Mal wieder sitze ich an einer Haltestelle und warte auf die S-Bahn. Manchmal gewinne ich den Eindruck, dass sich mein halbes Leben beim Warten auf und in öffentlichen Verkehrsmitteln abspielt, doch dem ist nicht so. Es ist nur so, dass an S-Bahnhaltestellen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln viel passieren kann und auch passiert, was von der Routine abweicht und man Menschen sieht oder trifft, mit denen man normalerweise keinen Kontakt hat. Dadurch kommt einem in der Retroperspektive die Zeit häufig länger vor, da einfach mehr Erinnerungen vorliegen, als in den Zeiten, die man auf der Arbeit oder Zuhause verbringt, die hauptsächlich routiniert ablaufen und aufgrund dessen wenige neue Erinnerungen erschaffen.
Aber gut. Ich sitze also an der S-Bahnhaltestelle, als plötzlich eine mir fremde Person kommt, vor sich hin spricht und ab und zu laut aufschreit. Ich frage mich, ob die Person ein Headset trägt und über es mit jemandem spricht, doch es ist nichts zu sehen. Während ich die Person so betrachte, fangen die ersten Anderen, die sich ebenfalls an der Haltestelle befinden, an, der Person Sätze zuzurufen. Es sind Sätze wie: „Eh, bist du bekloppt?!“ und „Halt doch endlich mal dein Maul!“ und mein linker Arm fängt plötzlich wieder an zu zucken.
Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass mein Arm plötzlich, unkontrolliert zu zucken anfängt und versuche es zu verbergen. Warum? Ich weiß es nicht. Als ich schließlich ein Stück weit das Zucken meines Armes unter Kontrolle habe, beschäftige ich mich wieder mit meiner Umgebung. Die Person, die vor sich hin spricht und ab und zu ausruft, steht immer noch an der Haltestelle, scheinbar wartet sie auch auf eine S-Bahn. Eine Gruppe von jungen Erwachsenen steht da und macht sich lustig über diese Person. Doch nicht nur das. Nein, zu allem Überfluss rufen sie ihr auch ab und zu Schmähungen und Beleidigungen zu. So höre ich Sätze wie: „Wo bist du denn ausgebrochen?“, „Solche wie dich, müsste man einfach in der Psychiatrie wegsperren und den Schlüssel wegwerfen.“ und der schlimmste Spruch: „Früher hätte man solche Leute wie dich einfach vergast und die Sache wäre erledigt gewesen.“ Worauf immer wieder ein verschämtes Lachen aus der Gruppe zu hören ist. Wobei mir bei den Sprüchen eher das Lachen vergeht.
Schon bei zu vielen Freunden und auch einigen Familienmitgliedern habe ich erlebt, dass sich bei ihnen über die Zeit psychische Probleme manifestierten, von denen sie meistens selbst nichts mitbekamen, da das Selbstverständnis fehlte und sie, statt sich oder ihren Körper dafür verantwortlich zu machen, die Verantwortung auf die Gesellschaft, höhere oder feindliche Mächte und Organisationen schoben. Hatte ich denn nicht erlebt, wie Verletzungen dazu führten, dass sich die Persönlichkeit von Bekannten änderte? Wie Freunde, die mit der Gesellschaft überfordert waren und nicht mehr die Kraft und den Willen hatten, Verantwortung für ihre eigenen Leben zu übernehmen, anfingen, allen anderen die Schuld an ihren Miseren zu geben, bis die Schuldzuweisungen zu einem Teil ihrer selbst wurden und sie davon aus tiefstem Herzen überzeugt waren? Sie waren davon überzeugt, dass die Welt ihnen nur Böses antun und sie zum Verstummen bringen wollte. Wie wieder andere Bekannte durch Mobbing dahin getrieben wurden, sich verfolgt zu fühlen und dann teilweise auch in ihre eigene Welt flohen. Oder aber auch, dass man einfach alt wurde und das Gedächtnis und die Erinnerungsleistung nachließen und man das nicht wahrhaben wollte und man dann Erklärungen suchte, die nicht bei einem selbst liegen. Die Erklärungen waren, auch wenn es absurd wirkte, für sie, dass andere sie negativ beeinflussten.
Es gibt so viele Ursachen für psychische Krankheiten und wie ich im Laufe meines Lebens erlebte, können sie jeden treffen, sodass man eigentlich nur Späße oder abfällige Aussagen machen kann, wenn man nicht selbst direkt oder indirekt betroffen ist und darüber hinaus auch keine Empathie hat.
Wie oft stand ich schon vor solch einer Person, die meinte, da sie die Welt nicht mehr versteht und sich gequält und verfolgt vorkommt? Wie häufig erlebte ich, dass sie aufgrund dieser Misere anfing zu weinen und ich versuchte, sie zu trösten? Versuchte zu erklären, dass die Welt nicht so ist, wie sie sie gerade sieht. Versuchte sie dazu zu überreden, Hilfe zu suchen oder anzunehmen, nur um an die Mauer zu stoßen, die sich in dem einen Satz manifestiert: „Ich bin doch nicht verrückt.“ Die Aussage, dass man selbst die Welt noch normal sehe, nur die anderen nicht. Die Aussage, dass man keine, zumindest keine psychologische, Hilfe bräuchte, sondern dass die anderen nur zu sehen anfangen und einen im Kampf gegen die vermeintlichen Überwacher und Unterdrücker unterstützen müssten. Das Gefühl von Hilflosigkeit, das dann immer in meiner Brust aufsteigt, das Ringen mit mir, doch noch einen Weg, eine Lösung, zu finden. Dann schließlich das Gefühl zu scheitern. Die Person verloren zu geben und trotzdem für sie da zu sein und dabei dagegen anzukämpfen, dass nicht doch die Weltsicht der anderen Person zu tief in das eigene Leben eindringt und abfärbt. Die Angst davor, dass man vielleicht auch einmal so denkt.
Vor diesem Hintergrund sage ich zu der Gruppe junger Erwachsener: „Lasst bitte die Sprüche. Sie sind weder lustig noch zielführend. Eher verschlimmern sie noch den Zustand des Mannes.“ Die Gruppe junger Erwachsener schaut mich überrascht an, denn scheinbar sind sie es nicht gewohnt, dass einer sich ungefragt an sie wendet. Doch dann fängt einer aus der Gruppe an zu grinsen und meint: „Ach, haben wir deinen Mitbewohner oder gar dein Familienmitglied beleidigt? Meinst du, uns fällt nicht auf, wie dein Arm unkontrolliert zuckt und wie du es zu verbergen suchst?“ Jetzt fange ich mich zu schämen an. Warum habe ich nur versucht, das Zucken zu verbergen und nicht dazuzustehen? Aber egal. So erwidere ich: „Mag sein, dass ich einen Tic habe, aber wenigstens mache ich mich nicht über mein gesellschaftliches Umfeld und mögliche Erkrankungen anderer Leute lustig, was doch schon etwas asozial ist. Ist euch denn nicht bewusst, dass ihr durch euer Verhalten dazu beitragen könnt, dass sich der gesundheitliche Zustand der Person, über die ihr euch lustig macht und die ihr diffamiert, verschlechtert? Nehmt ihr zusätzliches Leid und Probleme so fahrlässig in Kauf? Ich muss schon sagen, das ist wirklich ein Armutszeugnis, das ihr euch da selbst ausstellt.“ „Eh, willst du paar aufs Maul!“ Ist die erste Reaktion, die auf meine Antwort erfolgt, worauf ich schief grinse und meine: „Eigentlich nicht, aber es ist schon auffällig, dass Menschen, die verbal nicht weiterkommen, gleich mit Gewalt drohen. Lasst mich zum Abschluss nur noch eins sagen: ‚Ich hoffe, dass ihr nie selbst zu einem direkt oder indirekten Betroffenen werdet, denn wenn doch noch ein Funken Empathie in euch wohnt, werdet ihr euch dann für euer jetziges Verhalten in Grund und Boden schämen.‘“ „Ich werde nie so. Eher sterbe ich!“ Ist das Letzte, was einer aus der Gruppe sagt, da während des Gesprächs die S-Bahn kam, mit der ich fahren möchte und ich jetzt einsteige. Ich schaue zurück und denke: „Wenn du denn dann überhaupt selbst bemerkst, dass du ein psychisches Leiden hast.“
In der S-Bahn setze ich mich auf einen leeren Sitzplatz, schließe die Augen und versuche mich durch kontrollierte Atmung zu beruhigen. Ich merke, wie einhergehend mit meiner inneren Beruhigung auch mein linker Arm zu zucken aufhört.
Als mein Arm gänzlich zur Ruhe gekommen ist. Frage ich mich, wie es in unserer aufgeklärten Zeit nur immer noch sein kann, dass sich Menschen über andere Menschen, mit offensichtlich psychischen Leiden und Problemen echauffieren? Ist denn noch nicht in unserer Gesellschaft das Verständnis und das soziale Miteinander so weit fortgeschritten, dass man mit den psychischen Leiden aufgeklärt umgeht?
Als ich so darüber nachdenke, kommt mir ein Gedanke. Der Gedanke ist: „Vielleicht führen uns die Psychischkranken ja vor Augen, was auch uns widerfahren kann und da wir Angst davor haben, versuchen wir sie und ihre Leiden so weit wie möglich aus unseren Leben zu verbannen und uns durch ‚dumme Sprüche‘ über sie zu erheben. Denn wer sieht schon gerne solch eine Zukunft, die auf jeden von uns, hinter der nächsten Ecke, in Form eines Unfalls oder einer Krankheit, warten kann.“
Dieser Gedanke führt wiederum, wie so oft bei mir, zu einem weiteren Gedanken oder besser zu einem Wort: „Schadenfreude.“ Ich überlege, wie ich auf das Wort gekommen bin und stelle fest, dass ich in meinem persönlichen Umfeld schon erlebte, dass Menschen eine gewisse Schadenfreude empfinden, wenn ein Mensch, den sie nicht leiden können, psychisch erkrankt. Vielleicht ein Mensch, dessen politische Einstellungen ihnen nicht passt oder der etwas bekommen hat, was sie selbst gerne hätten. Frei nach dem Motto: „Das hat er nun davon, hätte er nicht dieses oder jenes getan, wäre er noch gesund.“ Wobei mir einfällt, dass ich diesen Spruch nicht selten von Impfgegnern, Impfbefürwortern, von Menschen, die eine Abneigung gegen Veganer haben und von Menschen, die andere für zu links halten, hörte. Es sind Sätze wie: „Der hätte sich halt (nicht) impfen lassen sollen.“, „Das kommt halt von der widernatürlichen Ernährung.“, oder „Da sieht man, was er von seiner linken Einstellung hat, er ist darüber verrückt geworden.“ Es sind Erklärungen, die keine wissenschaftliche Grundlage haben und einfach benutzt werden, um sich und seine Überzeugungen zu rechtfertigen. Kurz, es ist die Instrumentalisierung der psychischen Leiden für den eigenen Zweck.
Als ich so darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass die Schadenfreude meist mehr über den aussagt, der sie verspürt, als über den, der von ihr betroffen ist. Denn der Betroffene hat meistens zumindest etwas versucht. Er hat vielleicht seine Überzeugungen gelebt, während der andere ihm einfach etwas nicht gönnte, sei es, dass er etwas nicht selbst haben konnte oder er es aufgrund seines Herzens ablehnte oder sogar hasste. Und seien wir einmal ehrlich, Abneigung, Hass und Missgunst sind nicht die Dinge, die ein Leben ausmachen sollten, und so sollten wir alle vielleicht versuchen, die Schadenfreude aus unseren Leben zu verbannen.