Es ist später Nachmittag und ich sitze an einer Straßenbahnhaltestelle und warte darauf, dass die Straßenbahn kommt, mit der ich zum Restaurant fahren möchte, in dem meine Freunde und ich mich einmal monatlich treffen. Während ich so dasitze, läuft am anderen Bahnsteig ein junges Mädchen, vielleicht 18 oder 19 Jahre alt, graziös auf und ab, während sie an einer Zigarette zieht, die sie zwischen Daumen und Mittelfinger hält. Schließlich schnipst sie den Zigarettenstummel auf den Bahnsteig, bevor sie eine Zigarettenschachtel aus ihrer Handtasche klaubt, ihr eine neue Zigarette entnimmt und weiter raucht. Schließlich kommt ein anderes Mädchen, ebenfalls eine Zigarette in der Hand. Die Mädchen umarmen sich, bevor sie sich auf die Wartebank setzen, wobei eines der Mädchen sich im Schneidersitz auf die Bank setzt.
Ich schaue zur Abfahrtsanzeige und stelle fest, dass meine Bahn ausfällt. Gut, halt zehn Minuten länger warten, bis die nächste Bahn kommt. Ich lasse meinen Blick wieder zu den Mädchen schweifen und sehe, dass noch ein junger Mann mit einem Sixpack Bier und zwei, drei Schnapsflaschen dazu gekommen ist. Der junge Mann bietet den Mädchen je eine Bierflasche an, die sie nehmen, wobei sie ihre Zigaretten wieder wegschnippen, den jungen Mann die Bierflaschen öffnen und die Kronkorken achtlos auf den Boden fallen lassen.
Während ich sie so beobachte, denke ich, wie achtlos sie doch mit ihrer Umwelt umgehen und ich überlege, wie es zu meiner Jugend war. Wobei mir bewusst wird, dass ich nie zu den „coolen Kids“ zählte, sondern eher meinen eigenen Weg ging. Meinen Weg, der wenig mit Unterhaltungs- oder Darstellungsvorstellungen meiner Altersgenossen zu tun hatte. Aber schon damals war es so, dass viele, die cool wirken wollten, die Welt als ihren Mülleimer betrachteten. Sei es, dass sie ihre Zigarettenstummel oder ihre Alkoholflaschen überall hinwarfen oder liegen ließen, sei es, dass sie mit Statussymbolen wie „dicken Autos“ oder den neusten Smartphones protzten. Mit Autos und Smartphones, die sie in ihrem Alter nicht wirklich brauchten und die sie sich zum Teil nicht wirklich leisten konnten. Es waren Statussymbole, für die sie ihr ganzes Geld ausgaben, obwohl sie es vielleicht lieber hätten sparen sollen. Vor allem bei den Autos, die mehr als nötig verbrauchten, wobei sie gerne auch „Geilheitsrunden“ drehten, um zu posen und von anderen beachtet zu werden. Doch das Erschreckende daran war, dass sie damit auch noch Erfolg hatten und nicht selten, mit ihrem Verhalten, bei jungen Mädchen landeten oder von Alterskameraden beneidet wurden. Aber wofür? Was sagte es über ihre Persönlichkeit aus? Waren das wirklich die Dinge, die wichtig im Leben sind? Was ist überhaupt wichtig im Leben?
Viele meinen, Geld! Noch mehr meinen materiellen und sozialen Status. Und wenn man wenig von beiden besitzt, wird gegebenenfalls mit krimineller Energie versucht, das zu ändern, wenn man denn dazugehören und etwas darstellen möchte. Wobei, ganz so stimmt das nicht. Es gibt wirklich arme Menschen, die kaum etwas zum Leben haben und sich deswegen auf die ein oder andere Art behelfen müssen, um über die Runden zu kommen. Doch die meiste kriminelle Energie geht von jenen aus, die einen bestimmten Status erreichen oder halten wollen. Von denen, die Ruhm, Macht, Geld oder Prestige haben möchten. Doch was dagegen tun? Sicherlich ist es nicht hilfreich, wenn Menschen ihren materiellen Wohlstand zelebrieren und anderen einreden, dass sie nur ein gutes, lebenswertes Leben leben können, wenn sie es wie sie zelebrieren. Wo bleibt die Bescheidenheit? Wo bleibt, sparsam zu leben und wenn man Geld übrig hat, es in nachhaltige Ideen zu investieren? Einfach zu versuchen etwas Gutes zu tun, ohne dass man es auch gleich wieder herauskehrt, um zu zeigen, wie „gut“ man ist. Ach, das Streben nach Anerkennung nervt einfach! Wobei es sicherlich einige gibt, die versuchen Gutes zu tun, ohne dass sie es herauszukehren, sondern einfach, weil es das richtige ist. Nur wer strebt schon nach solch einem Leben? Die meisten nicht! Sie wollen entweder für ihren erreichten Materialismus oder für ihre „guten Taten“ im Rampenlicht stehen.
Ich schaue wieder bewusst zum anderen Bahnsteig. Die Gruppe junger Menschen ist weiter angewachsen und zu dem Müll um ihre Füße gesellt sich jetzt auch Aluminiumfolie von Yufkas, Papier von Dönern und noch aller möglicher anderer Unrat, obwohl doch fünf Meter weiter ein Mülleimer steht. Eigentlich müsste man etwas sagen! Eigentlich müsste ich etwas sagen! Doch ich sagte schon zu oft etwas, und habe dafür sowohl verbale als auch nonverbale Gewalt geerntet.
Ich denke wieder zurück an meine Kindheit. Mir wird bewusst, dass ich auch einmal „cool“ sein und dazugehören wollte. So fing ich früh an zu rauchen. Es war die Zeit, als man an den Zigarettenautomaten noch mit fünf Markstücken, ohne Alterskontrolle, Zigaretten erwerben konnte. Doch nicht nur das. Ich erinnere mich auch daran, wie ich früh Alkohol trank und sogar mit vierzehn, einmal Sekt in eine Trinkflasche umfüllte und mit auf einen Schulausflug nahm. Ja, die Hauptschule war eine anstrengende und unbedachte Zeit, die zum Glück mit fünfzehn und ohne große körperlichen Schäden endete. Es war eine Zeit, in der ich noch wenig wusste und mit diesem wenigen versuchte meinen Platz in unserer Gesellschaft zu finden.
Plötzlich höre ich Rufe aus der Gruppe, zu der immer wieder mein Blick wandert. Sie brüllen rassistische Dinge einem Mann hinterher, der eine Kippa auf dem Kopf trägt. Einer der jungen Männer ruft sogar „Heil Hitler“ und zeigt den Hitlergruß.
Jetzt ist doch meine Schmerzgrenze erreicht und ich rufe zu der Gruppe junger Menschen hinüber: „Eh, geht es noch? Wisst ihr überhaupt, was im Dritten Reich passiert ist?“ Worauf einer zurückruft: „Ja, wir hatten unser Land für uns und der ganze menschliche Abschaum wurde beseitigt. Nur leider hat es Hitler nicht geschafft, sein begonnenes Werk, zu Ende zu bringen.“ Ich bin schockiert und rufe zurück: „Weißt du, wie Geschichtsvergessen das ist? Es wurden Millionen Menschen getötet, einfach, weil sie nicht dem Bild des arischen Menschen entsprachen. Weißt du überhaupt, wie viele Sinti, Roma, Juden, Homosexuelle und körperlich und geistig eingeschränkte Menschen, getötet wurden?“ „Na und, komm mir jetzt ja nicht mit den Schuldgedanken. Das war vor unserer Zeit und du siehst doch, was die Juden in Palästina tun. Sie unterdrücken auch andere Menschen und ermorden sie!“ „Stimmt, es sterben Palästinenser in sinnloser Gewalt, aber die Gewalt geht von beiden Seiten aus, aber nicht von allen Menschen beider Seiten. Man muss da differenzieren.“ „Ja, ja, du Judenversteher. Leute wie du sind die schlimmsten. Ihr rechtfertigt auch Gewalt gegen hilflose Menschen.“ „Nein, ich rechtfertige keine Gewalt gegen hilflose Menschen. Ja, Israel geht relativ rücksichtslos gegen Palästinenser vor, doch heißt das nicht, dass alle Juden dafür verantwortlich sind. Ferner hat es einen Grund, dass Israel jetzt Krieg führt, es gab auch einen guten Grund, dass sich Israel gegründet hat. Der Grund für den aktuellen Überfall ist der Angriff von Hamaskämpfern auf Zivilisten in Israel und der Grund für die Gründung Israels, ist, dass die Juden im Dritten Reich, der Sowjetunion und vielen anderen Ländern verfolgt und ausgegrenzt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten sie nicht noch einmal, eine Schoa erleben.“ „Ja, und dann vertreiben sie die Palästinenser aus ihrem angestammten Gebiet und das soll dann richtig sein?“ „Nein, die Vertreibung und die, nach der Anerkennung des Staates Israel begangen völkerrechtswidrigen Siedlungen im Westjordanland verteidige ich nicht. Es hätte ein Land geben sollen, in dem sowohl Palästinenser als auch Juden, in Frieden zusammenleben, denn seien wir mal ehrlich, sowohl das Judentum, das Christentum, als auch der Islam haben historische Wurzeln in Jerusalem. Wobei es zuerst das Judentum gab, dann das Christentum und schließlich den Islam. Das Gebiet war schon Jahrhunderte eine Gegend, in der sich Religionen und die von ihnen dominierten Ländern, verdrängten, sei es durch Kriege oder der Beanspruchung bestimmter Gegenden durch die Androhung von Gewalt. Nicht selten untersagten die führenden Religionen andere Religion oder töteten gar Menschen anderen Glaubens. Wie weit möchtest du in der Geschichte zurückgehen, um zu beurteilen, wer jetzt, wen vertrieben und unterdrückt hat?“ „Ach, du hast doch keine Ahnung.“ ist alles, was der junge Mann noch ruft, bevor meine Bahn kommt und ich einsteige.
Aus dem Fenster der Bahn sehe ich gerade noch, wie Polizisten kommen und sich zu der Gruppe junger Menschen stellen. Scheinbar hat jemand sie gerufen.
Während ich in der Bahn sitze, denke ich an meine Jugend zurück. War ich auch einmal so? Ja, zwei, drei Jahre war ich dem, was ich da gesehen habe, ziemlich nahe. Es war die Zeit, als ich zwischen 15 und 18 Jahr alt war, wobei ich da eher nationalistisch, als antisemitisch oder gar rassistisch eingestellt, war.
Doch wie lautet ein schöner Spruch: „Wer mit siebzehn Nationalist ist, den hat sein Umfeld geprägt. Wer mit siebenundzwanzig Nationalist ist, hat nie angefangen, selbstständig zu denken und Empathie zu entwickeln.“ und was Rassisten und Antisemiten angeht, so haben sie weder Herz noch Verstand, denn sonst verstünden sie, dass es bei Menschen keine Rassen gibt und wir mit allen Pflanzen und Tieren, wozu auch die Menschen zählen, gemeinsam auf dieser einen Welt leben. Ferner ist auch Religion kein Grund zu hassen oder zu verurteilen, solange sie nicht anderen aufgezwungen oder anderen Lebewesen ihn ihrem Namen Schaden zugefügt wird.
Ach, ist ein Leben, das man ja nur einmal hier verlebt, wirklich wert, mit Hass und Wut gefüllt zu werden? Schätzt man sein eigenes Leben wert, wenn man sich immer nur auf Schwarz und Weiß, auf richtig und falsch zurückzieht? Oder sollte man doch versuchen, die Welt zu verstehen, auch wenn es keine einfachen Antworten gibt, da die Welt eben bunt, oder zumindest in verschiedenen Facetten grau, ist?