Die kommenden Tage versuche ich mich beschäftigt zu halten. Immer etwas zu tun zu haben, sei es auf der Arbeit oder privat, auf dass meine Gedanken nicht zu schweifen anfangen. Und es klappt. Ach, wie schön kann Beschäftigung sein.
Schließlich, an einem Montag, als ich aus dem Wochenende zurück auf die Arbeit komme, finde ich eine Einladung zu einer Betriebsratssitzung für den nächsten Tag in meinem E-Mail-Postfach. Es müssen also mindestens drei Kollegen des Betriebsratsgremiums fehlen, da ich der dritte Nachrücker bin. Aber gut, meinem Vorgesetzten Bescheid sagen und auf die Sitzung vorbereitet. Auf der Tagesordnung stehen mehrere Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit, zu Prämien und zu Sonderurlauben. Es scheint ein interessanter Sitzungstag zu werden.
Den restlichen Montag verbringe ich mit meinem Tagesgeschäft und auf dem Heimweg beginne ich die Betriebsvereinbarungen durchzulesen, was ich zu Hause fortsetze. Ferner recherchiere noch etwas online zu den gesetzlichen Bestimmungen und stelle fest, dass viele Kollegen von den neuen Betriebsvereinbarungen profitieren, wobei es eine Verschiebung von den Privilegien der älteren Arbeitskollegen zu den jüngeren gibt.
Über das Lesen und Recherchieren vergeht die Zeit wie im Flug, und schon bald falle ich müde ins Bett.
Der nächste Morgen verläuft routiniert, bis ich in der Betriebsratssitzung sitze. Der Beginn ist wie üblich, dass der Betriebsratsvorsitzende die Betriebsratsmitglieder begrüßt und die Beschlussfähigkeit feststellt. Schließlich beginnt die Sitzung mit dem Lesen des Protokolls der letzten Sitzung und dem Genehmigen dieses. Soweit keine Probleme. Anschließend wird der Betriebsrat in personellen Angelegenheiten gehört, worunter Einstellungen, Versetzungen und Lohnerhöhungen fallen. Schon da beginnt das erste Gemurre. Einige echauffieren sich, dass die eingestellten Mitarbeiter nur zum „Wasserkopf“ gehörten und keine „arbeitenden“ Mitarbeiter eingestellt würden. Immer nur Angestellte und keine Arbeiter, war die Überzeugung der Kollegen, was ich nicht ganz nachvollziehen konnte, da es ungefähr gleich viele Einstellungen auf beiden Seiten waren.
Schließlich sind die personellen Angelegenheiten abgearbeitet und es geht zu den Betriebsvereinbarungen. Der Betriebsratsvorsitzende liest die Vereinbarungen Absatz für Absatz vor und das Gebrüll und die Entrüstung einiger Betriebsratsmitglieder werden immer lauter und lauter. Man könnte meinen, dass die Kollegen dächten, dass der Lauteste recht hat, aber eigentlich höre ich nur Sätze wie: „Das passt mir nicht!“, „Das will ich nicht.“, „Immer bekommen die etwas.“ Es sind Sätze, die von Neid und Egoismus kündigen. Ich schaue mir die entsprechenden Kollegen an und stelle fest, dass es überwiegend Kollegen sind, die das fünfzigste Lebensjahr schon hinter sich haben. Kollegen, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass sie mit sich, ihrer Arbeit und vielleicht sogar ihrem Leben unzufrieden sind und sie deswegen andere ihren Unmut spüren lassen.
Mein linker Arm und meine linke Hand beginne wieder zu zucken. Verdammt, ich dachte, das wäre nur eine vorübergehende Phase. Aber gut, nicht anmerken lassen und entspannen. Doch je mehr die Kollegen herumschreien, desto mehr fängt mein Arm zu zucken an und Wut auf die Kollegen steigt in mir auf. Schließlich bricht es nicht besonders laut, aber scharf, aus mir heraus: „Könnt ihr endlich mal aufhören, so herumzuschreien? Man könnte glatt denken, dass ihr der Überzeugung seid, dass der Lauteste recht hat. Dabei ist es meistens so, dass viele Menschen, wenn sie in Diskussionen laut werden, mit der Lautstärke überspielen wollen, dass sie keine oder schlechte Argumente haben, denn die Lautstärke lenkt vom Inhalt ab. Ferner hört endlich mit den ‚mir‘, ‚mich‘, und ‚die‘ Sätzen auf, sondern schaut, wovon die Mehrheit profitiert und wie wir die Firma dabei unterstützen können, zukunftsfähig zu werden, ohne dass unsere Kollegen ausgebeutet werden.“ „Halt den Mund! Was erdreistest du dich, hier etwas zu sagen? Du bist nur Nachrücker und hast hier eigentlich gar nichts zu melden!“
Mein linker Arm und meine Hand beginnen noch stärker zu zucken und ich frage mich, wieso ich mir das überhaupt antue. Warum habe ich mich vor drei Jahren überhaupt aufstellen lassen?
Ich denke zurück. Ich denke daran, wie ich mit einem Kollegen darüber gesprochen hatte, dass man sich für den Betriebsrat aufstellen lassen müsste, um selbst Einfluss zu nehmen und nicht alles einfach passieren zu lassen und sich im Anschluss nur über das Ergebnis zu beschweren. Aufstellen lassen, um eine aktive Rolle einzunehmen. Mein Kollege meinte daraufhin, dass das nicht so einfach sei, worauf hin ich meinte, dass man einfach zum Feierabend beim Betriebsratsvorsitzenden vorbeigehen und sich auf die Liste der Kandidaten setzen lassen könnte. Er schien nicht überzeugt und so sagte ich ihm, dass ich ihm zeigte, wie einfach es ist.
Der Feierabend kam und ich ging noch beim Betriebsratsvorsitzenden vorbei. Ich meinte, dass ich gekommen wäre, um mich für die Betriebsratswahl aufstellen zu lassen. Der Betriebsratsvorsitzende fragte mich zweimal ungläubig: „Wirklich?“, weil er gar nicht glauben konnte, dass sich ein Angestellter aufstellen lässt. Schließlich gab er mir die Liste mit den Namen der Kandidaten, und ich trug mich ein. Und somit war meine Kandidatur für einen Platz im zukünftigen Betriebsrat schon erledigt.
Am nächsten Tag ging ich zu meinem Kollegen und meinte, dass ich jetzt auf der Liste stünde und er jetzt dran sei, doch er zog sich zurück und meinte, dass ich mal nur machen solle. Nah gut, dann halt so.
In die heiße Phase vor der Betriebsratswahl starte ich dann auch mit dem Slogan: „Mein Ziel sind null Stimmen!“, und am Ende haben mir nur drei Stimmen gefehlt, um festes Betriebsratsmitglied zu werden. Wobei ich mich nicht einmal selbst wählte. Ferner hatte ich auch noch zwei andere Kollegen als Nachrücker vor mir, von denen einer 1 Stimme mehr hatte und der andere das Losglück. Glück gehabt, könnte man meinen. Doch mit der Zeit stellte ich fest, dass dem doch nicht so war. Ich stellte es fest, als die ersten Male mehr als drei der festen Betriebsratsmitglieder fehlten und dann sowohl die beiden Nachrücker vor mir, als auch ich zu den Betriebsratssitzungen geladen wurden. Bei diesen Betriebsratssitzungen stellte ich fest, dass ein Teil der Kollegen nur im Betriebsrat waren, um ihre höchst eigenen Ziele zu verfolgen und aufgrund dessen nur zu ihrem Vorteil abstimmten, während sich einige der Nachrücker nur wegen des Kündigungsschutzes hatten aufstellen lassen. Sie interessierte nicht, was für Auswirkungen die Betriebsvereinbarungen für die Kollegen und die Firma hatten, Hauptsache sie hatten Kündigungsschutz und durch ihr Abstimmungsverhalten vielleicht auch noch ein kleines Bonbon für sich selbst.
Bereits nach der ersten Sitzung, an der ich teilnahm, beschloss ich, so abzustimmen, dass es meinen Überzeugungen von zukunftssicheren Betriebsvereinbarungen entsprach. Ferner beschloss ich auch, mich wieder aufstellen zu lassen, denn drei der festen Betriebsratsmitglieder täten das nicht mehr, da sie sich dann bereits in Rente oder wenige Monate vor Renteneintritt befänden und vor dem, was die anderen beschlössen, die dann wahrscheinlich die Mehrheit im Betriebsrat ausmachten, graute mir.
Meine Gedanken kommen wieder in der Gegenwart an, als der Betriebsratsvorsitzende fragt, ob wir denn mit der Betriebsvereinbarung in ihrer vorgestellten Form, einverstanden sein. Die Betriebsvereinbarung wird mit einer Mehrheit von sechs zu fünf Stimmen angenommen und ich sehe an den Gesichtern, dass das zu Unfrieden führen wird. Doch sei es drum. Ich war zwar die ausschlaggebende Stimme, aber wenigstens bin ich meiner Überzeugung treu geblieben.
Der Betriebsratsvorsitzende eröffnet eine kurze Pause, in der ich mir einen Kaffee hole und schon geht es mit den anderen Betriebsvereinbarungen weiter. Auch diese werden mit je einer Stimme Vorsprung angenommen und der Unmut einiger Kollegen wird beinahe greifbar.
Nach der Durchsprache der Betriebsvereinbarung und der Abstimmung über sie, folgt noch der Bericht des Betriebsratsvorsitzenden und die Fragen von den Kollegen, bevor der Betriebsratsvorsitzende die Sitzung beendet und ich mich auf den Heimweg mache.
Auf dem Heimweg brummt mir der Kopf und sobald ich zuhause bin, falle ich aufs Sofa und in einen unruhigen Schlaf. Irgendwann um Mitternacht wache ich kurz auf, gehe ins Bad, um mich bettfertig zu machen, und falle schließlich in mein Bett, in dem ich unruhig weiterschlafe.
Die nächsten Tage merke ich, wie Unruhe in der Belegschaft aufkommt. Ich bekomme mit, wie die Mitglieder des Betriebsrates, die gegen die Betriebsvereinbarungen stimmten, Stimmung gegen die Betriebsvereinbarungen und gegen die, die für sie gestimmt haben, machen. Das geht so weit, bis einige der Betriebsratskollegen, die an der Sitzung nicht teilnahmen und für die ich nachrückte, mit einigen anderen Kollegen, zu mir kommen und mir vorwerfen, nicht in ihrem Interesse abgestimmt zu haben.
Dabei benutzen und verbreiten sie Teilwahrheiten und lassen das, was mit den Betriebsvereinbarungen besser werden wird und wer davon profitiert, unter den Tisch fallen. Sie gehen mich an, warum ich für die Änderung stimmte und als ich meine Entscheidung und Gründe erklärte, meinen sie zwar, dass das zwar auch stimme, aber sie nichts davon hätten und bei der Änderung nur draufzahlten. Schließlich platzt mir der Kragen und als ich an diesem Tag nachhause komme, schreibe ich einen offenen Brief an meine Kollegen. Der Brief lautet wie folgt:
Liebe Kolleg*innen,
immer wieder und in den letzten Tagen besonders zeigen sich viele von euch mit der Betriebsratsarbeit und den abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen unzufrieden. Es wird „gemault“ und sich beschwert, weil man selbst vermeintlich etwas weggenommen bekommt. Viele übersehen dabei, dass vielleicht Kolleg*innen von entsprechenden Betriebsvereinbarungen profitieren, die vorher leer ausgingen. Dabei sollte gerade Betriebsratsarbeit darauf hinauslaufen, dass man nicht nur an sich selbst, sondern auch an die Kolleg*innen denkt, die jünger oder älter sind oder gar in anderen Abteilungen arbeiten. Aber solche Überlegungen hört man heutzutage immer seltener. Man hört häufig nur: „Das passt MIR nicht!“, „Das will ICH nicht.“ usw. Dabei sollte bei solchen Diskussionen nicht das „Ich“, sondern das „Wir“ und das „Uns“ stehen, wobei dabei wieder die Frage ist, ob das „wir“ und „uns“ nur eine kleine Gruppe ist oder die Mehrheit. Vielleicht ist es gar die Mehrheit, die sich zulasten einer kleinen Gruppe Vorteile verschaffen möchte. Ist es denn nicht so, dass sowohl kleine Gruppen sich an der Allgemeinheit bereichern können, als auch die Mehrheit an kleinen Gruppen, deren Stimmen nicht gehört werden? Betriebsratsarbeit heißt Abwägungen und die Entscheidungen zu treffen, die sich im gesetzlichen Rahmen befinden und von denen man überzeugt ist, dass sie gerecht sind. Dazu kann jeder gerne eine andere Meinung haben, aber wenn dem so ist, sollte er sich nicht nur beschweren, sondern auch aktiv werden. Nächstes Jahr sind wieder Betriebsratswahlen. Lasst euch zur Wahl aufstellen und wenn ihr es schafft, von genügend Kolleg*innen gewählt zu werden, dass ihr in den Betriebsrat kommt, dann versucht eure Überzeugung einzubringen, um die Betriebsratsarbeit zu verbessern. Denn eines ist sicher, nur vom „Nörgeln“ und sich „beschweren“, ändert sich nichts, sondern nur dadurch, dass man sich einbringt.
In diesem Sinne, auf dass ihr versucht, euch nicht immer nur zu beschweren, sondern eine positive Veränderung zu sein, mit kollegialem Gruß
Den Brief fertig geschrieben, schicke ich ihn dem Betriebsratsvorsitzenden zu, ob er damit einverstanden ist, dass ich ihn an die Kollegen sende und lege mich hin. Vielleicht, ja nur vielleicht, sieht die Welt ja morgen anders aus.
Als ich am nächsten Morgen aufwache. Bin ich immer noch wütend wegen meiner Arbeits- und Betriebsratskollegen. Doch was soll es? Das Tagesgeschäft muss verbracht werden und so beginne ich wie gewohnt meinen Tag, auch wenn ich in der S-Bahn keine Ruhe und keinen Nerv finde, entweder etwas zu lesen oder Musik zu hören, da meine Gedanken immer wieder zu meinen Kollegen schweifen, die scheinbar nur an sich denken.
Als ich auf der Arbeit ankomme, wartet bereits eine E-Mail vom Betriebsratsvorsitzenden auf mich, der mich zum Gespräch lädt. Also gut, dann erst einmal zum Betriebsratsvorsitzenden.
Als ich beim Betriebsratsvorsitzenden ankomme, schaut er mich grimmig an und meint: „Möchtest du unbedingt einen ‚Shitstorm‘ lostreten?“, woraufhin ich meine: „Nein, aber ich habe auch kein Problem damit, da das, was ich schrieb, meine Meinung ist.“ „Ja, du magst das aushalten, doch denk auch an die Betriebsratskollegen, auf die das auch zurückfallen könnte. So eine E-Mail wäre politischer und sozialer Selbstmord in unserer Firma, da du dann sowohl von den Kollegen in den Abteilungen, als auch von den anderen Mitgliedern im Betriebsrat in die Zange genommen würdest.“, versucht er mir zu verdeutlichen, worauf ich nur sarkastisch grinse. Ich merke, wie wieder Wut und Unverständnis in mir aufkocht und mein linker Arm erneut zu zucken anfängt. Entwickle ich jetzt etwa einen Tick mit meinem linken Arm? Zum Betriebsratsvorsitzenden, mit dem ich eigentlich gut klarkomme und der wirklich versucht den ‚Laden am Laufen zu halten‘ meine ich auf seine Aussage hin: „Ehrlich, mittlerweile ist mir das sowas von egal. Die Arbeitskollegen, mit denen ich gut klarkomme, kennen meine Meinung und wissen, wie ich ticke. Doch wenn du meinst, dass das dir die Arbeit noch schwerer macht, dann lass ich es.“ „In Ordnung und ich sage etwas zu dem Thema, bei der Betriebsversammlung kommenden Monat.“, ist, was der Betriebsratsvorsitzende abschließend sagt. Darauf verabschiede ich mich und gehe wieder meinem Tagesgeschäft nach.
Der Tag verstreicht und ich beruhige mich wieder. Doch das Zucken meines linken Arms möchte einfach nicht aufhören. Verdammt, hoffentlich bleibt das nicht.