Es ist Freitagabend und ich sitze an meinem Wohnzimmertisch und höre leise Musik. Eine anstrengende Woche liegt hinter mir und eigentlich wollte ich noch weg. Vielleicht ein paar Freunde in einer Bar treffen oder mal wieder zum Sportverein, alte Bekannte treffen und etwas gegen meinen immer mehr Raum greifenden Bauch tun. Doch ich kann mich nicht aufrappeln.
Ich frage mich, warum? Warum fällt es mir so schwer, mich wie früher dazu durchzuringen, einfach wegzugehen? Mir wird bewusst, dass ich keine Lust auf die Diskussionen habe, die dann mehr oder weniger wieder zwangsweise kommen. Die Diskussionen, warum ich diese oder jede Meinung habe, wenn ich den Aussagen und Stammtischparolen meiner Bekannten widerspreche. Den eher rechten und konservativen Parolen beim Sportverein, sowie ich sie auch immer wieder auf der Arbeit höre, da ich dort meinen Bekannten zu links bin. Dahingehend bin ich für viele meiner Freunde, mit denen ich abends weggehe, nicht mehr links oder „woke“ genug. Es ist in der Mitte der Gesellschaft, mit einer ausgewogenen politischen Einstellung, einsam geworden. Die einen schreien „Cancel Cultur“ und die anderen „Nazi-Schweine“, wo ist da die Verständigung. Die Abwägung der Sachverhalte und das Finden eines gangbaren Weges für die Mehrheit? Ich sehe keine. Ich sehe häufig nur Schwarz-Weiß denken. Ich sehe, wie die Menschen nur ihre Meinung für die einzig Wahre halten und sich mit Ja-Sagern umgeben, die die gleiche Meinung haben. Alle, die ihre Meinung hinterfragen oder gar das Haar in ihrer Gedankensuppe finden, verteufeln sie, anstatt ihre Meinung und damit ihre Weltsicht zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Was bleibt nur von dem aufklärerischen Gedanken, dass man sich seines Verstandes bedienen und mit Worten zu überzeugen versuchen, und vor allem, über sich selbst und die eigene Weltsicht, reflektieren soll?
Ich hole mein Smartphone aus der Hosentasche und schaue, ob noch jemand etwas von einer Veranstaltung an diesem Abend oder am Wochenende geschrieben hat. Neben vielen belanglosen Nachrichten sehe ich, dass ein Bekannter schrieb, dass man ein Nachtpicknick plane, und alle eingeladen sein, solange sie keine AfD-Wähler sind. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Schon wieder so eine pauschale Ablehnung von Menschen, die man nicht kennt. Von Menschen, die man durch Ausgrenzung direkt und immer tiefer in die Arme der AfD treibt. Warum nicht auch AfDler einladen. Mit ihnen freundlichen sprechen, solange sie nicht rassistisch oder engstirnig sind, und ihnen dadurch andere Meinungen und Lebensweisen aufzeigen? Freundlich an ihrem Gedankenfundament wackeln, auf das es vielleicht Risse bekommt und sich aus den Riesen neue Gedanken und Überzeugungen bilden?
Doch nicht nur diese Nachricht finde ich auf meinem Smartphone. Nein, darüber hinaus sehe ich noch zwei weitere Nachrichten zu Veranstaltungen. Die eine ist von einem Arbeitskollegen, der zum Grillen „für echte Männer“ mit extra viel Fleisch einlädt und darunter schreibt: „Wir lassen uns unsere Steaks nicht von links-grün versifften Politkern verbieten.“ Als ich diese Nachricht lese, denke ich, dass das konservative gesellschaftliche Bild, ein Bild des Patriarchats ist. Es ist ein Weltbild, das vermeintliche männliche Eigenschaften und Wünsche hochhält und alles andere als links-grün verdammt. Frei nach dem Motto: „Was braucht ein Mann?“ Worauf die Antwort ist: „Ein Steak, auf dem Grill. Fußball und Bier, um einmal seine Gefühle ausleben zu können und darüber hinaus eine Frau, die er dominiert, damit sie ihm den Haushalt führt und zur Verfügung steht.“
Echt, mich nervt das Gerede von „echten Männern“ oder „echten Kerlen“, da sie vergangene gesellschaftliche Lebensweisen zementieren und alle Männer, die nicht diesen Idealen entsprechen, als schwach und unmännlich darstellen. Und welcher Mann möchte schon „schwach“ wirken? Ferner spiegeln die veralteten Rollenbilder auch wider, woraus viele Männer ihren Lebenssinn und ihre Bestätigung ziehen, denn was bleibt vielen Männern, die an patriarchalen Überzeugungen hängen, übrig, wenn diese wegfallen? Nur der Griff zum Bier oder zur Schnapsflasche, um ihre Gedanken zu betäuben, denn etwas anderes, als die Macht des Patriarchats, haben sie nicht gelernt, mit dem sie punkten und überzeugen könnten.
Die letzte Nachricht, die eine Veranstaltung betrifft, ist von einem Kumpel aus dem Sportverein. Er schreibt, dass man für das Wochenende eine Demonstration mit Treckern und Lastwagen organisiert habe, um gegen die hohen Treibstoffpreise zu demonstrieren, die die verdammten Klimaschützer, die ihr Lebtag noch nichts gearbeitet hätten, der arbeitenden Bevölkerung aufbürdeten. Gegen die Wohlstandsvernichter in ihren goldenen Käfigen.
Ich lege mein Smartphone zur Seite. Gut, ich werde wirklich dieses Wochenende zuhause bleiben. Dieses Wochenende einfach ruhig angehen und so nehme ich mir meine Wochenzeitung und beginne zu lesen.
Doch das Lesen ist meiner Seelenruhe auch nicht zuträglich. Der Grund dafür ist, dass da wieder berichtet wird, wie die AFD gegen Migranten hetzt und die Freundschaft zu Russland wiederbeleben möchte. Doch nicht nur das, auch von linken Parteien wird berichtet, die auch meinen, dass man Russland nicht länger als Feind sehen dürfe und die Juden, wohlgemerkt „die Juden“ und nicht „die israelische Regierung“, einen Genozid begehen. Dabei vereinfachen beide die Vergangenheit, blenden Dinge aus oder tun sie einfach als „Fake News“ ab. Der Überfall Russlands auf die Ukraine. Gerechtfertigt, da sich Russland bedroht fühlte. Wie ein knapp 40 Millionen Einwohner Land ohne Atomwaffen ein Land mit knapp 140 Millionen Einwohnern mit Atomwaffen bedrohen sollte? Dahingestellt. Der Überfall der Hamas auf Israel. „Fake News“ oder gerechtfertigt, da Israel als Kolonialmacht gesehen wird. Die feiernden Menschen in Gaza, die die Terroristen jubelnd in den Straßen empfingen, als sie nach den Massakern in einer Art Siegeskolonne durch die Straßen fuhren und getötete und misshandelte Zivilisten zur Schau stellten. Oder auch die Folterung und Verstümmlung der israelischen Zivilisten. „Fake News“. Es sind keine schönen Dinge, die ich in der Zeitung lese und die so ein abgründiges Bild von unserer Gesellschaft und den Menschen im Allgemeinen zeichnen.
Man mag ja von Israel halten, was man möchte, beispielsweise, dass sie seit Jahren eine illegale Siedlungspolitik im Westjordanland betreiben oder zumindest tolerieren oder das Palästinenser unterdrückt werden, doch die Reaktion von Israel auf den Überfall der Hamas, dürfte keine Überraschung gewesen sein, denn wie hätten viele, die jetzt Israel kritisieren, selbst regiert, wenn ihre Familienmitglieder oder Freunde, nicht nur getötet, sondern auch verschleppt, misshandelt, missbraucht und gefoltert würden? Sie hätten sicherlich nicht still die andere Wange hingehalten. Doch wenn man nicht selbst betroffen ist, spricht und kritisiert es sich immer leicht.
Ferner ist die Härte, mit der Israel vorgeht, schwer zu ertragen und das Unterbinden der Wasser und Nahrungsmittelversorgung falsch. Doch was ist das richtige Vorgehen gegen Kämpfer, die sich unter Zivilisten und in und unter Gesundheitseinrichtungen verstecken und immer wieder angreifen? Wer einen friedlichen und für alle gangbaren Weg hat, kann sich gerne bei den UN melden, die sicherlich dankbar dafür ist. Doch diese Lösung des Konfliktes gibt es nicht, da eine Lösung immer einen gravierenden Nachteil für die eine oder andere Seite hat, die sie nicht zu tragen bereit ist.
Ich lege die Zeitung aus der Hand und fühle mich wirklich einsam auf der Welt. Man könnte meinen, das politische Spektrum stehe um eine Litfaßsäule ringsherum, die in einer Mauerecke steht. Sieht man auf die Litfaßsäule von der freien Seite Richtung Litfaßsäule und Mauereck, so sieht man in der Mitte die Grünen und einen Teil der SPD. Links davon sieht man die linken und vermeintlich woken Parteien und rechts davon die konservativen und nationalistischen. Hinter der Litfaßsäule, im Schatten der Mauer, vor dem Blick auf die Realität geschützt, schütteln sich die extreme Rechte und die extreme Linke die Hand, in ihrer Menschenverachtung bestimmter Personengruppen und in ihrer Liebe zu einer Diktatur, die ein Land überfällt und imperialistische Ambitionen hat. Ferner reichen sie sich in der Meinung die Hand, dass sie als einzige Partei die absolute Wahrheit kennen. Durch diese Überzeugung sind sie auch nicht an Kompromissen interessiert, denn Kompromisse bedeuteten ja, dass andere, wenn vielleicht auch nur zum Teil, recht haben.
Doch das ist noch nicht alles. Ebenso bewegen sich die Parteien, oder zumindest viele ihrer Mitglieder, mehr und mehr zu den beiden Extremen hin, sodass es in der politischen Mitte, die um Ausgleich bemüht ist, einsam wird und wenn sich nicht bald etwas zum positiven verändert, wird sich über kurz oder lang bald die gesamte Bevölkerung, in ihrer Weltablehnung, hinter der Litfaßsäule, vereinigen. Doch wie dann noch eine lebenswerte Zukunft gestalten, die nicht zerstört und darüber hinaus gerecht mit den Menschen und den Ressourcen umgeht?
Ich weiß es nicht. Doch im Moment habe ich keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen, und so stehe ich auf und gehe zu Bett. Vielleicht sieht ja die Welt morgen besser aus. Vielleicht habe ich auch morgen wieder Kraft, für eine bessere Welt, die um Ausgleich und Zukunftsfähigkeit bemüht ist, zu kämpfen und zu argumentieren.