Zum Inhalt springen

Vom Versuch nicht „verrückt“ zu werden – Teil 6: Soziale Medien

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Immer öfter sitze ich, wie jetzt, einfach im Zug, höre leise Musik und betrachte die Menschen um mich herum, die gebannt auf ihre Smartphones schauen und sich durch die verschiedenen Social-Media-Apps wichen. Ich betrachte die Menschen, da mir seit einiger Zeit der Nerv fehlt, um Zeitung zu lesen, und ich ja schon vor einigen Wochen alle Social-Media-Apps von meinem Smartphone verbannte. Am Anfang war das noch ungewohnt, denn wie automatisch nahm ich das Smartphone zur Hand, um zu schauen, ob es etwas Neues gibt, nur um dann festzustellen, dass ich die Apps gar nicht mehr auf meinem Smartphone habe. Doch mit der Zeit gab sich der Zwang und selbst abends stürzte ich bald nicht mehr an meinen PC, um zu überprüfen, was ich denn „wichtiges“ verpasst habe.
Ich muss sagen, meistens war es nicht viel und so baute ich eine Distanz zu den Plattformen auf, die mich bald nur noch einmal wöchentlich online nach den neusten Nachrichten sehen ließ. Manchmal braucht man einfach etwas Abstand, um zu sehen, in welcher digitalen Welt man sich bewegt und dass man sie nicht zwingend braucht. Die letzten Posts von Bekannten, die ich online sah, waren: „Achtung, Impfungen enthalten weibliche Hormone und sind deshalb nicht gut für Jungen!“ und ich dachte: „Bier enthält Phytoöstrogene, die wie Östrogene wirken können und das, zusätzlich mit dem Alkohol, ist auch nicht gut für Jungen und Männer und sie trinken es trotzdem.“ oder „Ich brauche eine Umkehrosmoseanlage, um mein Trinkwasser von Medikamentenrückständen zu reinigen.“ Und ich denke, dass das keine gute Idee ist, da Umkehrosmoseanlagen auch Mineralstoffe aus dem Wasser filtern, die für den Körper nützlich sind, dass die Filter regelmäßig getauscht werden müssen, da es sonst Keimschleudern werden, dass für einen Liter gefiltertes Wasser bis zu zwei Liter Abwasser anfallen, dass sie in Deutschland, abgesehen von einigen Altbauten, eigentlich unnütz sind, da wir eine exzellente Wasserqualität haben. Und schlussendlich, dass einige Geschäftemacher gezielt die Angst einiger Menschen befeuern, um so ihr Produkt zu verkaufen und die geängstigten Menschen teilen dann ihre Ängste, wodurch noch mehr Menschen ängstlich werden und noch mehr Leute das Produkt erwerben möchten. Eigentlich eine schöne Spielwiese für profitgierige Kapitalisten.“ Abgesehen davon, stelle ich auch fest, dass viele der Menschen, die eine Umkehrosmoseanlage wollen, gleichzeitig FFP- und OP-Masken ablehnen, da sie angeblich schädlich sind und keinen Nutzen hätten. Dabei schützen die Masken vor gefährlichen Keimen und gefährlichen Stoffen in der Luft, Viren, Feinstaub, giftige Fasern, etc. Sie schützen vor Stoffen, die sicherlich nicht ungefährlicher als das Wasser in Deutschland sind, aber Rationalität und Vernunft zählen ja nichts mehr in unserer Gesellschaft. Sondern nur das eigene Gefühl, der eigene Glaube und die eigenen Ängste, die man sich nicht ausreden lassen möchte.
Doch nicht nur das. Andere Bekannte bombardieren mich mit Bildern, die „schön“ aussehen sollen, aber nichts aussagen. Ich denke an die Entwertung des Bildes durch die schiere Masse an Bildern. Was ist ein Bild noch wert? Was kann ein Bild noch bewegen, wenn Bilder doch nur noch inflationär verbreitet werden?
Ich betrachte die Menschen um mich herum weiter und stelle fest, dass zwar viele mit hunderten „Freunden“ auf den Social-Media-Plattformen befreundet sind, doch hier, ganz allein, vor ihren Smartphones sitzen. Wo sind die Gespräche hin, die man früher mit Mitreisenden führte und wodurch man manch einmal auch einen Freund fand, einfach, weil man den gleichen Arbeitsweg hatte?
Mein Blick bleibt an einem jungen Mann hängen, der sich über die „Selfikamera“ auf dem Smartphone selbst betrachtet und die Haare richtet. Ich erinnere mich, dass der gleiche junge Mann sich beim Einsteigen im Fenster betrachtete und ebenfalls die Haare richtete. Ich stelle fest, dass ich die letzten Tage, die ich meine Mitreisenden aufmerksam betrachte, feststellte, dass viele nicht mehr an spiegelnden Flächen vorbeigehen können, ohne irgendetwas, an sich selbst, zu richten, denn schließlich kann das nächste Selfie oder das nächste Bild von einem, schon im nächsten Moment geschossen werden und da möchte man ja gut aussehen.

Ich beginne mich zu fragen, wann das Internet nur zu einer Spielwiese des Hyperindividualismus und der Eitelkeit geworden ist. Die Idee, die am Anfang des Internets stand, war doch so schön. Die Idee, dass alle Informationen austauschen, sich vernetzen und die Welt zu einem besseren Ort machen können. Dass alle gleichberechtigt sind, und keine Firma die Macht über es hat, und was ist heute davon noch übrig? Wenig! Es gibt einige wenige „Bigplayer“, die fast alle Internetnutzer tagtäglich verwenden, da sich mit der Zeit herauskristallisierte, dass im Internet das Motto herrscht „The winner takes all!“, da dort, wo viele Menschen waren, noch mehr hingingen und die Alternativen vertrockneten. Waren schließlich die Alternativen weg, konnte man die Masse schröpfen, sei es, dass man ihre Daten nutzte oder sie dazu animierte, mehr und mehr Lebenszeit auf den Plattformen zu verschwenden.
Während ich so nachdenke, fällt mir nur eine Plattform ein, die den Idealen des ursprünglichen Internets noch am nächsten kommt. Die Webseite „Wikipedia“, auf der die verschiedensten Menschen Informationen zusammentragen, sich über verschiedene Darstellungen austauschen und versuchen, etwas Gutes zu erschaffen, das nicht rein kommerziell ist. „Wikipedia“ als ein kleines Leuchtturmprojekt.

Ich komme meiner Zielhaltestelle näher und stehe auf. Ich gehe zur Tür und stelle fest, dass selbst in der Tür Leute stehen, die sich nicht festhalten und mit beiden Händen an ihren Smartphones rumhantieren, wobei sie gefährlich hin und her schwanken. Als ich so die Person sehe, muss ich an die Liste „List of selfie-related injuries and deaths“ auf Wikipedia denken, die deutlich zeigt, wozu das Streben nach dem perfekten Bild, meistens für den eigenen Social-Media-Account, führen kann. Die Liste sollte eigentlich ein mahnendes Beispiel sein, auf dass die Menschen darüber nachdenken, doch warum kommt das bei den Menschen nicht an?

Ich steige aus und stoße fast mit einem Jugendlichen zusammen, der den Blick auf sein Smartphone gerichtet hält und blind einsteigen möchte, bevor alle Aussteigewilligen ausgestiegen sind. Ich sage, dass er die Aussteigenden doch bitte erst aussteigen lassen soll, worauf hin er erschrocken aufsieht und einen Schritt zurückgeht. Als er so dasteht, fällt mir gleich ein großer weiser Fleck auf seinen Arm auf. Ein Fleck, wie ich durch meine Tante weiß, der entsteht, wenn die Haut und das Fleisch darunter durch das lange Besprühen mit Deo, wie es nicht wenige Jugendliche bei der „Deo-Challenge“ taten, schwer schädigten. Alles nur aufgrund einer Mutprobe, die dann bestenfalls noch als Video in den sozialen Medien geteilt wurde und für die, die sich das selbst antaten, Anerkennung bekamen? Mal ehrlich, wie verrückt sind die sozialen Medien, wenn sie solch einen Trend auch noch befeuern?

Von der Haltestelle gehe ich zu einem Freund, bei dem wir uns zum gemütlichen Beisammensein verabredet haben. Als ich ankomme, sind schon einige Bekannte da, sitzen im Raum verteilt und starren auf ihre Smartphones. Ab und zu hört man Sätze wie: „Hast du das schon gesehen?“ „Kennst du diesen Clip?“ „Ich schick dir einmal einen Link.“ Oh Gott, hoffentlich bleibt der Abend nicht so.
Ich hole mir ein Glas Wasser aus der Küche, setze mich an den Wohnzimmertisch und warte, ob sich jemand zu mir setzt. Doch die Minuten vergehen und keiner setzt sich zu mir. Nach einer Weile hole ich ein paar Gesellschaftsspiele aus meinem Rucksack, die ich vorsorglich eingepackt habe, und frage in die Runde, ob jemand mitspielen möchte, und tatsächlich gesellen sich zwei Bekannte zu mir an den Tisch, während die anderen nur meinen: „Lass mal gut sein.“ Soviel zum geselligen Beisammensein.
Aber gut, nicht den Abend verderben lassen und mit denen, die Lust haben, Gesellschaftsspiele spielen. Die Zeit vergeht und ich habe eine Menge Spaß. Ob die anderen, die nur an ihren Smartphones kleben, den auch haben? Eigentlich habe ich sie nur von ihnen losgelöst gesehen, als es etwas zu essen gab, und selbst da nicht ganz, denn viele hatten ihr Smartphone eingeschaltet, neben ihren Tellern liegen. Aber was soll man machen? Einfach das Beste aus jeder Situation.

Der Abend endet und ich mache mich auf den Heimweg. Als ich in der S-Bahn sitze, frage ich mich, ob wir Menschen die direkte Interaktion verlernt haben. Viele von uns haben tagtäglich über ihre Smartphones Kontakt zu allen möglichen Menschen auf der ganzen Welt, doch der persönliche Kontakt, das Interagieren von Angesicht zu Angesicht wird verlernt. Dabei denke ich, dass es die Leute sind, die man persönlich trifft, die einen auf dem Boden der Tatsachen halten und mit denen man sich auch mal streiten kann, da man im persönlichen Gespräch nicht so schnell wegrennt. In den sozialen Medien hingegen umgibt man sich überwiegend mit Menschen, die die eigene Meinung teilen, und wenn man dort aneinander gerät, wird halt geghosted und geblockt. So werden die sozialen Medien zu einer Wohlfühloase und man selbst befindet sich lieber dort, als vielleicht in einem anstrengenden persönlichen Gespräch, dass der eigenen Meinung entgegenläuft und vielleicht sogar darauf hinausläuft, dass man seine eigene Meinung doch noch einmal hinterfragen muss. Sich selbst und seine Meinung zu hinterfragen. Man, das ist doch unbequem und zeitverschwenderisch. Das denken sie zumindest.

Schließlich komme ich zu Hause an und fasse den Entschluss, durch persönliche Aktivitäten und Interaktionen die Menschen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis mehr dazu zu bewegen, sich weniger mit ihren Smartphones und den sozialen Medien zu beschäftigen, sondern mehr persönlich. Halt immer ein Gesellschaftsspiel dabeihaben, um sie dadurch eventuell zur persönlichen Interaktion zu bewegen.

Published inVom Versuch nicht „verrückt“ zu werden