Ich muss raus. Erst ein Stück laufen, um meinen Frust und meiner Wut etwas Luft zu verschaffen, und um dann mich irgendwo hinzusetzen, um wieder etwas zur Ruhe zu kommen. So verlasse ich meine Wohnung und schreite kräftig aus, wobei mich meine Schritte wie von selbst an den Rand der Stadt, an einen See führen. An dem See stehen mehrere Sitzbänke, von denen ich auf einer Platz nehme und meinen Blick schweifen lasse. Langsam beruhigt sich mein in Wallung geratenes Blut und ich fange an nachzudenken.
Was ist die Ursache für meine Gemütserregung? Der Grund dafür ist, dass ich mal wieder Streit mit meinem Vater hatte. Soweit ich zurückdenken kann, merkte ich immer und immer wieder, dass wir ganz unterschiedliche Charakter haben und ich eine andere Einstellung zum Leben, als er. So verfolgte mich schon seit meiner Jugend sein Ausspruch: „Du lebst nur einmal!“, womit er mich dazu anhalten wollte, bestimmte Dinge zu tun, von denen ich bereits seit meiner Jugend nicht mehr viel hielt.
Er benutzte den Spruch beispielsweise, um mich dazu anzuhalten, doch endlich einmal eine Reise, am besten eine Flugreise in ferne Gefilde, zu machen, mehr auf Feste zu gehen und so weiter. Manchmal habe ich auch den Eindruck, dass er möchte, dass ich das Leben lebe, das er in seiner Jugend und seinem jungen erwachsenen Leben nicht leben konnte und für das er mittlerweile schon fast zu alt ist. Doch bei den Dingen, die ich seiner Meinung nach tun soll, handelt es sich um Dinge, die ich schon seit meiner Jugend, nur noch im geringen Maße und wenn, ganz bewusst tue. Es gab den Zeitpunkt in meinem Leben, in dem ich meinen Horizont über das Lesen von Reportagen und Berichten so weit erweitert hatte, dass ich nicht mehr einfach blindlings konsumieren und ignorant leben konnte, da ich die zerstörerischen Eigenschaften dieses Konsums nicht mehr auszublenden in der Lage gewesen bin. Wobei auch Reisen für mich zum Konsum gehörten, da der durchschnittliche Reisende deutlich mehr Ressourcen verbraucht, als einer, der lokal seine Freizeit und seinen Urlaub verbringt und das auch schon ohne die Flugreisen, die bei vielen Reisen noch obendrauf kommen. Doch solche Argumente ließ mein Vater nicht gelten. Auf die Erwiderungen bezüglich des Zerstörungspotenzials des Konsums kamen dann Antworten wie: „Einer allein macht keinen Unterschied.“ Worauf ich meistens antwortete: „Aber einer muss anfangen und zeigen, dass man auch ohne übermäßigen Konsum gut und glücklich leben kann.“ So gab dann meistens ein Wort das andere, bis schließlich, wenn meinem Vater die Argumente ausgingen und der Satz kam: „Du lebst aber nur einmal.“ Der Satz, mit dem er zum Ausdruck brachte, dass man, um sein eigenes Leben zu bereichern und auszukosten, auch fahrlässig die Umwelt in Mitleidenschaft ziehen kann. Wobei er sich das vielleicht nicht so bewusst machte. Doch die Aussage brachte für mich auch immer wieder zum Ausdruck, dass mein Vater, wie so viele Menschen in unserer Gesellschaft, meinte, dass der persönliche Konsum, der Genuss und der damit vermeintlich einhergehende Wohlstand des eigenen Lebens, über die Unversehrtheit der Umwelt, das Leben von Tieren und das der nachfolgenden Generationen geht. Folgte ich seinen Argumenten, so sollte ich ignorieren, dass sich die durch uns verursachten Umweltzerstörungen aufsummierten und wir irgendwann Kipppunkte erreichten, ab denen wir nicht mehr glücklich und gesund leben könnten. Nein, so ignorant kann und möchte ich nicht sein!
Ich denke weiter nach und mir fällt auf, dass man den Satz: „Du lebst nur einmal.“, der mich schon mein ganzes Leben lang verfolgt, auch von der anderen, nicht auf sich selbst bezogenen Seite, sondern von einer altruistischen her, denken kann. Man könnte auch nach dem Motto leben: „Du lebst nur einmal, also hinterlasse die Welt als einen besseren Ort, als du sie vorgefunden hast. Versuche im Kleinen sie besser zu machen, auch wenn es dir persönlich, scheinbar keinen Nutzen bringt.“ Doch das tun die wenigsten Menschen, wobei man ja gerade nach dieser Weise leben sollte, oder?
Während ich so nachdenke, setzte die Dämmerung ein und ich beschließe mich auf den Heimweg zu machen. Nachhause zu gehen und die kommenden Tage noch besser zu versuchen, mein Leben so zu leben, wie man es tun sollte, da man nur einmal lebt. Mir dabei bewusst zu machen, was ein Leben ausmacht, das man nur einmal lebt.