Gerädert stehe ich auf. Mein Kopf brummt. Die halbe Nacht lag ich wach und habe gehustet, und das an einem langen Wochenende. Ich trinke reichlich Tee und lege mich wieder in mein Bett, doch schlafen kann ich nicht. Ich möchte ein Hörspiel hören, wie ich es schon die halbe Nacht tat, in der ich seit Langem mal wieder angefangen habe, die Hörspielserie TKKG von Anfang an zu hören. Wobei ich feststellte, dass mir die alten Folgen besser gefallen, als die neuen, in denen sich die Protagonisten immer weniger in der Natur aufhalten und eigentlich überall ihre Handys und Smartphones dabeihaben. In den frühen Folgen sind sie durch Wälder und Moore gestrichen und mussten nach Telefonzellen suchen, um jemanden zu erreichen. Heute haben Sie ein Handy oder Smartphones und können sofort jemanden anrufen, wo bleibt denn da die Spannung? Als ich so die Hörspiele höre, komme ich zur Folge 19 „Der Schatz in der Drachenhöhle“. Doch sosehr ich auch suche, ich kann sie bei keinem der Streamingdienste finden. Es wundert mich, dass es das Hörspiel nicht mehr geben soll, denn in meiner Kindheit besaß ich sogar die Kassette und sie war eine meiner beliebtesten Hörspielfolgen. Ich recherchiere kurz, warum sie nicht online verfügbar ist und lese, dass sie nicht digital veröffentlicht wurde, da es Jugendschutzbedenken gäbe und bestimmte Bevölkerungsgruppen negativ dargestellt würden. Ich überlege, worum es in der Folge ging. Es ging um eine Kanufahrt und eine Schatzkarte. Um eine Gruppe „Biker“, die eine Gruppe „Zigeuner“ gegen TKKG aufhetzten und darum, die versteckte Beute eines Raubes in der sogenannten Drachenhöhle zu finden. Ja, ich muss zugeben, die sogenannten „Zigeuner“ wurden nicht besonders gut dargestellt und heute würde man solch ein Hörspiel wahrscheinlich nicht mehr produzieren. Es war halt ein Kind seiner Zeit. Doch hätte man nicht mit einem Vorwort arbeiten und an dem Hörspiel aufzeigen können, dass zum einen die Stigmatisierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht gut ist und die Kriminalisierung von ihnen eben häufig dazu führt, dass ebendiese Menschen in die Kriminalität getrieben werden? Aber es ist, wie so häufig, eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, ein Blick zurück in den Spiegel, ist nicht gewünscht. Lieber wird die Vergangenheit verdrängt, in der Hoffnung, dass sie für immer vorbei ist, doch wenn man die Vergangenheit vergisst, neigen leider die meisten Menschen dazu, sie und ihre Fehler zu wiederholen, da sie eben nicht mehr um die Konsequenzen bestimmten Handelns wissen.
Meine Gedanken wandern zu den Romanen „Die Abenteuer von Tom Sawyer“ und „Die Abenteuer von Huckleberry Finn“ von Mark Twain. Auch die Romane werden kritisiert und einige Menschen fordern, dass sie umgeschrieben werden, weil das Wort „Nigger“ in ihnen vorkommt. Dabei wird jedoch übersehen, dass Mark Twain die Gesellschaft so darstellte, wie sie zu seiner Lebenszeit war und dass eben seine Protagonisten in dieser Zeit leben. Man könnte auch sagen, dass die Romane Zeitzeugen der USA im neunzehnten Jahrhundert sind. Aber viele Menschen wollen ja lieber verdrängen und vergessen.
Da ich mich ärgere, stehe ich erst einmal auf und esse eine Kleinigkeit. Nach dem Essen wasche ich das Geschirr auf, wobei ich plötzlich einen Hustenreiz bekomme und ich merke, wie mir beim Husten mein Mageninhalt den Hals hochsteigt. Ich schaffe es gerade noch ins Bad, bevor ich mich bei einem erneuten Hustenreiz in die Toilette übergebe. So bleibe ich fünf Minuten stehen, bis ich sicher bin, dass sich mein Hustenreiz gelegt hat. Dann spüle ich das Erbrochene die Toilette herunter, wasche mir den Mund aus und putze mir, um den unangenehmen Geschmack im Mund loszuwerden, die Zähne. Doch das stellt sich als Fehler heraus. Durch die ätherischen Öle in der Zahnpasta löst sich das Sekret in meinen Nasennebenhöhlen und fließt zäh meinen Rachen herunter, wodurch ich erneut einen Hustenreiz bekomme und mich erneut übergeben muss.
Mir brummt der Schädel, mir ist schlecht und zu allem Überfluss weiß ich nicht, was ich tun soll, um die Zeit zu überbrücken, die mein Körper braucht, um sich selbst gegen die Erkältungserreger zu wehren. Weiter Hörspiele hören? Keine Lust! Ein Buch oder Magazin lesen? Kein Nerv! Computer spielen? Zu anstrengend. So beschließe ich, mich hinzulegen und irgendeine Serie zu schauen.
Während ich so durch die Onlinebibliotheken scrolle, fällt mein Blick auf meine ehemalige Lieblingsserie „Community“, die ich immer auf Englisch schaute und die die erste Comedy-Serie war, die mir überhaupt gefiel. Auf die Serie war ich durch eine Rezension im Satiremagazin „Titanic“ aufmerksam geworden und zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass sie genau meinen Humor, mit ihren vielen sozialen Anspielungen, entsprach. Also warum sie nicht noch einmal anschauen.
Gedacht, getan und so schaue ich Episode um Episode, wobei die Zeit rasend schnell vergeht. Ich schaue so lange, bis ich die Episode vierzehn der zweiten Staffel erreiche, die nicht online verfügbar ist. Ich bin etwas überrascht, dass die Folge nicht online verfügbar ist, da es eine der besten der Serie war. Die Episode hieß „Advanced Dungeons & Dragons“ und handelte von einem Pen-und-Paper-Rollenspiel, das die Protagonisten spielten. Aus Interesse google ich, warum die Episode nicht mehr online verfügbar ist und finde als Begründung „Blackfacing“. Die Begründung erscheint mir etwas hanebüchen, denn es mag stimmen, dass in der Episode einer der Hauptcharakter, ein asiatischer Schauspieler, sich Schwarz schminkt, um als „Dunkelelf“ an dem Rollenspiel teilzunehmen, doch gleichzeitig fragt ein anderer Hauptcharakter der Serie, eine farbige Schauspielerin, ob man das „hate crime“ ignorieren wolle. Also es wird direkt damit gespielt, dass es Anstoß erregen könnte, was man als Beitrag zu der Rassismusdebatte sehen könnte, die im Jahr 2011, dem Erscheinungsjahr der Episode, tobte. Doch dafür müsste man sich mit der Episode auseinandersetzen und nicht nur empört reagieren, doch wer tut das schon? Schnelle Empörung ist leicht und man kann sich selbst auf ein moralisch hohes Ross setzen, doch durch Ablehnung und Verdammung kommt man selten weiter, stattdessen hilft Kultur und Diskussion. Die Kultur, um aufzuzeigen, dass bestimmte Darstellungen und gesellschaftliche Ausprägungen fragwürdig sind, indem man sich ihrer bedient und über Ironie, Satire oder gar Tragik ihre Fragwürdigkeit darstellt. Die Diskussion, in deren Verlauf man mit Argumenten die anderen zu überzeugen versucht, anstelle sie einfach zu erniedrigen und sich moralisch über sie zu stellen. Ist man nämlich ehrlich zu sich selbst, so bereift man, dass Besserwisserei und Rechthaberei häufig nur zu Trotzreaktionen und -handlungen führen, wodurch die Welt nicht wirklich verbessert wird.
Aber Kultur schaffen und Diskussionen führen ist ja anstrengend und störte ja die „Work-Life-Balance“ vieler Menschen, sodass sie viel lieber schreien und nötigen, als intelligent zu überzeugen und auch einmal eine andere Sicht auszuhalten.
Trotz meines gesundheitlichen Zustandes wallt mein Ärger noch stärker in mir auf. Ärger darüber, dass sich viele auf ein hohes moralisches Ross setzen und nur ihre Meinung und ihre Sicht in die Welt schreien, aber dabei nicht versuchen, mit Argumenten und Diskussionen zu überzeugen, sondern stattdessen Menschen mundtot zu machen. Meine Gedanken wandern zu einem Zeitungsartikel, den ich vor einigen Jahren las. Einen Artikel darüber, dass eine Musikgruppe von einem Veranstalter dazu aufgefordert wurde, ihr Konzert zu beenden, weil Zuschauer sich bei ihm beschwerten, dass die Rastalocken der weisen Musiker, kulturelle Aneignung sein und sie sich dadurch unwohl fühlten. Als die Musiker daraufhin das Konzert abbrachen und mit den Zuhörern darüber zusprechen, sagte keiner von ihnen mehr etwas. Dabei fällt mir auch häufig auf, dass die, die so moralisch lamentieren, meistens nicht selbst betroffen sind, sondern sich „anmaßen“ für andere zu sprechen, egal ob diese sich wirklich durch etwas gekränkt fühlen oder nicht. Die Lamentierer glauben zu wissen, was bestimmte Personengruppen empfinden und wollen sich selbst gut fühlen, wodurch sie für die angeblich Betroffenen sprechen, aber nicht mit ihnen. „Mansplaining“ für scheinbar unterdrückte.
Meine Gedanken kreisen. Mir ist schwindlig. Was dachte ich gerade? Ja, man muss Unterdrückten eine Stimme geben und sie anhören, doch man sollte sich nicht anmaßen, für sie zu sprechen, wenn sie auch für sich selbst sprechen könnten, denn auch das ist eine Form der Unterdrückung.
Meine Gedanken kreisen weiter und bleiben an dem Ausdruck „kulturelle Aneignung“ hängen. „Kulturelle Aneignung“, was soll das sein? Man kann Kulturgüter stehlen und das sollte verboten sein und bereits gestohlene Kulturgüter sollten ihren Besitzern oder deren Nachfahren zurückgegeben werden, aber kann man sich ansonsten Kultur widerrechtlich aneignen? Die Kultur entwickelt sich seit Menschengedenken weiter, wobei der kulturelle Austausch einen großen Einfluss darauf hat. Schriftsteller, Musiker und Künstler treten in Wettstreit. Adaptieren die Handwerke anderer und entwickeln sie weiter. So entstehen neue kulturelle Strömungen und Werke.
Verdammte man alles, was man unter kultureller Aneignung versteht, dürften wir nicht mehr schreiben, denn unsere Schriftzeichen sind lateinische und nicht mehr die altdeutschen. Wir dürften kein Feuerwerk mehr zünden und kein Porzellan mehr besitzen und herstellen, denn sie kommen ursprünglich aus China. Bestimmte Gewürze dürften wir nicht für unsere Speisen benutzen und nicht anbauen, denn sie stammen ursprünglich auch aus anderen Kulturkreisen. Selbst die Kartoffel kam erst im sechzehnten Jahrhundert nach Europa und wurde vorher in Südamerika kultiviert.
Man sieht, Kultur basiert auf Austausch, auf Reibung und auf Weiterentwicklung des Bestehenden und somit macht es keinen Sinn von „kultureller Aneignung“ und von Verboten dieser zu sprechen. So wie einige Menschen, die die Romane von Karl May aus der Öffentlichkeit verbannt sehen möchten. Von Karl May, der Abenteuerromane schrieb, die in Amerika spielten und die er sich ausdachte, weil er nie in Amerika war.
Mir fällt ein weiterer Artikel ein, den ich vor Kurzem las. Ein Artikel, in dem es über „Sensitivity-Reading“ ging. Darüber, Bücher und Texte zu schreiben, die keinen diskriminieren und ja nicht Anstoß erregend sind. Einfach Texte, die die Seele streicheln, aber nicht wirklich etwas bewegen, da Veränderung nur durch Reibung entsteht. In dem Artikel kam eine Autorin zu Wort, die ihre Romane immer von „sensitiv readern“ Korrektur lesen lässt, um ja niemanden zu verletzen, aber dann tief gekränkt war, da sie trotzdem Ablehnung erfuhr, da sie in einem ihrer Romane aus Sicht eines Homosexuellen, was sie selbst nicht war, schrieb und es dann hieß, sie nähme einen homosexuellen Autor, die Arbeit und die Leser weg. Scheinbar geht es nicht mehr darum, gute Geschichten zu erfinden und zu erzählen. Geschichten, die vielleicht auch einmal unbequem sind und manch einmal das Potenzial haben, etwas zu verändern, nein, es geht nur noch darum, wer das höchste moralische Ross erklimmt.
Meine Gedanken kreisen weiter und ich frage mich, ob ein Leben wirklich lebenswert ist, in dem man nur auf seinem moralischen Ross sitzt und mit ihm andere niederreitet oder ob ein Leben lebenswert ist, in dem man mit anderen Menschen redet, zu überzeugen versucht und dadurch, auch wenn es Zeit kostet und schwierig ist, sie wirklich von dem Guten einer Sache überzeugt? Ist es nicht besser, auch mal Streit auszuhalten und die eigene Meinung und Erwartung an denen von anderen zu reiben, um dadurch gesamtgesellschaftlich voranzukommen oder ist es eine Illusion? Leben wir wirklich in einer Welt, in der keiner mehr Kompromisse eingehen will und man nur noch sich und seine Werte sieht?