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Du lebst nur einmal – Teil 15: Der Tod

Geschätzte Lesezeit: 6 Minuten

Zwei Wochen plagte mich der grippale Infekt. Zwei Wochen ständiges Husten und verstopfte Nasennebenhöhlen. Zwei Wochen, in denen ich aus Atemnot keine Strecken laufen konnte, die länger als fünfhundert Meter waren. Doch jetzt, genesen, möchte ich mich wieder mehr bewegen und meine Leistungsfähigkeit steigern. So beschließe ich jeden Tag spazieren zu gehen und jeden Tag die Entfernung etwas zu steigern, bis ich wieder mein altes Fitnesslevel erreicht habe. Gedacht, getan und so ziehe ich meine Jacke und meine Wanderschuhe an und gehe los.
Was das Spazieren betrifft, so habe ich drei Standardstrecken, die ich beim Spazierengehen normalerweise nehme. Die erste Strecke ist eine relativ kurze, die mich durch die Sportanlagen und an zwei Angelteiche in meiner Nachbarschaft vorbeiführt und für die ich etwa eine halbe Stunde brauche. Die zweite Strecke ist mittellang und führt mich an einem Bach entlang, der von den Angelteichen abfließt und die etwa eine dreiviertel Stunde dauert. Die dritte Strecke führt mich in ein nah gelegenes Naturschutzgebiet, wobei ich nicht wirklich weiß, warum es als Naturschutzgebiet definiert ist, da in ihm Jahr um Jahr Bäume gefällt werden und Hundehalter ihre Lieblinge frei, also ohne Leine, laufen lassen. Für diese dritte Strecke brauche ich etwa eine Stunde. Von den drei Strecken entscheide ich mich für die zweite, da ich an ihr meistens wilde Tiere sehe, sein es Bisamratten, Teichhühner oder Fische.

Als ich aufbreche, überlasse ich meinen Füßen das Navigieren, da ich die Strecke auswendig kenne, und sie mich aufgrund dessen wie von selbst über Straßen und Wege tragen. Ich lasse meine Blicke schweifen und konzentriere mich auf meine Atmung. Plötzlich erschrecke ich, denn mit meinem Blick in die Ferne gerichtet, bemerke ich erst, dass der Leib einer toten Schlange kurz vor meinen Füßen liegt, als ich beinahe auf sie drauftrete. Eine tote Schlange, die nach den Spuren nicht an Altersschwäche, sondern gewaltsam gestorben ist. Ich sehe den Leib der Schlange und meine Gedanken beginnen zu kreisen. Trauer umgreift mein Herz und meine Gedanken wandern in die Vergangenheit und in die Zukunft. Meine Beine werden schwach und ich möchte mich setzen, doch in der Nähe ist keine Bank zu sehen. Also weiter. Wie in Trance gehe ich weiter, denn ich weiß, dass in fünfhundert Metern eine Bank steht.
Während ich so laufe, versuche ich, meine Gedanken zu ordnen. Ich denke zurück, ich denke daran, wie ich das erste Mal in Begegnung mit dem Tod kam. Es war, als meine Oma starb und ich akzeptieren musste, dass sie nicht mehr ist und ich sie nie wieder sehen würde. Schließlich kam der Tod von Haustieren dazu, der Tod meines geliebten Meerschweinchens Sternchen, das ich so genannt hatte, da es ganz weiß war, bis auf einen schwarzen Fleck, den es auf dem Kopf trug, und der die Form eines Sternes hatte, wie man ihn als Kind malt. Der Tod unserer Hauskatze Fleckchens, die Freigänger war, sich dabei ein Virus einfing und dann elendiglich zugrunde ging, sodass wir sie einschläfern lassen mussten. Jedes Mal blutete mir mein Herz und mit der Zeit wurde mir bewusst, dass der Preis jedes Lebens der Tod ist. Der Tod kommt früher oder später zu jeden Lebewesen und als ich das begriff, begann ich mir zum ersten Mal die Frage zu stellen, wie ich leben sollte, um ein erfülltes Leben zu haben, wobei ich als Kind noch keine Antwort auf die Frage fand und ich mich in die Ignoranz und Verdrängung flüchtete.
Doch ich wurde älter und erweiterte durch die Lektüre vieler Bücher, Zeitungen und Zeitschriften meinen Horizont. Mit den Jahren wurde mir bewusst, dass jedes Leben schützenswert ist und man sich nicht über andere stellen sollte. Doch nicht nur das, durch das Lesen gelangte ich auch zu der Überzeugung, dass viele Tiere Eigenschaften von uns Menschen in sich tragen. Sei es Mitgefühl, Intelligenz und Freude. Mit dieser Erkenntnis gelang es mir auch nicht mehr, das Fleisch, das bei vielen von uns Menschen auf dem Teller landet, als ein einfaches Nahrungsmittel zu sehen und es gedankenlos zu essen. Nein, das Fleisch war einst Teil eines Lebewesens, das gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde.
Die Jahre vergingen und ich versuchte, den Tod bestmöglich aus meinem Leben zu verbannen, um den Gedankenspiralen zu entgehen, die sich immer bei dessen Anblick bei mir einstellten. Ich entwickelte ein Stück weit eine pazifistische Haltung, wobei sie über die Jahre auf eine harte Probe gestellt wurde und sie sich mit dem Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine dahingehend entwickelt hat, dass man Gewalt zur Selbstverteidigung gebrauchen darf, aber nie der erste sein sollte, von dem Gewalt ausgeht.
Meine Gedanken kommen in der Gegenwart an. Sie gelangen zu der Frage, die mich seit einigen Wochen beschäftigt. Die Frage, wie man sein Leben leben sollte, da man nur dieses eine hat. Ich fasse die Gedanken der vergangenen Woche zusammen und mir wird bewusst, dass das Einzige, an dem man sein Leben beurteilen kann, ist, was man in seinem Leben für andere und für die Welt und nicht nur für sich selbst getan hat, denn das letzte Hemd hat keine Taschen.
Das, was man im Leben tut, ist das, was von einem bleibt. Es ist die Erinnerung unseres Planeten Erde, die jeden unserer kleinen menschlichen Schritte merkt, mit denen wir einen Eindruck, sei es zum Guten oder zum Schlechten, auf ihr hinterlassen.

Ich erreiche die Bank und setze mich. Als ich von der Bank in die Ferne blicke, stelle ich fest, dass es die gleiche Bank ist, bei der meine Suche nach der Antwort auf die Frage, wie man ein Leben leben sollte, das man nur einmal lebt, begonnen hatte.
Mit Blick auf den Teich stelle ich fest, dass es prinzipiell drei Möglichkeiten gibt, so ein Leben zu leben. Die erste Möglichkeit ist, versuchen, das Gewissen und das Gehirn zum Schweigen zu bringen oder nur auf die eigenen Ziele zu fokussieren, um ein auf sich selbst zentriertes Leben zu führen, wie es viele Menschen tun. Ein Leben, in dem man für sich selbst das Beste herausholt, Missstände nicht anspricht und versucht zu ändern, sondern nur nach dem Besten für sich selbst sucht, Konflikte scheut und fröhlich lachend irgendwann die Welt verlässt, in der Gewissheit, dass man das Beste für sich selbst herausholte.
Die zweite Möglichkeit ist, an dem Vorsatz, ein gutes und bedeutsames Leben zu führen, zu zerbrechen. Sich in sich selbst zurückzuziehen und einfach vor sich her zu leben. Couch-Potato zu werden und irgendwann die Welt zu verlassen, in der Gewissheit, dass man nichts ändern konnte, da man einfach alleine zu klein und schwach ist, um etwas wirklich ändern zu können.
Die dritte Möglichkeit ist, jeden Tag als Chance zu sehen, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Jeden Tag als Chance begreifen, einen positiven Eindruck zu hinterlassen, auch um den Preis, Menschen vor den Kopf zu stoßen und anstrengende Diskussionen zu führen. Ein Leben zu führen, das der Aufklärung und der Verbesserung der Welt gewidmet ist, auf dass am Lebensende andere entscheiden, ob das eigene Leben lebenswert war.

Was es für mich ist, kann nur die Zukunft zeigen. Da ich zwar die dritte Möglichkeit präferiere, aber nicht weiß, ob mir nach Jahrzehnten des Kampfes für eine bessere Welt, nicht doch irgendwann die Kraft abhandenkommt, den tagtäglichen Wahnsinn, des Egoismus, der Ignoranz und der Falschinformationen die Stirn zu bieten oder ich daran zerbreche und mich dann auf die erste oder zweite Möglichkeit zurückziehe, ein „erfülltes“ Leben zu führen.

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