Ich sitze mit einigen Freunden zum gemeinsamen Abendessen am Tisch. Ich unterhalte mich gerade mit einer Bekannten, die ich seit zwei Jahren nicht mehr sah, als plötzlich eine Freundin, die ich sehr mag, mich anschreit. Sie schreit: „Dann gib es halt her!“, worauf ich ihr, wie automatisch, das geforderte Utensil reiche. Wobei ich etwas unter Schock stehe, da ich nicht weiß, warum sie mich plötzlich anschreit. Ich frage sie, was denn los sei und sie meint, dass sie doch gehört habe, dass ich unzufrieden damit bin, dass sie ihre Küchenaufgabe noch nicht erledigt habe. Auf meine Aussage hin, dass wir gar nicht darüber gesprochen hätten, meint sie, dass sie sich dann wohl verhört habe. Doch ihre Aussage stellt mich nicht zufrieden, denn dann hätte sie mich nicht angeschrien, sondern nur nachdrücklich nach dem Utensil gefragt, mit der Begründung, die Arbeit fertig machen zu wollen. Sie hätte vielleicht etwas genervt geklungen, doch geschrien hätte sie sicher nicht.
In diesem Moment fange ich unbewusst an, ihre Aussage anhand des vier Ohren Modells von Schulz von Thun zu analysieren. Zuerst die Sachebene, die ganz offensichtlich ist, dass ich ihr das geforderte Utensil geben soll, wobei die Sachebene auch die Ebene ist, die ich in meiner Überraschung bediente.
Nach dieser Überlegung wandern meine Gedanken weiter zur Selbstoffenbarungsebene. Die Selbstoffenbarungsebene ist ganz offensichtlich, dass die Freundin mit etwas, was ich getan oder nicht getan habe, unzufrieden ist, denn sonst würde sie mich ja nicht anschreien. Das wäre ja auch selbst dann der Fall, wenn sie unser Gespräch nicht richtig verstanden hätte. In diesem Fall hätte sie, wie ich sie seit Jahren kenne, einfach ruhig und nachdrücklich nach dem Utensil gefragt.
Meine Gedanken wandern weiter zur Beziehungsebene. Was ist die Beziehung, die wir zueinander haben? Bevor ich ihren Schrei hörte, hätte ich gesagt, eine vertraute Freundschaft, doch im Moment? Im Moment kündigt sich wohl Unzufriedenheit, wenn nicht gar ein Streit zwischen uns an, wobei das etwas Neues ist, da wir uns in den Jahren, die wir uns bereits kennen, nie gestritten haben.
Als mir das bewusst wird, wandern meine Gedanken zur Appellebene. Zu der Ebene, auf der ich mich fragen muss, was sie überhaupt möchte, das ich tue. Auf die Sachebene bezogen, genau das, was ich in meinem Schock getan habe, nämlich ihr das Utensil geben. Auf die Beziehungsebene bezogen, hätte sie sich vielleicht mehr Aufmerksamkeit von mir gewünscht, denn ich redete fast ausschließlich mit der Bekannten, die ich zwei Jahre nicht gesehen hatte, anstatt mit ihr. Wobei es auch schwer war, mit ihr ins Gespräch zu kommen, da sie ständig mit anderen Anwesenden Gespräche führte, zu denen ich nicht wirklich etwas beitragen konnte. Doch war dem wirklich so? Vermutlich, wobei ich mir nicht sicher sein kann, aber warum sonst hätte sie unserem Gespräch mit halbem Ohr lauschen sollen, wodurch es erst zu dem Schrei kam? Doch vielleicht mache ich es mir an der Stelle auch einfach zu einfach? Vielleicht hätte ich ihr einfach ein Kompliment machen sollen? Ein Kompliment für ihr Kleid, das ihr sehr gut stand und von dem sie wusste, dass ich fand, dass es sie sehr gut kleidete. Doch wäre nur das etwas Oberflächliches gewesen. Vielleicht hätte ich etwas über ihr Lächeln oder Lachen sagen soll, das ich sehr schön fand, doch käme das ihr sicherlich übergriffig vor. Ja, ich hätte so viel tun können, doch so vieles hätte auch falsch aufgefasst werden können…
Über meine Gedanken vergeht die Zeit und schließlich kommt der Moment der Abschiednahme. Als ich zu der Freundin komme, die mich anschrie, nagen Zweifel an mir. Zweifel, ob ich etwas falsch gemacht habe. Ich überlege zu fragen, ob zwischen uns alles in Ordnung ist. Doch ich kann mich nicht dazu durchringen und so meine ich etwas unbeholfen zu ihr: „War schön, dich zu sehen.“ Worauf sie ausweichend reagiert, gerade so, als wüsste auch sie nicht, wie sie zu mir steht.
Ich spürte eine Kühle in meinem Herz und frage mich, was ich tun soll, doch mir fällt nichts ein. So mache ich mich schließlich einfach auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Als ich so an der Haltestelle stehe, kreisen meine Gedanken weiter. Sie kreisen und kreisen und so beschließe ich, anstatt die Straßenbahn zu nehmen, nachhause zu laufen und dabei zu versuchen, meinen Kopf freizubekommen. So gehe ich weiter und Kilometer um Kilometer bringe ich den acht Kilometer weiten Heimweg hinter mich.
Auf dem Heimweg versuche ich immer wieder, meine Gedanken zu ordnen, was mir aber nicht gelingen möchte. Ich ringe mich selbst dazu durch, in mich hineinzuhören, ob das Monster in mir etwas dazu sagen möchte, doch selbst es, das sonst nie schweigt, bleibt stumm. Kein Lachen. Kein dummer Spruch. Einfach Stille. Scheinbar ist es selbst von dem Schrei der guten Freundin aus der Fassung gebracht worden. Denn grundlos waren wir noch nie von einem Menschen, der uns viel bedeutet, angeschrien worden. Das Monster lachte mich zwar aus, wenn ich unbedachte Dinge tat oder sagte oder es versuchte mich mit schlechten Gedichten und Sprüchen zu unüberlegten Handlungen zu treiben, wobei es dabei jederzeit mit einer passenden Reaktion der betroffenen Person rechnete, aber grundlos, von einem Mensch der mir, und selbst meinem Monster, viel bedeutet, das war etwas Neues.
Schließlich komme ich zuhause an, mache mich bettfertig und lege mich hin. Doch der Schlaf möchte sich nicht einstellen. Immer wieder wandern meine Gedanken zur Freundin und dem Moment, in dem sie mich anschrie. Immer wieder frage ich mich, was ich falsch machte. Doch etwas Offensichtliches fällt mir nicht ein.
Ah, es ist zum Verrücktwerden!