Ich wache auf. Es ist kurz nach fünf Uhr morgens und ich habe ausgeschlafen. Man mag es kaum glauben, doch bin ich seit meiner Ausbildung Frühaufsteher und über mehrere Dekaden hat sich die Aufstehzeit in meinen Biorhythmus eingebrannt.
Ich stehe auf, kleide mich an und öffne die Rollläden.
Ich blicke aus meinem Wohnzimmerfenster hinaus und sehe am Rand des Topfuntersetzers, den ich vom Frühling bis Herbst immer mit Wasser als Tränke für Insekten und Vögel stehen habe, eine Weinbergschnecke sitzen. Es sieht fast so aus, als würde sie sich waschen. Langsam hebt und senkt sie ihren Körper auf die Wasseroberfläche und lässt sich dabei nicht stören.
Ich mache mir etwas zum Frühstück und während ich mein Frühstück verzehre, beobachte ich weiter die Schnecke.
Mit der Schnecke im Blick denke ich, dass für sie und mich die Morgenstunden die schönste Zeit des Tages sind, vor allem am Wochenende, da die meisten Menschen so Früh noch nicht unterwegs sind. Es ist ruhig und erholsam, noch kein Schreien, kaum Verkehrslärm und auch nicht die Hitze des Tages, die einem in den Sommermonaten mehr und mehr zu schaffen macht. An und für sich ist der Morgen eine schöne Zeit.
Doch während ich die Schnecke so beobachte, schweifen meine Gedanken ab. Ich denke zurück an viele Unternehmungen, die ich als Jugendlicher und junger Erwachsener mit Freunden unternehmen wollte, wobei häufig die Unternehmungen scheiterten, die am Wochenende vor 12 Uhr stattfinden sollten, selbst wenn die Freunde vorher zusagten. Es war dann nämlich nicht selten so, dass sie nicht auftauchten und meistens auch nicht mal mehr dazu in der Lage waren, eine Nachricht der Absage zu schreiben. Nicht selten war Alkohol der Grund dafür, sie tranken am Abend zuvor zu viel und am nächsten Morgen hatten sie dann entweder einen Kater oder waren einfach nur Schlapp und Lustlos.
Ich konnte es nicht verstehen, wie konnte man sich nur so gehen lassen, dass man Verabredungen ohne Nachricht ausfallen ließ und dann, was nicht selten vorkam, später so tat, als sei nichts gewesen?
Meine Gedanken bleiben am Alkohol hängen. Dem Alkohol, unserer legalen gesellschaftlichen Droge, mit dem ich mehr oder weniger seitdem ich fünfzehn war, auf Kriegsfuß stehe. Viel zu häufig, selbst in jungen Jahren, habe ich seine zerstörerische Wirkungen gesehen und so manche Freundschaft ist an ihm zerbrochen und so mancher Bekannte an ihm zugrunde gegangen. So zerbrachen die Freundschaften daran, dass einige der Bekannten, die gerne mal einen tranken, mit der Zeit immer unzuverlässiger wurden. Sie ließen Verabredungen ausfallen und brachen Vereinbarungen. Doch nicht nur das. Der Alkohol nahm auch nicht selten mehr und mehr Einfluss auf ihre Freizeitgestaltung. So musste es teilweise bei jeden Treffen, bei jeder gemütlichen Zusammenkunft, bei der sie dabei waren, Alkohol geben. Gefragt nach dem Grund, kamen Antworten wie „Das macht lockerer.“, „So kann ich entspannen.“, oder der schlimmste Spruch „Das gehört nun mal zum gesellschaftlichen Beisammensein dazu.“ Es waren Aussagen, die davon kündigten, dass der Alkohol erst das gesellschaftliche Beisammensein ermöglichte. Doch dabei blieben meistens die tiefgründigen Gespräche und das bewusste Zusammensein auf der Strecke, denn warum solle man auch Kraft und Zeit darauf verwenden, wenn die anderen am nächsten Morgen nicht oder nur noch verschwommen wussten, worüber man sich am Abend vorher ausgetauscht hatte? So waren auch viele Freundschaften, die man auf Festen und Zusammenkünften, wo Alkohol fließt, pflegte, nur Schönwetterfreundschaften, denn es verband einen nichts miteinander, außer die pseudolustigen Stunden des gesellschaftlichen Zusammenseins mit Alkohol und wenn die irgendwann wegfielen, blieb nichts, was einem mehr verband.
Während ich so nachdenke, wird mir bewusst, dass es noch zwei weitere Gründe gibt, warum ich dem Alkohol so ablehnend gegenüberstehe. Der erste Grund ist, dass ich erlebte, wie Bekannte unter seinem Einfluss zugrunde gingen. So hatte ich einen Klassenkameraden, der auch mal gerne einen trank. Dieser Bekannte feierte dann auch mal mit reichlich Alkohol, legte sich zu Bett und wachte nie mehr auf. In der Nacht hatte er sich übergeben und ist dann an seinem Erbrochenen erstickt. Ein anderer Bekannte wiederum trank ein Gläschen, bei einem gemütlichen Zusammensein, zu viel, setzte sich ans Steuer seines Autos und kam bei sich zu Hause nie an. Das Auto und seinen Körper fand man schließlich um einen Baum gewickelt und was geschehen war, konnte keiner rekonstruieren, nur dass er Alkohol im Blut hatte. Ob das jetzt der Grund, Mitgrund oder gar nichts mit dem Unfall zu tun hatte, weiß ich nicht. Es bleibt aber die Frage: „Würde er noch leben, wenn er nüchtern gewesen wäre?“
Zynisch könnte man auch sagen, dass meine ehemaligen Bekannten ihre Leben in vollen Zügen genossen und dann im Alkohol ertranken. Dass sie nur 18 und 19 Jahre alt wurden, steht dabei auf einem anderen Blatt.
Ein weiterer Grund, warum ich dem Alkohol skeptisch gegenüberstehe, ist, dass er Menschen dazu verleitet rücksichtslos mit ihrer Umwelt umzugehen. Sein es andere Menschen oder die Natur. So habe ich häufig erlebt, dass unter Alkoholeinfluss die Menschen aggressiver werden und ich war bei mehr als einer Schlägerei dabei und versuchte zu Schlichten, wobei sich die Kontrahenten über Kleinigkeiten stritten. Doch aufgrund des Alkohols oder des mangelnden geistigen Horizontes, den ich auch bei vielen erlebte, die nur von Wochenende zu Wochenende, von alkoholgeschwängerten Beisammensein zu alkoholgeschwängerten Beisammensein, lebten, konnten sie nicht mehr ruhig und besonnen nachdenken, sondern nur noch als Argument ihre Fäuste schwingen. Doch nicht nur das, ich erlebte auch, wie ansonsten zurückhaltende Menschen, andere Menschen, die mit ihnen gut bekannt waren, unter Alkoholeinfluss beleidigten und deren Gefühle grundlos verletzten. So manche Beziehung ging an solchen Abenden zugrunde und so manch lieber Mensch wurde unsagbar verletzt, auch wenn die „Täter“ es nicht wirklich wollten und später aufrichtig bedauerten. Doch nicht nur das. Meistens sind auch die Stellen, an denen Menschen zum ausgelassen Trinken zusammenkommen, hinterher stark verschmutzt, sei es durch die Alkoholflaschen oder durch anderen Müll, den sie im angetrunkenen Zustand unbedacht und fahrlässig zurücklassen. Die Spitze solcher umweltzerstörerischen Zusammenkünfte, ist dann auch noch der Sauftourismus, bei dem Menschen in den Urlaub fliegen, nur um sich dort zu betrinken, zum Beispiel nach Mallorca, wo mittlerweile selbst die Einheimischen gegen die Touristen und ihr Benehmen demonstrieren. Oder sei es wie bei einem Bekannten, der eine „Metalcruise“ buchte und am Ende kaum eine Musikperformance gesehen hatte und sich nur noch erinnerte, betrunken gewesen zu sein. Er hatte also eine umweltzerstörerische Reise unternommen, von dem angebotenen Kulturangebot nichts bewusst wahrgenommen und war stattdessen nur betrunken übers Deck gestolpert. Musste das wirklich sein oder war das zumindest die Erfüllung des eigenen Lebens?
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich wieder an meine Frage vom Vortag. An die Frage, was ein Leben ausmachen sollte, das man nur einmal lebt. Der Alkohol sollte auf jeden Fall keinen oder zumindest keinen allzu großen Platz darin einnehmen, sonst wird es sicherlich kein gutes Leben, genauso, wie es nach einer durchzechten Nacht, selten einen guten Morgen gibt.