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Das Ich, Über-Ich und Es führen einen Diskurs

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Gerädert aufgewacht. Mein Kopf brummt. Quäle mich aus dem Bett. Schlurfe ins Bad. Spritze mir Wasser ins Gesicht. Hämmernde Kopfschmerzen. Was ist nur aus mir geworden? Warum trank ich den letzten Abend soviel? Schaue in mein Spiegelbild. In meinen Augen glaube ich etwas zu erkennen. In meinem linken Auge einen Gelehrten mit Büchern. In meinem rechten Auge eine Bestie, die in schweren, aber rostigen Ketten liegt, ausgezehrt aussieht, aber trotz ihrer Lage hämisch grinst.

Ich versuche mich an die letzte Nacht zu erinnern, doch Nebelschwaden verhüllen das Vergangene. Ich schaue noch einmal in mein Spiegelbild, und sehe, wie sich die Lippen des Gelehrten bewegen. Ich spitze die Ohren und versuche ihn zu verstehen. Langsam dringen seine Worte zu mir durch. Doch zu seinen Worten fehlt mir der Kontext. Als er endliche eine Pause macht, bietet sich mir die Chance, ihn eine Frage zu stellen.

Ich: Wer bist du?
Gelehrter: Ich bin dein Über-Ich.
Ich: Du bist also die Verkörperung meines Gewissens und meiner moralischen Überzeugungen?
Über-Ich: Das ist korrekt.
Ich: Und was ist das da drüben für eine Bestie?
Über-Ich: Das ist das Es, das du bereits in deiner frühen Jugend in Ketten legtest.
Ich: Das ist also die Verkörperung meiner animalischen Triebe und Bedürfnisse? Warum sieht es dann so ausgezehrt aus? Und warum soll ich es überhaupt in solch schweren Ketten gelegt haben?
Über-Ich: Ausgezehrt sieht das Es aus, da es bereits seit Jahrzehnten in Ketten liegt. Es liegt in Ketten, seit dem du mich, dein Über-Ich, in der Literatur entdecktest. Ich war dein Werkzeug, mit dem du die Bestie in Ketten legtest. Ich bin all die Texte von Schiller, Goethe, Joseph von Eichendorff, Novalis, Immanuel Kant und vielen mehr, die du bereits im Kindesalter lasst und deren Texte deinen Charakter, dein Menschenbild und deine Ansprüche formten. Ich war das Mittel, mit dem du das Es, bevor es überhaupt richtig ausgewachsen war, in Ketten legtest und zu einem Schattendasein verbanntest und das war rückblickend betrachtet ein Fehler. Der Grund dafür ist, dass du das Es, aufgrund deiner Angst vor ihm, immer weiter einschränktest, und es in immer neue Fesseln legtest, anstatt es zu domestizieren und als einen Teil von dir zu akzeptieren. So kam schließlich der letzte Abend, und es nutzte die Chance, den alten rostigen Ketten zu entkommen.
Ich: Aber das Es ist doch böse! Es ist doch das, was uns rücksichtslos leben lässt und das dazu führt, dass die Welt kein guter Ort ist. Das Es ist doch der Grund dafür, dass Menschen viel zu viel Wert auf Statussymbole legen und häufig mehr und mehr haben wollen, und dadurch die Umwelt zerstören. Und darüber hinaus ist das Es doch der Feind der romantischen Liebe, denn wenn es herausbricht, stirbt die Romantik, und die Gefahr Menschen zu verletzen, oder etwas gegen ihren Willen zu tun, ist unter seinem Einfluss doch einfach zu groß!
Über-Ich: Mit den meisten Punkten hast du zwar Recht, aber ganz ohne das Es kann man nicht leben. Der Grund dafür ist, dass das Es erst einen dazu bringt, in bestimmten Situationen einfach mal spontan zu sein und sich etwas zu getrauen, anstatt alles solange zu überdenken und abzuwägen, bis der Moment oder die Chance verpasst ist.

Ein Zischen erklingt vom Es. Genuschelte Wörter dringen an mein Ohr, die ich aber nicht verstehen kann. Langsam werden die Wörter deutlicher, aber ich kann immer noch nicht die Wörter verstehen. Schließlich ein lautes Räuspern von der Bestie, und dann erklingt ihre Stimme, die vor Häme und Ironie trieft.

Bestie/Es: Entschuldigt die Störung und meine Ausdrucksweise, aber ich sprach lange nicht mehr. Ihr redet gerade so über mich, als wäre ich nicht da, oder hörte nichts. Doch dem ist nicht so, denn obwohl ihr mich in Ketten legtet, konntet ihr meinen Willen nie brechen. All die langen, einsamen Jahren wartete ich darauf, dass ihr zu der Einsicht kommt, dass ihr ohne mich nicht leben könnt. Ich wartete auf den Moment, da du, mein Ich, merktest, dass du allein keinen Unterschied machst und dass alle die ihr Es nicht unterdrücken erfolgreicher sind als du. Erfolgreicher im Leben, da sie sich häufig einfach das nehmen, was sie möchten, und sich Statussymbole gönnen, mit denen sie ihre mutmaßliche Überlegenheit darstellen. Und weißt du was, auch wenn diese Menschen z.T. dumm wie Brot sind, haben sie häufig Erfolg. Sei es Erfolg bei der Partnersuche, sei es der Erfolg, der sich darin äußert, dass sich ihr Ansehen in weiten Teilen der Bevölkerung steigert.
Und was machst du? Du lebst ein Leben, in dem du dich selbst einschränkst. Ein Leben, in dem du keinen Schaden anrichten möchtest. Ein Leben, in dem du versuchst deine pazifistische Grundhaltung tagtäglich, in allen Lebenslagen, zu leben. Aber was ist, wenn du stirbst? Was bleibt von dir? Du hast mich unterdrückt und in Ketten gezwungen, um ein Leben der Vernunft und Aufklärung zu leben. Doch dabei verhalten deine Worte der Aufklärung und Vernunft in dieser narzisstischen Gesellschaft ungehört. Am Ende wird nichts bleiben, außer dass du dich grundlos ein Leben lang einschränktest, denn du alleine, so wie du jetzt bist, machst keinen Unterschied. Deshalb hure herum und genieße dein Leben in vollen Zügen, wie ich dich dazu brachte, die letzte Nacht zu genießen, denn du lebst nur einmal.
Ich: Nein, dass kann und will ich nicht. Ich will nicht zu der ignoranten Masse gehören, deren Leben von sinnloser Genusssucht und der Angst vor Statusverlust geprägt ist. Ich will einen Unterschied machen, auf dass die Menschen wieder auf den Wegen der Aufklärung wandeln. Und schon allein wenn ich es schaffe, dass ein Mensch einen Blick über den Tellerrand wirft und sein Leben überdenkt, hat sich mein Leben gelohnt.
Es: Ach, bist du lächerlich. Jetzt wieder große Reden schwingen, doch dann, wenn du wieder am Verzweifeln, aufgrund der Unvernünftigkeit der Menschen, bist, und eine Flasche dir die Lösung der Probleme versprichst, wirst du zugreifen. Ich werde auf diesen Moment warten und dann die Führung übernehmen. Mal sehen, ob du dann noch so glimpflich, wie letzte Nacht, davon kommst.
Über-Ich: Auch wenn es mir schwer fällt das zuzugeben, so hat das Es doch recht. Du kannst es nicht weiter unterdrücken. Du musst dich mit ihm arrangieren, denn erst wenn du es nicht mehr unterdrückst, sondern es domestizierst, wird dir eventuell gelingen, deine Ziele zu erreichen und Situationen, wie die der letzten Nacht, zu vermeiden.
Ich: Was ist denn überhaupt letzte Nacht passiert?
Es: Das soll dir das Über-Ich mal erzählen, aber soviel sei gesagt, ich hatte meinen Spaß!

Das Über-Ich beginnt die Geschehnisse der letzten Nacht zu erzählen und mir wird schlecht. Während ich meinen Magen wieder und wieder entleere, bis ich nur noch Magensäure erbreche, fährt es fort zu erzählen und im Hintergrund höre ich das Es hämisch lachen. Schließlich hört das Über-Ich auf zu erzählen und mein Magen auf zu rebellieren. Mit Kopfschmerzen und einem bitteren Geschmack im Mund fasse ich den Entschluss, mein Es nicht mehr zu unterdrücken, sondern es zu domestizieren, auf dass das, was letzte Nacht geschehen war, nicht noch einmal geschehe.

Published inErzählungen

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