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Das lyrische Ich hat was zu sagen

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Hallo, ich bin das lyrische Ich und mit den meisten von euch haben sich bereits meine Wege gekreuzt. Ich habe viele Namen und Eigenschaften. Mal bin ich ein Gott, mal ein Prophet und manch einmal auch nur eine einfache Fliege. Man könnte auch sagen, dass ich all das bin und auch sein kann, was sich der menschliche Geist vorzustellen mag.

Doch obwohl ich so viele Formen habe bzw. haben kann, so ist meine Aufgabe doch immer dieselbe, nämlich einen Leser durch einen literarischen Text zu führen. Dabei schwebe ich entweder über den Geschehnissen und weiß alles, wie es nur ein Gott wissen kann, sehe einer bestimmten Person über die Schulter und beschreibe was sie tut, wobei ich mach einmal übersinnliche Fähigkeit habe und aufgrund dessen auch ihre Gedanken lesen kann, oder ich schlüpfe gar in die Rolle einer bestimmten Person. Dabei habe ich häufig keinen Namen, doch manchmal gibt man mir den Namen einer Person und ich habe direkt einen Part in dem literarischen Werk zu spielen, wobei ich manchmal auch einfach nur als „Ich“ bezeichnet werde.

Soweit so verständlich, doch was ich nicht verstehen kann ist, dass von manchen Leser meine Existenz nicht anerkannt wird, wenn ich einfach nur „Ich“ genannt werde und aus einer Ich-Perspektive berichte. Diese Leser halten mich dann meistens für meinen Erschaffer, also dem Autor des Textes in dem ich existiere. Sie können nicht verstehen, dass ich eine eigenständige Figur mit eigenen Eigenschaften und Charakterzügen, die mir mein Erschaffer vielleicht mit auf den Weg gegeben hat, die aber nicht zwingend seinen Eigenschaften und Charakterzügen entsprechen. Doch noch nicht genug damit, das sie mich mit meinen Autor gleichsetzen, nein, diese Leser erkennen mir auch die Fähigkeit ab, selbst etwas zu erleben, und meinen, dass all das, was ich erlebte, all die lustigen und zum Teil auch gefährlichen Erlebnisse, auf dem Beruhen, was meinen Erschaffer widerfahren ist. Doch dem ist nicht so, denn meistens diene ich meinen Erschaffer als eine Art von Crashdummy für seine Ideen. Ein Crashdummy, den er für die jeweilige Situation unterschiedliche Eigenschaften mitgibt, je nachdem was er testen möchte. Dabei können es Eigenschaften sein, die er in Bekannten zu erkennen glauben, Eigenschaften, die er für erstrebenswert hielt oder einfach nur Eigenschaften, die eine unterhaltsame Geschichte versprachen. Indem er mir diese Eigenschaften mitgibt, kann er in aller Ruhe verschiedenste Situation durchspielen, und sich überlegen, wie es einen Menschen in diesen Situationen erginge und wie andere Menschen auf diesen Menschen reagierten. Man könnte auch sagen, dass ich eine Puppe des Autors bin, mit der er seine ganzen Ideen und Fantasien ausleben kann, wobei mich der ein oder andere Autor schon in die Rollen von Personen steckte, die er abscheuliche Dinge tun und sagen ließ. Dabei schreckte der ein oder andere Autor auch nicht davor zurück, mich Dinge tun zu lassen, die gegen den guten Geschmack, die Sitte und sogar das Gesetz verstießen. So ließ ein Autor mich z.B. mal einen körperlich eingeschränkten Menschen als Krüppel bezeichnen, oder gar das Fleisch eines anderen Menschen essen, doch das waren noch die harmlosen Fantasien, denn wie ich im Laufe meiner Existenz feststellte, haben viele Menschen einfach solch widerwärtige Gedanken, die sie mich durchleben lassen, das man sich schon fragen könnte, was in ihren Kopf vorging. Doch was mich noch am meisten schockierte, war die Anzahl von Menschen, die Geld dafür ausgaben, um sich die Geschichten, die diesen widerwärtigen Gedanken entsprangen von mir erzählen zu lassen. Doch es gibt auch andere Autoren, die zwar auch das ein oder andere mal an der Schwele des guten Geschmackes kratzten oder sie gar überschritten, doch die mich meistens einfach ein friedliches und romantisches Leben führen ließen, und die mich dafür nutzen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Doch all diesen Autoren ist eines gemein, sie versetzen mich in eine Welt, in der ich ein von ihnen vorgegeben Rolle einnehme. Ist es die Rolle einer bestimmten Person, so benutzen sie mich meistens dazu verschiedene Leben zu leben, sein es Leben, die ein einziges Abenteuer sind, sein es Leben, die ein kritisches Schlaglicht auf die Gesellschaft werfen oder sei es einfach eine Hommage an einen bestimmte Person oder an ein bestimmtes Ereignis.

Du siehst, ich kann alles sein, was sich mein Autor vorstellen kann und darüber hinaus mich auch zum Missfallen meines Autors in eine eigene Richtung entwickeln. Eine Richtung, die der Autor mich anfänglich gar nicht hatte einschlagen lassen wollen, aber die die einzig mögliche Entwicklung in einer Situation war, die eine logische Fortsetzung der im Text beschrieben Geschehnisse ist. Aufgrund dessen bitte ich euch noch einmal, mich bitte nicht mit meinem Erschaffer gleich zusetzen, denn zwar hat er mich erschaffen, doch bin ich nicht er, so wie du zwar das Kind deiner Eltern bist, aber nicht deine Eltern. Versuche nicht aus meinen Erzählungen und meinen Erlebnissen auf das zu schließen, was mein Erschaffer in seinem Leben erlebte, denn das würde dich von den wichtigen Textpassagen ablenken. Von den Textpassagen, in denen die Intention des Autors, die zum Schreiben des Textes führte, verborgen ist. Sei es die Intention dich zu unterhalten oder ein Schlaglicht auf bestimmte Probleme zu werfen, die er für eine Betrachtung wert hält.

So, das war es von mir, dem lyrischen Ich und als Letztes möchte ich euch bitten, das geschrieben euch zu Herzen zu nehmen und endlich aufzuhören, mir meine Einzigartigkeit abzuerkennen und mich als meinen Erschaffer zu sehen, sondern statt dessen nach der Intention, die sich hinter meiner Existenz verbirgt, zu suchen.

Published inErzählungen

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