Hundemüde komme ich zu Hause an. Ich schleppe mich ins Bad, dusche und putze mir die Zähne, bevor ich mich bettfertig mache. Ich lege mich hin. Doch der Schlaf möchte sich nicht einstellen. Meine Gedanken kreisen. Sie wandern von einem zum anderen Thema und wieder zurück. Es ist schlimm, doch nicht das erste Mal, dass ich solche Gedankenspiralen habe. Nein, sie kommen bei mir häufiger vor. Es braucht nur einen auslösenden Gedanken oder eine auslösende Frage und schon wird jedes gehörtes Wort, jedes Bild oder jedes Erlebnis in dessen Kontext betrachtet. Doch nicht nur das. Diese ersten Gedanken führen dann wiederum zu neuen Gedanken und so weiter und so fort.
Meistens macht es mir Spaß, meinen Gedanken hinterherzugehen und zu versuchen, die Welt zu verstehen, denn sagte nicht schon René Descartes: „Ich denke, also bin ich.“ und machen mich aufgrund dessen nicht erst meine Gedanken zu einem Menschen und nicht zu einer Maschine oder einem willenlosen Befehlsempfänger und Meinungskonsumierer, wie man sie leider heute viel zu häufig sieht, da denken und sich eine eigene Meinung zu bilden nun einmal anstrengend ist? Lebt denn nicht der Mensch einfacher, der widerspruchslos die Meinungen und Gedanken von anderen übernimmt, da er dann sich keine eigene Meinung bilden und gegebenenfalls verteidigen muss? Ja, diese Menschen leben einfacher, vor allem wenn es Stammtischmeinungen sind, die gar nicht die Komplexität unserer Welt abbilden, aber ihre inneren Wünsche und Gelüste zu befriedigen versprechen.
Ach, das Denken ist schon eine Krux und manchmal denke ich, dass man einen gewaltigen Fetisch haben muss, um es ausgiebig zu praktizieren.
Ich liege jetzt bereits seit zwei Stunden im Bett und Morpheus hat mich immer noch nicht in seine Arme geschlossen und so beschließe ich, ein Hörspiel anzuhören, in der Hoffnung mich abzulenken und meine Gedanken zum Verstummen zu bringen. Doch es gelingt mir nicht und als ich auch noch nach dem zweiten Hörspiel nicht eingeschlafen bin, stehe ich wieder auf. Es hat keinen Wert, dass ich mich im Bett hin und her wälze und quäle.
Ich ziehe mich an und setzt mich an den Esszimmertisch. Was tun? Ich schalte das Radio an, aber die Musik empfinde ich eher als störend, als beruhigend, sodass ich es bald wieder ausschalte. Ich überlege, was ich sonst noch tun könnte und mir fällt ein, dass mir auch häufig Spaziergänge geholfen haben. So werfe ich einen Blick aus dem Fenster und stelle fest, dass es eine trockene und sternenklare Nacht ist. Also eine perfekte Nacht, um einen Nachtspaziergang zu unternehmen. So ziehe ich mir meine Wanderschuhe an und gehe los. Nur wenige hundert Meter von meiner Mietwohnung entfernt beginnt auch die relativ unberührte Natur, wobei ich auf dem Weg dahin viele Plastikgetränkebecher und anderen Müll sehe. Ja, für viele Menschen ist die Welt, und besonders ihre Umwelt, einfach eine große Müllhalde, auf der sie alles, was sie gerade nicht mehr brauchen, an jeden Ort fallen lassen können.
Am Waldrand angekommen suche ich mir einen kleinen Wanderweg und beginne den Wald zu durchstreifen, wobei ich mich bemühe, besonders leise zu gehen. Ich höre einige Vögel verschlafen rufen und plötzlich kommt mir ein Fuchs entgegen, worauf ich erst einmal stehen bleibe. Der Fuchs sieht mich an und ich sehe, dass er Beute gemacht hat, denn er trägt ein kleines totes Tier zwischen seinen Zähnen. Was es genau ist, erkenne ich nicht. Etwa eine Minute stehen wir so da und sehen uns an. Dann dreht sich der Fuchs um, geht ein Stück zurück und verlässt den Weg, in dem er sich in die Büsche schlägt.
Ich gehe weiter und meine Gedanken wandern zur deutschen Romantik, zur Vergötterung der Natur und ihrer Pracht. Ich stelle fest, dass man sie nur noch in kurzen Auszügen sehen und erleben kann, aber sie ansonsten vernichtet wurde. Bereits im Mittelalter wurden viele Wälder in Deutschland gerodet, viele Moore für Land trockengelegt, doch dann kam eine Zeit der Besinnung, zumindest von einigen Träumern, die sich in die unberührte Natur verliebten und man hätte glauben können, dass diese Liebe alle Menschen erfasste, doch dem war nicht so. Stattdessen kam die Industrialisierung, das Streben nach Wohlstand und damit ein Hunger nach Energie, die der Treibstoff des industriellen Fortschrittes war. Es wurden wieder vermehrt Wälder abgeholzt, Löcher für Rohstoff in Berge geschlagen und riesige Tagebaugebiete angelegt, um die Industrie und die Hochöfen zu befeuern. Diese Industrialisierung befeuert aber nicht nur das Wohlstandswachstum, sondern auch das große Sterben. Das Sterben, sowohl von Menschen als auch von Flora und Fauna. Die Menschen in industrialisierten Kriegen, die plötzlich globale Ausmaße annahmen, wie der Erste und Zweite Weltkrieg. Die Flora und Fauna, sowohl durch die menschlichen Kriege, als auch durch ihren Energiehunger und die Umwelt und Luftverpestung.
Ich drehe mich um und sehe Richtung Stadt. Der Himmel über ihr ist aufgrund der Lichtverschmutzung stark erleuchtet. Im Mittelalte sahen die Städte von Weitem wohl nur so aus, wenn eine Feuersbrunst in ihnen wütete.
Wahrlich, die Romantiker hätten keine Freunde an unserer Zeit und an dem, was wir aus unserer Umwelt gemacht haben, wenn wir selbst die Nacht zum Tag machen, sodass man kaum noch Sterne sieht und die Geister der Nacht nicht mehr spürt.
Ich drehe mich um und gehe weiter. Meine Gedanken beschäftigen sich noch immer mit der deutschen Romanik und mir fällt ein, dass in ihr auch Träume eine große Rolle spielten. Träume, in denen sich die eigenen Wünsche und Ängste offenbaren. Ich überlege, wann ich das letzte Mal träumte. Nein, anders, träumen tut man ja ständig, nur erinnert man sich nach dem Aufwachen selten daran. Ich überlege, an welchen Traum ich mich erinnere. Dabei fällt mir auf, dass alle Träume, an die ich mich erinnere, aus meiner Kindheit stammen. Sei es, der Albtraum, bei dem ich von einem gigantischen Wollknäuel verfolgt wurde und dann mit Schwindelgefühl und kurz vor dem Erbrechen aufwachte. Sei es der Traum, in dem ich endlos falle. Doch es gibt auch einen nicht nur negativen Traum. In dem Traum befinde ich mich im wilden Westen und bewirtschafte eine Farm. Es ist ein Traum, den ich als Kind immer wieder träumte und bei dem ich häufig merkte, dass ich träumte und dann sogar bewusst Einfluss auf ihn nehmen konnte.
In diesem Traum wurde regelmäßig die Ruhe von bewaffneten Menschen gestört, die mir entweder Hab und Gut oder meine Frau, die ich damals nur schemenhaft im Traum sah, wegnehmen wollten. Einige wenige Male gewann ich im Traum den Kampf, was mit einer Zukunft des Glückes, zumindest im Traum, belohnt wurde. Doch meistens verlor ich den Kampf und damit mein Leben, im Traum. Jetzt rückblickend betrachtet, frage ich mich, was der Traum wohl bedeutet, doch es fällt mir immer noch keine Antwort auf diese Frage ein.
Abgesehen von den Träumen, die wir Menschen haben, wenn wir schlafen, gibt es auch noch die Träume, die wir haben, wenn wir wach sind und die unsere Hoffnungen und Wünsche wiedergeben. Als Kind hatte ich zwei große Träume, in dem einen Traum hatte ich in meinem erwachsenen Leben eine Frau, mit der ich mein Leben teilte, durch die Zeit ging und einfach glücklich zusammenlebte. In dem anderen Traum war ich kreativ und brachte mit meinen Werken die Menschen zum Nachdenken und Reflektieren.
Was den ersten Traum betrifft, so habe ich bis jetzt noch keine Frau kennengelernt, die mit meinen kleinen und großen Marotten zurechtkäme und was meinen zweiten Traum betrifft, na ja. Ich bin weder künstlerisch, noch sprachlich, noch schauspielerisch oder gar kreativ begabt. Wenn ich mich hinsetze, um zu malen, erschaffe ich nichtssagende Farbkleckse. Wenn ich versuche mich verbal auszudrücken, sprudeln nur Füllworte aus meinem Mund. Wenn ich versuche etwas darzustellen, was ich tief in mir nicht bin, selbst wenn es nur für ein Theaterstück ist, so komme ich mir wie ein Hochstapler vor. Und zu guter Letzt, wenn ich mich hinsetzte, um etwas zu schreiben, so kommen nur nichtssagende Sätze zustande, die entweder ellenlang sind und von der waren Botschaft ablenken, oder nur schlicht strukturiert, sodass man nach zwei, drei Minuten ihrer Lektüre sich unendlich müde fühlt.
Kurz gesagt, meine Kindheitsträume haben sich nicht erfüllt. Doch bin ich deswegen unglücklich? Nein, denn ich habe Freunde und ich weiß, dass man nicht alles auf der Welt haben kann und auch nicht nach allem streben sollte, da man dann entweder unglücklich wird, da man nie alles erreichen kann, oder auf dem Weg dahin Leid und Zerstörung in seiner Umwelt hinterlässt.
Langsam fangen meine Beine an zu schmerzen und ich mache mich auf den Heimweg. Zurück in meiner Wohnung angekommen, setzt bereits die Morgendämmerung ein.