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Vom Versuch nicht „verrückt“ zu werden – Teil 26: Gewöhnung

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Es ist Abend und ich habe eine Kerze entzündet, die jetzt vor mir auf dem Esszimmertisch steht. Ich schaue auf die Kerze. Auf die Flamme, die sowohl Licht und Wärme spendet, als auch, wenn außer Kontrolle, heillose Zerstörung anrichten kann.
Ich komme zur Ruhe und frage mich, was für ein Leben ich gerade lebe und was mein Körper und mein Kopf mir sagen. Ich stelle fest, dass sich mit der Zeit viele negative Dinge in mein Leben eingeschlichen haben. Dinge, die mich anfänglich erschreckten. Dinge, die ich nicht als Teil von mir akzeptieren wollte. Doch mit der Zeit gewöhnte ich mich an sie und sie wurden zu einem Teil von mir.
Der zuckende linke Arm? Ich nehme ihn kaum noch wahr. Das Monster, die Dämonen und der Kobold in mir? An guten Tagen nehme ich sie kaum wahr und an schlechten Tagen sind sie einfach ein Teil meines Lebens und nichts Besonderes mehr. Die Angst, beobachtet und verfolgt zu werden? Immer noch da und ein konstanter Teil meines Lebens. Man gewöhnt sich an vieles und nimmt es dann nicht mehr bewusst wahr. Es ist halt so und man lebt damit, da es für einen normal ist.

Als mir dieser Gedanke bewusst wird, wird mir angst, denn Gewöhnung ist entweder der Beginn der Ignoranz oder der Resignation, und beides sind Dinge, die man nicht im Leben haben sollte, da man dann der Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit Tür und Tor öffnet, da man sie für normal hält. Man hat sich halt daran gewöhnt. Bei diesem Gedanken wird mir bewusst, dass Gewöhnung auch ein Stück weit Schutz sein kann. Man gewöhnt sich halt an Dinge, die man nicht ändern kann, um nicht an ihnen zu verzweifeln, zu zerbrechen oder verrückt zu werden.
Der Grund dafür ist, dass der Kampf um Veränderung immer Kraft kostet, und wenn man dabei Rückschlag um Rückschlag erleidet, sich bald, Enttäuschung, Resignation und Unverständnis in einem selbst breitmachen. Es sind Gefühle, die einen überwältigen, und da sie dem eigenen Weltbild zuwiderlaufen, auch dazu beitragen können, dass man sich von der Realität verabschiedet. In seinen Gedanken kann man ja immer die Welt nach seinen Ideen und Ängsten gestalten, wobei ich meistens erlebte, dass die Ängste die Oberhand gewannen.

Der Begriff der Gewöhnung hallt in meinen Gedanken nach. Ja, wir Menschen gewöhnen uns an vieles, auch an Ungerechtigkeiten, einfach weil es sich dadurch bequemer leben lässt.

Der Krieg in der Ukraine? Nichts Besonderes! Tagesgeschäft! Was haben wir damit zu tun?

Dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken? Was machen sie sich auch auf den Weg! Sie haben sowieso bei uns nichts verloren!

Dass sich das Klima erwärmt und die Umwelt zerstört wird? Was kann ich alleine schon tun? Das sind die Konzerne! Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen, man möchte ja auch noch leben!

Doch wie der Gewöhnung entkommen, ohne an den Herausforderungen des Lebens und der Welt kaputtzugehen? Ich zermartere mir den Kopf, doch mir möchte nicht wirklich eine Lösung einfallen. Nur ein Wort bleibt in meinem Kopf hängen: „Resilienz.“
Resilienz, als Widerstandsfähigkeit gegen alle Widrigkeiten des Lebens. Diese Widerstandsfähigkeit sollte man in sich fördern. Doch wie? Ich denke an mein Leben zurück und stelle fest, dass die Momente, in denen ich die größte Resilienz hatte, die waren, in denen ich mit mir selbst im Reinen war und nach meinen Überzeugungen lebte, ohne mich für irgendetwas oder irgendjemanden zu verbiegen. Abgesehen davon, vor allem in schwierigen Situationen, waren Familie und Freunde ein Quell meiner Resilienz. Familie und Freunde im persönlichen Kontakt, die einen unterstützen und darauf hinweisen, wenn man beginnt, falsch abzubiegen oder sonderlich zu werden. Dabei fällt mir auch auf, dass man in diesen Situationen auch immer bereit sein muss, konstruktive Kritik anzunehmen, anstatt sie als Kränkung zu empfinden. Man muss davon ausgehen, dass die Familie und Freunde einem nichts Böses wollen, da man sich sonst vielleicht noch schneller ins Abseits getrieben sieht und sich dort in seiner Misanthropie einrichtet und eingewöhnt.

Ich blase die Kerze aus, mache mich bettfertig und lege mich schließlich hin. Als ich so auf den Schlaf warte, nehme ich mir vor, mit meiner Familie und den noch wenigen verbleibenden Freunden über mein Leben, meine Gedanken und Gefühle zu sprechen und sie zu fragen, ob sie mir helfen können, dass ich meine gewohnte misanthropische Gefühlswelt wieder verlasse und wieder besser und aktiver lebe.

Dann kommt der Schlaf.

Published inVom Versuch nicht „verrückt“ zu werden