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Vom Versuch nicht „verrückt“ zu werden – Teil 24: Der Mensch braucht jemanden, auf den er herabschauen kann

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Eigentlich wollte ich rausgehen, ein Fest oder eine Kneipe besuchen und vielleicht neue Menschen kennenlernen, doch es fällt mir immer schwerer, mich aufzuraffen. Immer schwieriger, mit den Menschen zu kommunizieren und eine Verbindung aufzubauen. Ich frage mich, warum das so ist.
Ich denke über meine letzten Begegnungen nach und den Versuch, neue Bekanntschaften zu schließen, und mir wird bewusst, dass das Kennenlernen meistens daran scheiterte, dass sich die Welt und die Meinungsbilder der Menschen polarisierten. Es werden häufig nur noch Gespräche in Schwarz und Weiß, ohne jegliche Graustufen, geführt. Die Menschen erhöhen sich und sehen ihre Meinung und Überzeugung als das einzig Richtige an, während die Meinungen und Überzeugungen von anderen, nicht selten moralisch, abgewertet werden. In diesem Kontext werden nicht selten Stereotypen und Vorurteile benutzt und geäußert, so dass standardmäßig die Linken auf die Rechten und zum Teil auch auf die Grünen schimpfen, da Nachhaltigkeit ihrer Meinung nach ein Elitenprojekt ist, das die „einfachen Menschen“ nicht mitnimmt. Die Rechten wiederum schimpfen auf die Linken, Grünen und Ausländer, da sie ihr konservatives Weltbild, das von dem Glauben an Könige und Diktatoren geprägt ist, verteidigen möchten, da alles Neue, erst einmal Veränderung bedeutet und diese auch von einem selbst verlangt. Veränderung, die sie nicht bereit sind mitzugehen. Die Omnivoren schimpfen auf die Veganer, da sie ihnen Meinungsmache und Besserwissertum vorwerfen, und die Veganer auf die Omnivoren, da sie Lebewesen ausbeuten und vermeintlich ignorant leben. Es wird immer weniger versucht, die Meinung der anderen zu verstehen, mit ihnen zu diskutieren und einen gangbaren Weg zu finden. Nein, der, der sich in die anderen versucht hineinzuversetzen und zu diskutieren und gangbare Wege zu finden, ist schon ein Verräter an der Sache und wird zum Feind stilisiert.
Es ist ermüdend, und ehrlich gesagt möchte ich nicht in einer Welt und mit Bekanntschaften leben, die nur von oben herab mit anderen reden, da sie die eigenen Wertvorstellungen nicht teilen. Ich mag es nicht, wenn sich die verschiedenen Gruppen auf ihre moralische Rösser schwingen, um auf ihnen in die Schlacht zu reiten, da dort nur Tod und Verderben warten.
Leben ist Veränderung und man muss sich darauf einlassen. Man muss seine moralischen Vorstellungen auch mal hinterfragen und an der Meinung von anderen reiben, ohne gleich feindselig oder abwertend aufzutreten. Nur so kommen die Gesellschaft, die Welt und man selbst voran.
Doch sich selbst zu hinterfragen und mit anderen, die nicht die gleiche Meinung haben, auf Augenhöhe zu diskutieren, ist unbequem und anstrengend und passt auch nicht mehr in unsere Unterhaltungsgesellschaft, in der wir uns immer und immer wieder bespaßen lassen.

In diesem Augenblick fällt mir ein, dass die meisten Menschen nicht gerne auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen und moralischen Leiter stehen, denn das kratzt bei vielen Menschen am Ego, denn sie wollen schließlich jemand sein, und so suchen sie sich zum Teil jemanden, dem es finanziell oder sozial schlechter geht und der sich darüber hinaus vermeintlich nicht wehren kann. So hetzen sie gegen Flüchtlinge, von Armut Betroffene oder Menschen, die ihren eigenen moralischen Ansprüchen nicht genügen, und treten verbal, wenn nicht gar physisch, nach ihnen, denn das ist häufig das einfachste Mittel, um zu denken, dass man etwas erreicht hat, denn dann ist man ja nicht der „letzte Arsch“. Diese Menschen setzen andere herab, da es der einfachste Weg ist, und der andere, der darin liegt, sich zu engagieren, sich einzubringen und sein Glück in sich selbst und seinen Weg zu finden, der schwierigere. Und der Mensch ist ein Lebewesen, das gerne vermeidet, schwierige Dinge zu tun, wenn es vermeintlich einfache Lösungen gibt.

Ich schließe meine Augen und denke, dass es schön wäre, wenn die Menschen nicht mehr in ihren Elfenbeintürmen säßen und ihre Egos streichelten. Wenn die Menschen wieder offener durch das Leben gingen und Gespräche auf Augenhöhe führten, denn dann und nur dann, könnte man sich selbst und die Welt zu einer besseren machen. Doch das ist nur eine Utopie. Eine Utopie, die wir vermutlich nie erreichen werden.
Schwermut schleicht sich in meine Seele und ich frage mich, warum ich mich nur so krampfhaft an meine Ideale klammere, wenn ich mir doch auch einfach nur ein moralisch hohes Ross und die zu ihm passende Kavallerie suchen bräuchte, um glücklich in den Untergang zu reiten. Warum quäle ich mich mit Gesprächen, Erörterungen und Selbstzweifeln, wenn die Ignoranz so viel mehr Freude verspricht?
Ich quäle mich, da ich nicht einfach auf andere Menschen, die ich meistens nicht wirklich kenne, von oben herab schauen möchte, sondern verstehen will, wie sie denken und die Welt, aus ihren Augen heraus, funktioniert. Doch dafür braucht man Kraft. Kraft, die ich immer weniger finde. Kraft, die mir fehlt und mich droht in eine Misanthropie stürzen zu lassen.

Published inVom Versuch nicht „verrückt“ zu werden