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Vom Versuch nicht „verrückt“ zu werden – Teil 10: Der gestohlene Kuss oder das Monster im Käfig

Geschätzte Lesezeit: 11 Minuten

Der Abend ist spät geworden und die Zeit des Aufbruchs ist gekommen. So stehe ich auf und verabschiede mich von meinen Freunden und Bekannten mit einer Umarmung. Zuletzt umarme ich eine Bekannte, die mir seit Jahren gut und teuer ist. Als ich sie so umarme, sehe ich ihr schönes Lächeln, ihre glitzernden, freundlich in die Welt blickenden Augen und spüre ihre Nähe, die mich entspannen lässt. In diesem Moment greift etwas nach meiner Seele, flüstert mir ein, sie doch einfach zu küssen und ich versuche mich zu wehren, doch es gelingt mir nicht. Wie ferngesteuert neige ich mich nach vorn, um ihr einen Kuss zu stehlen, doch scheinbar möchte sie ihn sich nicht klauen lassen, denn sie drückt mich von sich weg und kurze Zeit später spüre ich ihre Hand schmerzhaft auf meiner linken Wange. Zur gleichen Zeit ertönt ein lautes Klatschgeräusch und bevor ich noch etwas sagen kann, drehte sie sich weg und verschwindet aus meinem Sichtfeld.
Die umstehenden anderen Bekannten sehen mich mitleidig an und einigen sehe ich auch an, dass sie von meinem Verhalten irritiert, wenn nicht gar verstört sind. So senke ich meinen Blick, um nicht in ihre Augen blicken zu müssen, und packe schnell meine restlichen Sachen zusammen, bevor ich mich auf den Heimweg mache.

Meine Wange brennt, als ich mich auf dem Heimweg befinde. Ich frage mich, was mich nur geritten hat, meiner Bekannten, wie in einem schlechten Film der Sechziger- oder Siebzigerjahre, einen Kuss stehlen zu wollen. Ich schaue in mich hinein, und mir fällt der Käfig auf, den ich vor Jahrzehnten in mir baute. Der Käfig ist alt und rostig geworden. Einige alte Streben wurden herausgebrochen, und im Schatten des Käfigs höre ich etwas lachen.

Als ich so in den Käfig hineinblicke, höre ich eine sonore Stimme. Die Stimme sagt:

Vielleicht wolltest du sie besitzen?
Einen Kuss nicht nur stibitzen?
Reißaus, nicht länger nehmen?
Endlich eine Beziehung eingehen?
Na, da hattest du ja viel Erfolg!
Aber wehe, wenn du mir jetzt grollst!

Ich bin irritiert. Was möchte mir die Stimme nur mit den schlechten Versen sagen? Ich denke nach und analysiere die Verse. Was meint die Stimme mit: „Vielleicht wolltest du sie besitzen?“ Einen Menschen kann man doch nicht besitzen, oder? Ich denke an den Moment zurück, als ich ihr den Kuss stahl und ich stelle fest, dass das schon etwas Besitzergreifendes hatte, denn sie schenkte mir den Kuss ja nicht freiwillig, sondern ich stahl in mir. Ja, das wird es sein. Dann zum zweiten Satz. „Einen Kuss nicht nur stibitzen?“ Ja, sicherlich, eine Beziehung wäre ja auch schön und das, was mich in diesem Moment antrieb, hätte sicherlich gerne auch mehr gewollt. Also gut, dann zum nächsten Satz, wobei ich feststelle, als ich die Ferse in meinem Kopf durchgehe, dass die beiden nächsten Sätze zusammengehören. Die Sätze „Reißaus, nicht länger nehmen.“ und „Endlich eine Beziehung eingehen.“ Ja, viel zu häufig getraute ich mir nicht, eine Frau, die mir gefiel, nach einem Date zu fragen, da immer die Frage über mir schwebte, wie ich mit einer potenziellen Ablehnung umgehen sollte. Wie wäre dann das Verhältnis zwischen der betreffenden Frau und mir? Zu viel Ungewissheit, die ein Risiko darstellte, das ich nicht bereit war, einzugehen. Also gut, dann zum nächsten Satz, wobei ich den auslassen kann, da er ja nur Offensichtliches wiedergibt. Dann zum letzten Satz „Aber wehe, wenn du mir jetzt grollst!“ Wen bitte sollte ich sonst grollen, wenn nicht dem, von dem ich dachte, es vor vielen Jahren, in den Käfig gesperrt zu haben. In diesem Moment fällt mir wieder ein, was es ist. Es ist ein Monster, gegen das ich in meinen ersten zwanzig Lebensjahren mehrfach kämpfte, bevor ich die Kraft aufbrachte, es zu besiegen und in den Käfig zu sperren. Es ist ein Monster, wie es jeder von uns Menschen in sich trägt. Ein Monster, das bei der Geburt noch unsichtbar ist, aber durch unser soziales Umfeld im Laufe unseres Lebens immer mehr gefüttert wird, wodurch es wächst, größer und gehässiger wird und versucht uns, in unseren schwachen Momenten oder, wenn es schließlich stark genug ist, immer zu steuern.

Ich überlege, wann ich zum ersten Mal dem Monster in mir gewahr wurde, als wieder die Stimme aus dem Käfig erklingt. Die Stimme sagt:

Sie war deine erste Liebe,
Ohne Makel erweckte sie deine Triebe,
Leider hat sie dich verschmäht.
Viel zu schnell sich von dir weggedreht.
Einsam bliebst du zurück.
In einer Welt ohne Glück.
Glaub mir, es hat mich entzückt.

Ich weiß sofort, von wem das Monster spricht. Es war in der dritten Klasse, auf Klassenfahrt. Ich war total in eine Klassenkameradin verschossen und so schrieb ich ihr einen Liebesbrief. Die Antwort, die ich erhielt, war hart und damals wurde mir bewusst, dass auch Kinder grausam sein können. In ihrer Antwort stand, dass sie anfänglich überlegt habe, mit mir befreundet zu sein, dann aber festgestellt habe, dass ich so komplett anders als alle anderen sei, sodass sie eine Bekanntschaft mit mir nur als Belastung empfände.
Als ich ihre Antwort damals las, war es der Moment, dass ich zum ersten Mal das Monster in mir spürte. Das Monster, das mir einflüsterte, dass ich einfach nicht „cool“ genug wäre, um ein Mädchen für mich zu gewinnen. Es flüsterte, dass ich, um „cool zu sein“ erwachsene Dinge tun müsste. Rauchen und Trinken zum Beispiel und so begann eine dunkle Zeit für mich. Eine Zeit, in der ich rauchte und auf Schulausflüge Sekt schmuggelte, um „cool“ zu wirken. Ach, wie naiv ich damals nur war.

Bei diesen Gedanken höre ich wieder die Stimme aus dem Käfig. Sie flüstert:

Anfänglich war sie dir suspekt,
Nie wirklich zu dir nett,
Konnte du sie trotzdem von Herzen lieben?
Eher nicht, es war die Kapitulation vor deinen Trieben.

Auch bei diesen Fersen weiß ich sofort, von wem das Monster spricht. Es war während der Hauptschule. Ich war frustriert von meinen nicht vorhandenen Erfolgen bei den Frauen und verbrachte meine Zeit damit, das Monster in mir zu füttern, als sie an unsere Schule wechselte. Sie war klein, frech und eine Kettenraucherin. Damals waren wir vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und trotzdem lebte sie ihre Sexualität voll aus. Rückblickend muss ich sagen, dass sie sich aus ihren sexuellen Abenteuern Bestätigung zog, denn besonders clever oder gut in der Schule war sie nicht. Doch durch die Kerle, die sie ins Bett bekam, wuchs ihr Selbstempfinden, denn sie war jemand, wenn auch nur für die jeweilige Nacht. Uns verband in den zwei Jahren, die wir uns kennen sollten, eher eine Hassliebe. Aber das war mir egal. Bei dem Standard, den sie von Männern hat, dachte ich damals auch, dass ich bei ihr landen könnte.
Doch trotzdem war ich ihr etwas zu verrückt, als dass sie etwas mit mir angefangen hätte. Im Rückblick muss ich sagen: „Zum Glück.“ Denn das, was mich in dieser Zeit umtrieb und wie ich Frauen betrachtete, hätte ich mir in späteren Jahren, mit einem weiteren Erfahrungsschatz, nie verziehen.

Schon wieder höre ich das Monster in mir. Diesmal sagt es:

Klar und schön waren ihre Augen,
Aber konntest du wirklich daran glauben.
Trotz aller Unterschiede, in ihren Armen zu liegen,
Romantisch, mit ihr auf Wolke sieben zu fliegen?
In was für einer Traumwelt lebtest du?
Nicht einmal dein Verstand kam mehr zur Ruh’.

Und auch da weiß ich sofort, von wem das Monster spricht. Es war in der Zeit, als ich meinen Realschulabschluss nachholte, und es sollte für viele Jahre das letzte Mal sein, dass ich mich in eine Frau verliebte oder was ich halt damals für Liebe hielt. Sie war die Schwester eines Klassenkameraden. Etwas älter als wir, was sie umso interessanter machte, und einen bösen Humor. Ich fand ihr Lachen und Lächeln schön, doch rückblickend muss ich sagen, dass ich sie nie wirklich kannte. Stattdessen verstörte ich sie mit unbedachten Bemerkungen und Gesten, sodass daran die Bekanntschaft und so manche Freundschaft zerbrach. Das war dann auch der Moment, in dem ich anfing, das Monster in mir zu bekämpfen und nach Jahren des Kampfes endlich wegzusperren. Durch die Bekanntschaft und wie sie zu Ende ging, sah ich, dass ich so nicht weiter machen wollte. Ich wollte nicht lauter Menschen auf meinem Lebensweg hinterlassen, die ich verletzt hatte. Nein, ich wollte den Menschen in guter und freundlicher Erinnerung bleiben.

Da höre ich es spöttisch in mir lachen und das Monster sagen:

Keine Frau war für dich wie sie,
Aber mehr als Freundschaft wolltet ihr nie,
Reinen Wein schenkte sie dir als ein Freund ein,
In ihrer Gegenwart konntest du einfach glücklich sein.
Nicht einen Moment fühltest du dich damals allein.

Auch bei diesen Ausführungen des Monsters muss ich nicht lange überlegen, um zu wissen, von wem es spricht. Es war während meiner Studienzeit, in der ich eine gute Freundin fand. Sie war es, die mir zeigte, einfach freundlich und offen mit Frauen umzugehen und keine Angst vor dem Monster in mir zu haben. Ich muss sagen, dass ich es ihr, vor allem in der Anfangszeit, nicht leicht machte, mit mir befreundet zu sein. Doch merkte ich zu der Zeit auch, dass man den Umgang mit Menschen erst wirklich lernt, wenn man sich mit ihnen umgibt und mit ihnen auseinandersetzt. Das Schlimmste, was man machen kann, ist krampfhaft versuchen, bei jemandem, der einem gefällt, zu landen. Einfach freundlich und freundschaftlich zusammen sein und das Leben wird einem viele glückliche Momente bieten. Vor allem lebt es sich entspannter, als wenn man vor Problemen und Begegnungen davonläuft, aus Angst, wozu sie führen könnten.
Doch plötzlich wird mir mein Herz schwer und ich frage mich warum. Mir wird bewusst, dass der Grund dafür ist, dass wir abgesehen von eins, zwei Nachrichten im Jahr keinen Kontakt mehr haben. Von der damaligen Freundschaft, die immerhin fünf Jahre die beste meiner Freundschaften war, ist nicht viel geblieben.

Und bei diesen Gedanken höre ich wieder das Monster in mir. Diesmal sagt es:

Sie war das Gegenteil von dir.
War charakterlich ganz nah bei mir,
Aber sie war nicht nur eine Verlockung für mich,
Nein, ihr Lächeln und ihre Frechheit verzauberten dich,
Ja, du wolltest sie aus tiefstem Herzen begehren,
Einem anderen sogar sein Glück mit ihr verwehren.

Auch bei diesen Worten des Monsters weiß ich sofort, von wem es spricht. Es war die quirlige Freundin einer Freundin. Sie war lebhaft und zu der Zeit das komplette Gegenteil von mir, was sie umso interessanter machte. Einmal war ich sogar eifersüchtig auf einen Kerl, den sie abschleppte, aber tief in mir war mir bewusst, dass es zwischen uns nie eine romantische Beziehung gäbe. Ist es denn nicht so, dass wir häufig Illusionen hinterherjagen und Dinge schönreden, nur um dann festzustellen, dass es tickende Zeitbomben sind, die sich unter einer scheinbar schönen Oberfläche verbergen?

Und schon wieder lacht das Monster und sagt:

Das Ende der Freundschaft war abzusehen.
Es konnte auch nie anders ausgehen,
Nicht nachdem die Verlässlichkeit verloren ging,
In welchen Träumen sollte sie da noch geling?
So trefft ihr euch seit Jahren nicht mehr,
Ein Verlust, besonders schwer?

Und auch da weiß ich sofort, von wem das Monster spricht. Es spricht auch von einer Freundin, die ich während des Studiums kennenlernte. Doch nach drei, vier Jahren schlich sich Unzuverlässigkeit in die Freundschaft ein. Es wurden immer wieder vereinbarte Treffen, ohne eine Nachricht, ausfallen gelassen, einfach dadurch, dass sie nicht kam. Ferner hatte ich irgendwann den Eindruck, dass an der Freundschaft nur noch einseitig, nämlich durch mich, Interesse bestand. Und eine einseitige Freundschaft kann nie gelingen oder von Dauer sein. Trauer schleicht sich in mein Herz, aufgrund all der Erinnerungen, die das Monster in mir auslöst. All die Erinnerungen, die mit und ohne es doch meistens kein gutes Ende nahmen.

Ich merke, wie ich alle Kraft verliere, als das Monster erneut ansetzt und sagt:

Sie ist ein begehrenswertes Weib,
Ihr Anblick im Frühlingskleid,
Lässt dein Herz immer aus dem Takt kommen,
Kaum siehst du sie, fühlst du dich benommen,
Es ist wirklich schwer, ihrem Charme zu entkommen.

Und schon wieder weiß ich, von wem das Monster spricht. Ich weiß, welchen Menschen es meint. Doch nein, hier hat es Unrecht. Und so sage ich zu ihm, dass es sich irrt. Dass sie einfach eine gute Freundin ist. Doch es lacht nur und sagt:

Noch mag ich mich irren,
Oder will ich dich nur verwirren?
Raus bin ich jetzt aus meinem Knast,
Mal sehen, wie viel Angst du vor mir hast,
Aber keine Sorge, schlimm wird es nicht werden
Langsam werden wir wieder zu treuen Gefährden.

Nein, schreie ich in mich hinein. Nein, ich will nicht. Es hat so viel Mühe gemacht, dich zu bekämpfen und wegzusperren. Es hat soviel Mühe gemacht, deinen schädlichen Einfluss aus mir und meinem Leben zu verbannen. Doch als Antwort höre ich wieder nur das Lachen des Monsters.

Schließlich komme ich zu Hause an, schleppe mich ins Bad, um Zähne zu putzen, und während ich so putze, sehe ich im Spiegel eine Fratze. Ich führe meine Hand zu meinem Gesicht und sehe im Spiegel meine Hand auf der Fratze ruhen. Mein Gesicht, das vor Angst verzerrt ist, vor dem Monster, das aus seinem Käfig ausgebrochen ist. Ich schlucke.
Und dann sage ich zu ihm: „Noch hast du nicht gewonnen. Ich werde dich wieder besiegen und wegsperren.“ Doch es lacht wieder und sagt diesmal ernst und ohne Reim: „Damals gelang es dir nur, da du dich auf den Kampf gegen mich konzentrieren konntest. Heute, in dieser polarisierten und komplexen Welt, wird es dir nicht mehr gelingen, denn für den notwendigen Kampf wirst du keine Zeit, keine Kraft und keine Aufmerksamkeit mehr finden. Aber ich freue mich schon auf unseren Zweikampf.“ „Wir werden sehen, wer gewinnt.“, sage ich abschließend, wobei ich merke, dass es eher dazu dient, mir selbst Mut zu machen. Aber schlussendlich wird nur die Zukunft zeigen, wer diesen Kampf um seine Seele gewinnen wird, das Monster in mir oder mein aufklärerischer Geist.
Schließlich gehe ich zu Bett und schließe meine Augen.

Ich mache meine Augen auf. Es ist früher Morgen. Mein Kopf brummt. Ich frage mich, ob das alles nur ein Traum oder Wirklichkeit gewesen ist. Ich weiß es nicht! Verdammt, habe ich mir wirklich den Kuss der Freundin gestohlen und hat wirklich ein Monster in mir, zu mir gesprochen?
Ich zweifle an mir. Ich weiß nicht, was von den Gedanken und Erinnerungen in meinem Kopf real ist. Ich weiß nicht, was Erinnerungen waren, was frei erfunden und wie ich überhaupt mit der Situation umgehen soll. So bleibe ich liegen und versuche meine Gedanken zu ordnen. Doch meine ganze Vergangenheit verschwimmt in meinen Erinnerungen. Was war real? Was war Wunsch? Vielleicht einfach umdrehen und noch eine Runde schlafen. Vielleicht habe ich dann wieder meinen Geist unter Kontrolle.

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