke, wird mir bewusst, dass bei mir mit der Zeit meine Überzeugung, dass jeder Kauf eine Gewissensentscheidung und der Ausdruck einer politischen Überzeugung ist, in den Hintergrund getreten ist. Anstelle dessen trat die Bequemlichkeit. Die Bequemlichkeit, immer dasselbe zu kaufen, auch wenn sich die Umstände auf der Welt und in den Firmen änderten. Einfach nicht immer neu nachdenken, sondern gedankenlos konsumieren.
Ich setze mich an meinen Rechner, um zu recherchieren, was für Alternativen es zu den gängigen Smartphones von amerikanischen Anbietern gibt, auf denen auch keine amerikanische oder gar chinesische Software läuft, die meine Daten dafür nutzt, mir gezielt, personalisierte Werbung unterzuschieben und meine Aufmerksamkeit gefangenzuhalten.
Als mein Rechner hochfährt, sehe ich den Bootscreen meines Linux-Betriebssystems und denke, dass ein quelloffenes Betriebssystem aus Europa, mit einem überwiegend in Europa gefertigten Smartphone, doch nicht das Schlechteste sei. Schließlich habe ich seit beinahe zwei Dekaden das Leben meiner Desktoprechner und Laptops immer wieder durch die Nutzung verschiedener Linux-Distributionen verlängert, wenn sie keine Windowsunterstützung mehr hatten. Seit Jahren hatte ich mit diesen PCs keine Probleme, also warum nicht auch einem quelloffenen Linux-Smartphone eine Chance geben?
Gedacht, getan. Ich suche ein Smartphone heraus, das überwiegend in Deutschland gefertigt wird und das ein freies Betriebssystem hat, das unabhängig von amerikanischen und chinesischen Anbietern ist. Bei der Kamera und einigen anderen Dingen muss ich zwar Abstriche hinnehmen, aber wie bereits gedacht, ist jede Kaufentscheidung ein Statement für oder gegen etwas, und meine Daten und eine nicht Manipulierbarkeit sind mir mehr wert als die besten Bilder oder die höchste Displayauflösung.

Als ich auf die Uhr sehe, stelle ich fest, dass während meiner Recherche die Zeit wie im Flug vergangen und bereits später Abend geworden ist. Ja, Beschäftigung vertreibt die Gedanken. Beschäftigung, um meine gute alte Freundin zu vergessen und um die Zeit, die ich schreibend mit ihr oder mit einem gemeinsamen Treffen verbracht hätte, zu füllen. Meine gute alte Freundin. Warum habe ich nur gerade wieder an sie gedacht? Warum habe ich meine Gedanken wieder zu ihr schweifen lassen? Tränen steigen mir in die Augen. Ich denke an die vielen schönen Momente und an manch Schabernack, den wir gemeinsam getrieben haben. Verdammt!
Aber es hilft alles nichts. Sie will keinen Kontakt mehr, und wenn dem so ist, wer bin ich, ihr diesen aufzudrängen? Tränen rinnen mir aus den Augen. Ich versuche, sie zu stoppen, aber es gelingt mir nicht. Während ich so nachdenke, fühle ich mich auf einmal von mir selbst abgestoßen. Der Grund dafür ist, dass mir bewusst wird, dass ein Teil meiner Trauer nicht nur dem Verlust einer guten Freundin geschuldet ist, sondern Selbstmitleid. Selbstmitleid, da sich mein soziales Umfeld fremdbestimmt änderte und ich jetzt Mühe und Kraft aufwenden muss, diese Lücke zu füllen. Was für ein scheiß Gedanke.
Ich zwinge mich dazu, mich bettfertig zu machen und mich ins Bett zu legen. Wie lange ich noch wach liege, weiß ich nicht genau, doch schließlich nimmt mich Morpheus in seine Arme.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, fühle ich mich lethargisch. Ich möchte nicht aufstehen, doch ich muss. Also gut, aufstehen, Kleidung anziehen, Zähne putzen, Sachen zusammenpacken und los. Beim Verlassen des Hauses möchte ich routiniert nach meinem Smartphone greifen und mir fällt wieder ein, dass es kaputt ist. Also gut, wenigstens die Noise-Cancelling-Kopfhörer, um etwas Ruhe zu haben. Als ich die Noise-Cancelling-Kopfhörer einpacke, wird mir bewusst, dass ich bei meinem neuen Smartphone nicht darauf geachtet habe, ob sie kompatibel sind. Gut, in der S-Bahn noch überprüfen, jetzt aber los.
Auf den letzten Drücker erreiche ich die S-Bahn und als ich in der S-Bahn sitze, wird mir bewusst, dass ich momentan gar nicht überprüfen kann, ob die Kopfhörer mit dem bestellten Smartphone kompatibel sind, da ich ja kein Smartphone habe. Ich ärgere mich über mich selbst. Ich ärgere mich darüber, wie selbstverständlich der Gedanke ist, immer und überall online gehen zu können. Man könnte fast meinen, dass wir darauf konditioniert sind, immer alles online nachschlagen zu können. Aber gut, da ich nichts Besseres zu tun habe, beschließe ich meine Erinnerungen zu erkunden, denn vielleicht befindet sich ja bereits dort die Antwort. Gedacht, getan.
Schon nach zwei Minuten nachdenken fällt mir ein, dass die Kopfhörer sowohl über eine proprietäre als auch eine offene Schnittstelle verfügen. Über die offene Schnittstelle ist das Musikhören und das Noise-Cancelling benutzbar, während viele Steuerungsfeatures nur über die proprietäre Schnittstelle nutzbar sind, zu der der Hersteller keine Informationen zur Benutzung frei gibt. Na ja. Also auch da muss ich Abstriche mit meinem neuen Smartphone in Kauf nehmen, aber gut, kein Beinbruch, einfach beim Kauf der nächsten Kopfhörer oder besser bei allen Geräten, auf offene Standards und Interkompatibilität achten, schließlich tun viele Hersteller alles, damit man in ihrem Kosmos gefangen ist und ihn nur mit Mühen wieder verlassen kann, wodurch ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr die Features eines Gerätes entscheidend sind, sondern nur noch der Hersteller, damit alles weiter wie bisher nutzen kann. Doch nicht mehr mit mir!
Ich erreiche meine Arbeitsstelle und die Routine nimmt mich sofort wieder in Griff.

Zum Mittagessen treffe ich einen Arbeitskollegen, mit dem ich auch privat befreundet bin. Er meint, dass er mich am vergangenen Abend noch versucht habe anzurufen, worauf ich erwidere, dass mir das Smartphone kaputtging. Neugierig, wie er ist, fragt er mich auch gleich, was für ein neues Modell ich mir denn bestellt habe. Auf meine Antwort hin blickt er mich ungläubig an und meint: „Was für ein Müll du dir da kaufst.“ Woraufhin ich ihm alle meine Überlegungen darlege und er von dem Hersteller anfängt zu schwärmen, von dem auch ich bisher meine Smartphones hatte. Ich gewinne den Eindruck, dass er auf die Marke richtiggehend konditioniert wurde, denn zwar stimmt er einigen meinen Einwänden zu, nur um anschließend zu sagen, dass es trotzdem nicht das gleiche „Feeling“ sei.
Schließlich versucht er noch seine Trumpfkarte, da er weiß, dass ich umweltbewusst einkaufe, auszuspielen und meint, dass ich ja auch ein gebrauchtes Smartphone vom gleichen Hersteller hätte kaufen können, worauf ich erwidere, dass es dann immer noch das Problem mit der geschlossenen Software, die meine persönlichen Daten in Amerika speichert, gäbe. Ferner führe ich auch aus, dass die starke Nachfrage nach Gebrauchtgeräten des Herstellers auch den Effekt hat, dass viele Nutzer sich schneller neue Geräte kaufen, da sie wissen, dass sie ihre Altgeräte für gutes Geld weiterverkaufen können. Bricht die Nachfrage auf dem Gebrauchtmarkt weg und sie können ihre Altgeräte nicht mehr so lukrativ verkaufen, überlegten sie es sich vielleicht zweimal, immer das neueste Gerät kaufen zu müssen und nutzen ihre Smartphones vielleicht länger.
Auf meine Ausführung hin meint mein Kollege, dass ich doch viel zu uninteressant sei, als das irgendjemand Interesse an meinen Daten hätte, worauf hin ich wiederum erwidere, dass sich in der digitalen Welt alles um Daten dreht, da man Daten nutzen kann, um personalisierte Werbung zu schalten, Menschen in eine bestimmte Richtung zu lenken und darüber hinaus ihnen Content bieten kann, der die Nutzer an die Produkte und Geräte bindet. Aufgrund dessen gibt es abgesehen von einigen Open-Source-Programmen keine wirklich kostenlosen Programme, denn man bezahlt die Programmierer häufig mit Daten und / oder mit Lebenszeit, die man in der App und dem Anschauen von Werbung verbringt. Ich beende meine Ausführung mit der Frage: „Ist uns unsere Lebenszeit sowenig wert, dass wir sie fahrlässig an bestimmte Hersteller und Apps verschwenden, die immer nur wollen, dass wir sie mehr und länger benutzen, einfach weil es ihre Geschäftsgrundlage ist oder wollen wir die Hoheit über unsere Zeit und unsere Daten, auf dass wir nicht verführt werden?“
Auf meine Ausführung hin meint mein Kollege: „Einer allein macht keinen Unterschied. Du magst verzichten und einige Einschränkungen in Kauf nehmen, doch dadurch ändert sich nichts. Also warum es dennoch tun, wenn doch für den Rest alles so bleibt, wie es ist und du nur dich selbst ins Abseits manövrierst?“
„Weil einer anfangen muss. Einer kann zeigen, dass es anders geht. Und wenn vielleicht irgendwann mehr und mehr mitmachen, kommt es zu einer Abstimmung mit den Füßen, die die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung lenken und die Firmen vielleicht zum Nachdenken und Umsteuern bringt. Denn seien wir mal ehrlich, wie viel besser und gerechter könnte unsere Welt sein, wenn wir Menschen nicht immer nur moralisch sprächen, sondern selbst so handelten? Also beispielsweise nur fair produzierte Nahrungsmittel und Geräte kauften oder selbst der Nationalist nur in Deutschland gefertigte Kleidung erwürbe, um so faire Arbeitsbedingungen zu fördern und die deutsche Wirtschaft zu unterstützen? Man könnte sehr viel erreichen. Doch bei vielen hört man immer nur: ‚Man müsste …‘, womit sie meinen: ‚Ein andere muss …‘ und selbst wollen sie immer das neuste und günstigste, auch wenn es ihren moralischen Ansprüchen nicht genügt. Einfach Augen verschließen und durch, so wie alle anderen. Aber so möchte ich nicht leben! Jede Kaufentscheidung sagt etwas über die Werte und Prioritäten des Käufers aus und ich möchte nicht mehr meine moralischen Werte hinter materiellen Werten zurückstellen.“
„Ach, mach doch, was du denkst. Doch komm dann bloß nicht zu mir, wenn irgendetwas nicht klappt.“, ist das Letzte, was mein Freund zu mir sagt und ich weiß, dass ich ihn nie von meiner Sicht der Dinge überzeugen kann. Es ist halt leider so, dass sowohl die Mächtigen in der Politik, als auch in der Wirtschaft wissen, dass die meisten nur aufs Geld und auf ihre persönliche Bequemlichkeit schauen und häufig in Schockstarre verfallen, wenn etwas diese zwei Wünsche bedroht. Sei es, dass mit dem Versiegen günstiger Energiequellen und Rohstoffe gedroht wird, mit denen Putin seine Feinde versucht, unter Druck zu setzen. Sein es Zölle, Erleichterungen oder das Versprechen, dass die Vergangenheit immer weiter Bestand hat, was Personen ihre moralischen Werte über Bord schmeißen lässt, und verschiedenste Personen und CEOs, wie bei Trump, zu Kreuze kriechen lässt. Doch nicht mehr mit mir! Nicht mehr die Unterstützung von Mächtigen, seien es Politiker, Unternehmen oder Despoten, nur aus Finanziellen- oder Bequemlichkeitsgründen, wenn sie meine Werte nicht mehr teilen.

Mit diesen Gedanken bringe ich auch den Rest meines Arbeitstages zu Ende und als ich wieder zuhause bin, beginne ich mein Konsumverhalten zu analysieren und Alternativen herauszusuchen. Stunde um Stunde durchsuche ich das Internet mit neuen Fragen, wobei ich mich mehr und mehr im Klein-Klein verliere und immer häufiger auf scheinbar widersprüchliche Informationen zu den Auswirkungen bestimmter Produkte stoße. Nein, nach meiner getroffenen Überzeugung zu leben, wird wahrlich nicht leicht werden.
Als ich schließlich abends ins Bett falle und den Tag noch einmal vor meinem inneren Auge Revue passieren lasse, stelle ich fest, dass mich die Beschäftigung mit der Frage, ob mein Konsumverhalten meine Werte widerspiegelt, meine alte gute Freundin vergessen ließ. Vielleicht gelingt es mir ja, die Lücke, die sie hinterließ, mit der Suche nach Informationen und einem gewissen Aktionismus zu füllen.
Vielleicht gelingt es mir, nicht in eine lethargische Starre zu verfallen. Nicht aufgrund der Leere in mir und negativen Gedanken zu verzweifeln und durchzudrehen. Vielleicht gelingt es mir, meine Zeit und Energie auf ein neues Ziel auszurichten.

Published inVom Versuch nicht „verrückt“ zu werden