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Du lebst nur einmal – Teil 12: Der Kater

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Auf dem Rückweg von meiner Wanderung beschließe ich noch meinen Eltern und dem Haus, in dem ich eineinhalb Dekaden meines Lebens verbrachte, einen Besuch abzustatten. Als ich das Haus erreiche, ist es bereits später Nachmittag, und als ich klinge und mir die Haustür geöffnet wird, sitzt schon der Kater in der Tür und schaut mich missmutig an. Er hat mir scheinbar immer noch nicht verziehen, dass ich vor vier Jahren ausgezogen bin und ihn hier zurückließ, aber eine Wohnung in der Stadt, ohne Freigang, wäre für ihn, der immer Freigänger war und seinen eigenen Kopf hatte, nichts gewesen.
Ich bücke mich und streichle ihn, wobei er nach einer Weile anfängt zu schnurren und sich auch am Bauch kraulen zu lassen. Ich hebe ihn hoch und betrete mit ihm das Haus, wobei ich ihn weiter streichle. Ich erkundige mich kurz bei meinen Eltern, ob es etwas Neues gibt und als sie meinen, dass es nichts gäbe, beschließe ich die Zeit, die Stunde, bis der nächste Zug kommt, mit dem ich nach Hause komme, mit dem Kater zu verbringen.
Den Kater so auf meinen Schoß, überlege ich, wie lange der Kater schon ein Familienmitglied ist. Ich komme auf fünfzehn Jahre, was ihn sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein lässt. Genau wissen wir es nicht, da wir ihn aus dem Tierheim holten und er da ein oder zwei Jahre alt war. Aus dem Tierheim, in das er mehrmals zurückgebracht wurde, wie wir später erfahren sollten.
Ich denke an die ersten Tage zurück, als er bei uns einzog. Er war verängstigt und versteckte sich gleich am ersten Tag unter meinem Bett. Na gut, neue Umgebung. Zur Eingewöhnung sollte er die ersten vierzehn Tage drinnenbleiben, sodass wir ihm eine Futterstelle und das Katzenklo im Haus einrichteten und dann darauf hofften, dass er sich eingewöhnte. Es wurden zwei unruhige Wochen, zum einen, da er im Tierheim oder bei einem seiner Ausflüge gelernt hatte, wie man Türen öffnet, sodass wir die Außentüren zuschließen mussten und nachts von Knallgeräuschen aufwachten, wenn er im Haus an den Türen hochsprang und sich mit seinen Vorderpfoten an die Türklinken hängte, um die Türen zu öffnen und zum anderen, dass er nach zwei Tagen bei uns zu fressen aufhörte und stark zu husten anfing, worauf meine Mutter mit ihm zu Tierarzt ging. Der Tierarzt stellte eine Lungenentzündung und einen Fremdkörper in der Lunge fest und meinte, dass er ihm ein paar Medikamente gäbe und man dann nur hoffen könne, dass er wieder anfinge, zu fressen und sich zu erholen. Sollte er nicht von sich selbst aus wieder anfangen zu fressen, bliebe nichts anderes übrig, als ihn einzuschläfern.
Die Behandlung kostete meine Eltern knapp vierhundert Euro, was für sie damals eine Menge Geld war, aber wie viel ist ein Leben wert? Vor allem im Rückblick betrachtet ist für mich das Leben des Katers und seine Gesellschaft unbezahlbar. Meine Eltern brachten den Kater also nach dem Tierarztbesuch wieder nach Hause und ich holte regelmäßig gut verdauliche Kost im Supermarkt, setzte mich zu ihm hin und streichelte ihn, wobei er dann meistens zu Fressen anfing. Zu der Zeit fraß er nur, wenn ich neben ihn saß und ihn streichelte, so als bräuchte er Zutraulichkeit und Vertrauen. Zu dieser Zeit erfuhren wir auch, als mein Vater beim Tierheim nachfragte, woher der Fremdkörper in der Lunge des Katers kommen könnte, da wir wussten, dass er sich ihn definitiv nicht bei uns zugezogen hatte, dass der Kater bereits dreimal vermittelt worden war, wobei er zweimal weglief, warum er zurückgebracht wurde und einmal die neue „Besitzerin“ biss, weswegen er auch wiederum ins Tierheim zurückgebracht wurde, sodass wir die vierte oder fünfte Familie für den Kater, in seinen eins bis zwei Lebensjahren, waren, je nachdem ob er als wilder Kater oder in eine Familie geboren wurde, bevor er ins Tierheim kam.
In der Anfangszeit biss er auch nach meinen Eltern und mir, wenn wir zu aufdringlich wurden, da wir ihm noch fremd waren, doch mit Ruhe und Geduld gewöhnte er sich an uns, erholte sich von seiner Lungenentzündung und wurde ein fester Bestandteil unserer Familie.
Es folgten viele schöne Jahre, in denen der Kater mir Trost spendete, wenn es mir einmal nicht so gut ging, oder er mir bei der Gartenarbeit geholfen hat, wobei mir eine Szene ganz präsent ist, als wäre sie gerade gestern geschehen. Vor etlichen Jahren saß ich an unserem Gartenteich und jätete Unkraut, während der Kater um mich herum durch die Pflanzen streifte. Plötzlich fühlte ich, als ich nach vorn gebückt dasaß, Pfoten auf meinem Rücken und dann saß plötzlich der Kater auf meiner linken Schulter. Ich war überrascht, denn das war das erste Mal, dass er sich zu mir auf die Schulter setzte, wobei es auch, wenn ich zurückdenke, das einzige Mal war, was wahrscheinlich daran liegt, wie die Situation weiterging. Ich drehte mich nämlich zum Kater, wobei meine linke Wange sein Fell streifte, und meinte, dass das ungünstig sei, da ich so nicht weiter Unkraut jäten könne. Daraufhin sah mich der Kater noch einen Moment an, bevor er von meiner Schulter, vor mich, sprang und in einer vor mir im Erdboden eingelassenen Wanne landete, in der Rohrkolben wuchsen und das Wasser stand. Er wurde richtig nass, stieg triefend aus der Wanne, schüttelte sich und sah mich vorwurfsvoll an, so als wäre ich an seiner Misere Schuld gewesen. Doch ich sah ihn nur an, lachte und meinte, dass er halt aufmerksamer sein müsste.
Eine andere Sache, an die ich mich noch genau erinnere, ist, dass er eine Zeit lang immer morgens, wenn ich das Haus verließ, vor dem Haus wartete und mir auf dem Weg zum Bahnhof hinterherlief. Wobei er sich zum Teil versteckte. Einmal lief er mir den ganzen Kilometer bis zum Bahnhof hinterher und als ich ihn entdeckte, drehte ich um, nahm ihn und ging mit ihm nach Hause, da ich Angst hatte, dass er sonst den Weg zurück nicht mehr fände.
Doch die Zeit verging und die Lebenswege änderten sich. So kam es schließlich, dass es für mich Zeit wurde, auszuziehen. In den Tagen vor meinem Auszug verbrachte ich viel Zeit mit dem Kater und er kam mehr als sonst zu mir, so als merkte er, dass sich etwas Grundlegendes änderte. Dann war ich weg und ich hörte von meinen Eltern, dass die Tage nach meinem Auszug der Kater immer in mein altes Zimmer ging und nach mir schrie. Scheinbar vermisste er mich. Die ersten Male, die ich danach zu Besuch kam, strafte er mich mit Missachtung, so nach dem Motto, wie konntest du mich nur hier zurücklassen, doch dieses Verhalten war mir schon bekannt, denn genauso strafte er meine Eltern mit Missachtung, wenn sie einmal längere Zeit im Urlaub gewesen sind.
Dann kam die Coronazeit und ich bekam mit, wie die Menschen die Tierheime stürmten, um sich „Haustiere“ zuzulegen. Wobei ich bei vielen merkte, dass es keine wohlüberlegte Entscheidung ist, da sie sich zum einen keine Gedanken darüber machten, das mit einem tierischen Gefährten auch Verantwortung einhergeht und sie immer nur ihre aktuelle Lage beurteilten und nicht, was sie mit ihren tierischen Gefährten anfangen sollten und wollten, wenn die Coronapandemie einmal vorbei ist, sie wieder mehr arbeiten müssten oder mehrere Wochen in den Urlaub fliegen wollten. Hatte ich denn nicht selbst mit unserem Familienkater erlebt, dass die Integration schwierig und auch kostenintensiv sein kann? Dass es immer einen brauchte, der für ihn die Dose öffnet? Ja, das hatte ich, doch die Menschen waren wie bei vielen Dingen einfach kurzsichtig, schauten auf den scheinbaren kurzfristigen „Nutzen“ und gingen Verantwortungen ein, die sie nicht bereit waren über einen längeren Zeitraum zu tragen, wie man an den Tierheimen merkte, die mit Ende der Coronalockdowns kaum noch Tiere, wegen Überfüllung, aufnehmen konnten. Ich sehe die ganzen tierischen Gefährten vor mir, die auch Gefühle haben und die schwer von uns Menschen enttäuscht sein müssen, und ich beginne die Kurzsichtigkeit der Menschen zu verabscheuen.

Ich schaue auf meine Uhr und stelle fest, dass ich dringend aufbrechen muss, wenn ich meinen Zug noch bekommen möchte. So verabschiede ich mich vom Kater und meinen Eltern und mache mich auf den Weg zum Bahnhof.
Auf dem Weg zum Bahnhof denke ich bei mir, dass ein Leben, in dem man Tiere, sein es die sogenannten „Haustiere“ oder „Nutztiere“, nur für seinen eigenen Nutzen ausbeutet und sein persönliches Wohl über ihres stellt, nicht erfüllend sein kann. Ein Leben kann doch nur erfüllend sein, wenn man sich als Teil der Natur und von allem Leben begreift und versucht, möglichst wenig Schaden anzurichten. Oder etwas nicht?

Published inErzählungen