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Du lebst nur einmal – Teil 9: Der Blick über den Tellerrand

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Es ist Donnerstag und ich komme gerade von einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause. Im Treppenhaus erwartet mich bereits die Wochenzeitung „Die Zeit“, die ich seit einem halben Jahr wieder abonniert habe. Ich hebe sie auf und gehe in meine Wohnung. Ich hänge meine Jacke an den Kleiderhaken und stelle meinen Rucksack in die Ecke. Schließlich setze ich mich hin und schlage die Zeitung auf. Was gibt es Neues in der Welt?
Ich beginne zu lesen, wobei ich nicht nur Artikel lese, die mich vordergründig interessieren, sondern auch viele andere Artikel, einfach um meinen Horizont zu erweitern und nicht nur in einer Blase zu existieren, die aus meinen Interessen besteht und alles andere ausblendet. Die einzigen Artikel, die ich mitunter überspringe, sind Sportartikel und einige Artikel aus dem Feuilleton. Da mich Sportartikel über Vereine und Turniere auch im weitesten Sinn nicht betreffen, da ich mich lieber selbst bewege, anstatt über die Bewegung anderer zu lesen und mich auch nicht Artikel über Mode und Bücher berühren, da meine Zeit zum einen gerade so dafür reicht, „Die Zeit“ in einer Woche durchzulesen und zum anderen Mode mich nur dahingehend interessiert, dass sie möglichst nachhaltig produziert werden und langlebig sein sollte.
Ich lese die Leitartikel und ich stelle wieder einmal fest, dass die Welt nicht nur schwarz und weiß ist, wie sie gern in den sozialen Medien dargestellt wird, in denen sogenannte Influencer häufig nur ihre Meinung oder die Meinung anderer wiedergeben und nicht einmal versuchen, objektiv etwas dazustellen oder auch die Hintergründe zu beleuchten.
Nachdem ich die Leitartikel gelesen habe, lasse ich die Zeitung sinken und überlege, wann ich angefangen habe, Zeitschriften und Zeitungen zu lesen. Meine Gedanken wandern zurück in meine Jugend, als ich zwölf war. Das erste wöchentliche Magazin, das ich gelesen habe, war die „Bravo“, für etwa ein Jahr. Wobei sie mich alsbald langweilte, da ich mit den Artikeln über die Stars nicht wirklich etwas anfangen konnte und sich die Inhalte, meinem Empfinden nach, ständig wiederholten.
Dann las ich einige Jahre keine Magazine und Zeitungen mehr, sondern vergrub mich in meine Schularbeit, bis ich schließlich in der Ausbildung war. Während meiner Ausbildung fing ich an, den „Stern“ zu lesen, um mich mit politischem Wissen auf Stand zu bringen und zu halten, und schließlich kam noch das Monatsmagazin „GEO“ hinzu, mit dem ich meinen Blick auf die Welt, die Geschichte und wie vieles miteinander in Zusammenhang steht, schärfte. Schließlich kam noch die Wochenzeitung „Die Zeit“ dazu und ich kündigte nach etwas mehr als drei Jahren mein Abo des „Stern“. Der Grund dafür war, dass die Artikel immer kürzer und oberflächlicher wurden. Ich gewann den Eindruck, dass gar nicht mehr Wert darauf gelegt wurde, die Hintergründe zu beleuchten, sondern man sich darauf zurückzog, nur noch scheinbare „Fakten“ wiederzugeben. So waren, als ich anfing, den „Stern“ zu lesen, noch gelegentlich Artikel dabei, die über zehn oder mehr Seiten gingen und die Hintergründe mit beleuchteten, aber dann waren auf einmal nur noch Artikel, die maximal drei bis vier Seiten hatten und kaum noch Hintergründe aufzeigten. Doch nicht nur das, ich hatte auch den Eindruck, dass das Sprachniveau sank, wo früher Fachausdrücke verwendet und anspruchsvolle Texte geschrieben wurden, hielt die Simplifizierung Einzug. Beim Lesen des „Stern“ glaubte ich immer häufiger, dass die Herausgeber vergessen hatten, dass ihre Artikel nicht nur Zeitvertreib sein sollten, sondern auch einen Bildungsauftrag haben, einen Bildungsauftrag, der sowohl das betrifft, was in der Welt passiert, als auch den Wortschatz ihrer Leser. So freute ich mich als Kind und Jugendlicher immer, wenn ich ein neues Wort kennenlernte, dass etwas präzise beschreibt und man nicht mehr Satzkonstrukte und umständliche Beschreibungen verwenden musste, um etwas zu sagen, wofür es doch ein spezifisches Wort gab, das genau das ausdrückte. Ist es denn nicht so, dass auch die Sprache unsere Sicht auf die Welt prägt und wir, wenn wir nur mit einfachsten Sätzen und Wörtern die Welt beschreiben, eine ebenso vereinfachte Sicht auf die Welt haben? Aber den Herausgebern des „Stern“ schien das nicht bewusst zu sein, sondern sie bedienten scheinbar die schwindende Aufmerksamkeitsspanne potenzieller Leser und den einfachen, aber nicht präzisen Sprachgebrauch, wie ihn das Internet beförderte.
Das Magazin „GEO“ las ich über zehn Jahre hinweg, bis ich das Abo beendete, da ich keine Zeit mehr hatte es zu lesen und sich sowohl die „GEO“-Magazine als auch die Ausgaben der „Zeit“ bei mir zu Hause stapelten. Schließlich kündigte ich auch das Abo der „Zeit“, da es familiäre Probleme gab und ich keinen Nerv und keine Zeit mehr hatte, um überhaupt noch etwas regelmäßig zu lesen und ich mir die „Zeit“ wenn überhaupt, ab und an im Supermarkt kaufte.
Doch durch die Reduzierung des Lesens aktueller Magazine und Zeitungen merkte ich mit dem Vergehen der Wochen und Monate, dass ich den Anschluss an die aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklung verlor. Erst ein wenig, dann immer mehr. Es fiel mir mit der Zeit schwerer und schwerer, anderen Menschen Kontra zu geben, wenn sie offensichtlich falsche Dinge behaupteten, eben weil ich es auch nicht genau wusste. Wobei mir immer mehr auffiel, dass Menschen ihre Meinungen und Aussagen mit Sätzen begründeten, die da unter anderem lauteten: „Das findest du doch bei Google.“, oder „Ich kann dir einen Link zu einem Video auf ‚YouTube‘ dazu schicken.“ Einige Menschen glaubten wirklich, dass „Google“ und „YouTube“ verlässliche Quellen für Wissen sind und beachteten nicht, dass auf „YouTube“ jeder, ungeprüft, Videos hochladen kann, die seine subjektive Meinung wiedergeben und das „Google“ nur eine Suchmaschine ist, die Webseiten nach Schlagwörtern durchforstet und sie auflistet, egal ob es sich dabei um eine seriöse Webseite oder eine private subjektiv gestaltete handelt.
Doch nicht nur das, vielen, mit denen ich im Laufe der Monate sprach, war auch nicht bewusst, dass sie durch die Algorithmen, die die Suchmaschinen und sozialen Plattformen benutzen, häufig nur Artikel und Beiträge sehen, die ihre eigene Meinung widerspiegeln. Das kommt zwar auch bei Zeitungen und Magazinen vor, die man sich nach seinen eigenen Vorlieben aussucht, doch wenn man den Anspruch hat, möglichst objektiv informiert zu werden, dann sucht man sich eine der wenigen noch verbleibenden Zeitungen und Magazine heraus, die noch Qualitätsjournalismus betreiben und liest auch einmal einen Artikel, der einen nicht wirklich interessiert oder sogar der eigenen Meinung entgegensteht.
Nachdem ich diesen Eindruck gewonnen hatte, abonnierte ich wieder „Die Zeit“ und nahm mir auch die Stunden, auch wenn andere Dinge zurücktreten mussten, um sie wirklich zu lesen. Ich nahm mir die Zeit, um einen Blick über den Tellerrand meines alltäglichen Horizonts zu werfen und ihn mit jedem Artikel ein Stück zu erweitern.
Durch die Lektüre der „Zeit“ fing ich auch wieder an, den Menschen, die offensichtliche Falschheiten verbreiteten, Kontra zu geben und zu versuchen ihnen auch Hintergründe für bestimmte Entwicklungen dazulegen, doch ich stellte immer wieder fest, dass sich viele Menschen gar nicht mit anderen Meinungen auseinandersetzen möchten, sondern alleinige ihre für richtig halten. Mitunter hörte ich auch Sätze, die mir wirklich anmaßend erscheinen, wobei der schlimmste Satz in meinen Augen „Das muss ich nicht wissen.“ ist. Diesen Satz hörte ich häufig von Menschen, wenn es um Hintergründe geht, die zum Teil ihr eigenes Leben direkt oder indirekt betreffen, denn wenn man etwas nicht weiß, braucht man keine bewusste Entscheidung zu treffen. Man ignoriert den Sachverhalt und lebt weiter in seiner kleinen Welt. Doch wenn man etwas weiß, muss man sich damit auseinandersetzen, sein eigenes Weltbild an dem Wissen reiben und es das ein ums andere Mal hinterfragen, was Arbeit und zum Teil unbequem ist, doch der einzige Weg, sich selbst weiterzuentwickeln. Aber scheinbar sehen nur wenige das so wie ich und so wollen viele Menschen nicht alles wissen, was sie wissen könnten und sollten, sondern einfach nur vor sich hin leben, auch um den Preis, dass sie sich dadurch anfällig für Manipulation machen. Manipulationen von Menschen, die sich ihr Unwissen zunutze machen, um sich selbst an ihnen zu bereichern oder ihre eigenen Ziele voranzubringen. Häufig braucht es, wenn man zu wenig weiß, nur einen charismatischen Führer und die Menschen folgen ihm blind, auch wenn es über die Klippe in ihren Untergang geht.

Aber wer möchte schon ein Leben lang selbstständig denken, seine Schritte bewusst in eine Richtung lenken, wenn er doch einfach nur sein Leben leben und die Verantwortung für es anderen übergeben kann?
Ich lege die Zeitung aus der Hand und stehe auf. Ich schaue aus dem Fenster meiner Wohnung und ich frage mich, ob ein Leben wirklich lebenswert sein kann, in dem man nicht nach Wissen und Verständnis der Welt strebt, sondern nur für sich lebt und nur Bestätigung für die eigene Meinung und das eigene Weltbild sucht?

Published inErzählungen