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Du lebst nur einmal – Teil 13: Sperrmüll

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Mit Beginn der Arbeitswoche nimmt mich wieder die Arbeit so in Beschlag, dass ich kaum Zeit habe, meine Gedanken frei schweifen zu lassen. Sie sind voll und ganz damit beschäftigt, auf der Arbeit Probleme zu lösen. Die Zeit abseits meiner Arbeit und meine übrig gebliebene Gedankenkapazität verwende ich dafür, die häuslichen Pflichten zu erfüllen, bevor ich gegen acht Uhr abends übermüdet ins Bett falle.
Doch diese Routine wird unterbrochen, als ich Mittwochnachmittag nach Hause komme und in meinem Wohngebiet überall kubikmeterweise Sperrmüll stehen sehe. Als ich diese Reste unserer Wohlstandsgesellschaft sehe, beginnen meine Gedanken zu rumoren und selbst meine Alltagsroutine, die mich unter der Woche funktionieren lässt, schafft es nicht mehr, sie zum Verstummen zu bringen. Der Grund dafür ist, dass etliche Dinge, die dort auf den vielen Haufen liegen, noch nutzbar wären, aber aussortiert wurden, da sie scheinbar den Geschmack der Besitzer nicht mehr treffen. Doch nicht nur das, bei vielen Dingen, die sich auf den Haufen befinden, sieht man, dass sie aus einer Laune oder einem Trend heraus gekauft wurden und nicht mit der Absicht, sie über einen längeren Zeitraum zu nutzen. Es sind teilweise Möbel mit kurzer Lebensdauer, die möglichst billig produziert und bei deren Konstruktion bereits der schnelle Verschleiß eingeplant wurde. Es sind Dinge, die die Menschen immer und immer wieder kaufen sollen, um so den Konsum hochzuhalten.
Als ich so die Haufen sehe, wird mir bewusst, dass die Zeit, in der man Möbel fürs Leben erwarb und sie anschließend noch vererbte, vorbei ist. „Style“ geht vor „Funktionalität“, „Preis“ vor „Langlebigkeit“ und „wegwerfen“ vor „aufbereiten“. Aussehen ist vielen von uns wichtiger als Funktionalität, was man immer wieder daran sieht, dass Menschen, auch bei Kleidung, immer wieder Dinge kaufen, die sie eigentlich nicht brauchen, da sie von den entsprechenden Dingen, genügend haben, sein es zehn Paar Schuhe oder Hosen. Bei den Möbeln ist es dann halt so, dass das entsprechende Stück, das nicht mehr zum „Lifestyle“ passt, entsorgt und sich ein neues gekauft wird.
Genauso sieht man, dass auch bei Möbeln die „Geiz-ist-Geil“ Mentalität Einzug gehalten hat, sodass viele Menschen ungeeignete Materialien und nicht optimale Verarbeitung in Kauf nehmen, Hauptsache es ist billig und passt zur Wohnung. Schließlich kann man sich bei den geringen Kosten, alle zehn bis zwanzig Jahre, wenn die Möbel denn überhaupt so lange halten, neue kaufen. Auf dem Sperrmüll sehe ich als Vertreter dieser Art viele Kunststoffstühle, die schon beim Anschauen zusammenbrechen.
Genauso sieht es mit dem Wegwerfen vor Aufbereiten aus, denn als ich mir die Sperrmüllhaufen genauer ansehe, fallen mir zum Teil gute Massivholzmöbel auf. Möbel, von denen vielleicht die Farbe abblätterte, die man aber nur abschleifen und neu streichen müsste. Doch nicht nur das. Mit etwas Mühe und handwerklichem Geschick könnte man aus einigen kaputten Möbeln gute Bretter heraussägen und daraus noch Regale oder sonstige Dinge bauen. Doch wer macht das heute noch so, wenn das nächste Möbelgeschäft nur ein paar Klicks entfernt ist und alles bis zur Haustür geliefert wird?

Ich komme bei mir zu Hause an und lege meine Arbeitssachen ab. Eigentlich möchte ich nicht mehr raus. Zu sehr stören mich die „Müllhaufen“ unserer Wohlstandsgesellschaft, doch dann sehe ich meinen Einkaufszettel und begebe mich doch noch zum Lebensmitteleinkauf, wobei ich wieder an vielen Sperrmüllhaufen vorbeilaufe und mir mein Herz immer stärker zu bluten anfängt. Während ich so laufe, denke ich zurück, zurück an meine Kindheit und daran, wie meine Eltern häufig aufs Geld achten mussten, doch wie sie trotzdem dafür Sorge trugen, dass wir ordentliche Möbel und langlebige Sachen hatten. Zum Teil wurden gute gebrauchte Dinge gekauft und wenn es da nichts Passendes gab, langlebige gut verarbeitete, auch wenn sie etwas teurer sein sollten. Notfalls wurde halt auf den Kauf gespart und ein, zwei Jahre nicht in den Urlaub gefahren. Ich gebe zu, als Kind verstand ich das auch noch nicht wirklich, denn man vergleicht sich mit anderen und im Vergleich zu meinen Mitschülern hatten wir „alte“ und „wenige“ Sachen. Doch mit der Zeit und der damit einhergehenden Erweiterung meines Horizonts und der Beschäftigung mit einem nachhaltigen Lebensstil verstand ich, dass das Kaufverhalten meiner Eltern das Richtige war. So hatten wir viele gebrauchte Möbel, die dafür aber aus Massivholz und extrem langlebig waren. Selbst jetzt habe ich in meiner Wohnung noch Möbel, die älter als ich sind und die sicherlich noch einige Jahrzehnte, wenn kein Unglück passiert, meine Wohnung zieren werden.

Ich erreiche den Supermarkt und kaufe mit meinem Einkaufszettel ein. Einkaufszettel, auch so ein Ding, das einem helfen kann, nicht übermäßig zu konsumieren, und um keine Dinge zu kaufen, die man nicht wirklich braucht, und die eventuell später ungenutzt oder unverbraucht im Müll landeten.

Auf dem Rückweg vom Einkaufen wandern meine Gedanken wieder zurück in meine Jugend und daran, was einige Klassenkameraden sagten und taten, als Sperrmüllsammlung war. Meine Klassenkameraden störte es, dass Polen, Rumänen und einige andere Menschen, den Sperrmüll nach noch guten Dingen durchsuchten, die sie vielleicht noch nutzen könnten und so schnitten sie mit Absicht bei Elektrogeräten, die eigentlich noch funktionierten, die Netzkabel ab oder traten sie, genauso wie Möbel, die noch halbwegs gut waren, kaputt, damit ja keiner sie mehr verwenden könnte. Sie begründeten ihr Verhalten damit, dass sie selbst die Dinge nicht mehr brauchten, sich aber keine „Asozialen“ auf ihre Kosten bereichern sollten. Ich verstand schon damals das Verhalten nicht, aber ich schwieg, um keinen Streit mit meinen Freunden zu bekommen. Denn wo bereicherten sich denn die Sammler auf ihren Kosten? Sie hatten ja schließlich die Geräte aussortiert, nicht weiterverkauft und als „Müll“ herausgestellt. Warum freuten sie sich nicht, wenn noch jemand Verwendung dafür hatte? Wenn ihre Gegenstände noch ein zweites Leben hätten und nicht einfach nur entsorgt würden?
Heute, rückblickend, denke ich, dass sie einfach andere Menschen haben wollten, auf die sie herunterschauen konnten und denen sie nichts gönnten. Genauso wie viele AFD-Wähler heute „fremden“ Menschen nichts gönnen, sondern häufig nur selbst haben und ihren „Wohlstand“ halten wollen. Wobei man an den Sperrmüllhaufen sieht, dass Wohlstand für viele „Konsum“ bedeutet. Sie möchten, wie meine ehemaligen Klassenkameraden, nicht, dass andere ihnen etwas „wegnehmen“ selbst wenn es nur ihr „Wohlstandmüll“ ist. Dann doch lieber alles in die Müllpresse.
Als mir das Wort „Müllpresse“ durch den Kopf geistert, muss ich an die ersten beiden Jahre der Coronapandemie zurückdenken und daran, wie viel der Sekundärbrennstoff „Altholz“ auf einmal kostete. Der Preis, den die Altholzverbrennungsanlagen in den Jahren vor und den Jahren nach der Pandemie zahlen mussten, war deutlich höher, als in den beiden Jahren, denn da bekam sie sogar Geld dafür, ihn zu verbrennen. Der Grund dafür war, dass während der Coronapandemie viele zu Hause saßen und nicht in den Urlaub fahren oder fliegen konnten. Das Geld, das sie dadurch sparten, verwendeten sie häufig darauf, die Möbel und Küchen bei ihnen zu Hause zu erneuern, auch wenn sie noch gut nutzbar waren, und so wanderten die Möbel auf den Sperrmüll und nicht selten in die Schredder, die Holzschnitzel aus ihnen machten, die anschließend nur noch thermisch verwertet, also verbrannt, werden konnten. Und an dieser Stelle griff die Marktwirtschaft, denn dort, wo ein Überangebot besteht, fallen die Preise und da das Altholz entsorgt werden musste, mussten die Entsorger die thermischen Verwerter dafür bezahlen.

Ich erreiche meine Wohnung und beschließe, sie an diesem Tag nicht mehr zu verlassen, um mein Unverständnis und meine Gedanken nicht weiter zu befeuern. Doch nicht nur das, ich beschließe auch, noch sorgfältiger mit den Dingen, die ich besitze und kaufe, umzugehen und diese so lange wie möglich zu nutzen, auch um den Preis, nicht „up-to-date“ zu sein. Wobei „up-to-date“ war ich ja noch nie wirklich.
Bei dem Wort „up-to-date“ fällt mir auf, dass sich zwei konträre Lebensphilosophien in ihm treffen, die eine, deren Anhänger etwas darstellen und die andere, deren Anhänger möglichst wenig Schaden in ihrem Leben anrichten wollen. Dabei kommt für mich nur die Lebensphilosophie des geringsten Schadens in Betracht. Doch wenn ich mich in unsere Gesellschaft umsehe und wie ich besonders beim Sperrmüll sah, so geht es vielen nur darum, etwas darzustellen und das, was ich beängstigend finde, ist, dass sie dafür wirklich Anerkennung bekommen, denn schließlich zählt in unserer Gesellschaft häufiger der „Schein“, also das, was man besitzt, mehr als das „Sein“, also der, der man wirklich ist.

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