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Momente – Teil 31: In einem Lokal

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Ich sitze in einem Lokal, einer mir fremden Frau gegenüber und weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Ich sitze da, da mich ein Kumpel dazu überredete mit ihm, an diesem Tag, in das Lokal zu gehen, um Spaßeshalber beim ‚Speed-Dating‘ mitzumachen. Beim Speed-Dating, dass der Lokalbetreiber als besonderes Event für diesen Tag geplant hat.
Anfänglich wollte ich beim Speed-Dating nicht teilnehmen, da ich der Meinung bin, dass das Kennenlernen bei solchen Events eigentlich nur auf Oberflächlichkeiten beruht. In erster Linie auf dem Aussehen der anderen Person, also ob sie einen persönlich auf Anhieb gefällt, dann vielleicht noch etwas der Geruch und dann kommt auch schon der Punkt mit der Selbstdarstellung. Die, die sich wirklich gut selbst darstellen oder verstellen können, haben gute Chancen einen Nutzen aus solchen Veranstaltungen zu ziehen. Was aber mich betrifft, so habe ich schon vor Jahren angefangen mir abzutrainieren, beim Kennenlernen von anderen Menschen nach dem Aussehen zu gehen, denn bereits in jungen Jahren lernte ich, dass nur allzu oft der Schein trügt. Darüber hinaus bin ich auch eher ein introvertierter Mensch, besonders dann, wenn ich mich in mir unbekannten Kreisen unter mir unbekannten Menschen bewege.
Also warum bin ich hier? Warum habe ich mich von meinem Kumpel breitschlagen lassen, hier, an dieser Aktion, teilzunehmen? Weil er es geschafft hat, an meinen Abenteuergeist zu appellieren. Er machte mir die Teilnahme schmackhaft, indem er zum Ausdruck brachte, dass so ein Speed-Dating, vor allem, da ich noch nie an einem teilgenommen hätte, eine gute Möglichkeit sei, meinen Horizont und meinen Erfahrungsschatz zu erweitern. Mit dieser schlichten und einfachen Darlegung traf er einen meiner wunden Punkte, nämlich den, dass, wenn nicht wirklich etwas absolut dagegen spricht, probieren über studieren geht. Da ich beim Speed-Dating nichts finden konnte, dass mir in irgendeiner Weise zum Nachteil gereichte oder Schaden zufügte, stimmte ich schließlich zu und begleitete meinen Kumpel.
Wir gingen also zum Lokal und schon bald ging das Stühlerücken los. Bei den ersten Frauen, denen ich gegenübersaß, wusste ich nicht, was ich sagen sollte und das, was die Frauen von sich gaben, klang nach Marktschreierinnen, die ihre Waren anpriesen, wobei sie selbst ihre angepriesene Ware waren. Ich hatte fast den Eindruck, auf einen Sklavenmarkt zu sein, auf dem man die ganzen Vorzüge, die man besitzt, anpreist, auf dass der Andere, Interesse an einem fände und zumindest einer der potentiellen Interessenten, einem am Ende des Tages mitnähme, um dann einander zu Diensten zu sein. Kurz, ich fand das, was ich erlebte, schlicht und einfach verstörend.

Da war ich nun in dem Lokal und rückte Stuhl um Stuhl, bei jedem Gong einer Glocke, die alle fünf Minuten geschlagen wurde, weiter. Jetzt sitze ich wieder einer neuen, mir unbekannten Frau gegenüber, doch im Gegensatz zu den anderen Frauen fängt sie nicht gleich an, zu versuchen, sich an mich zu verkaufen. Nein, stattdessen sitzt sie einfach nur still da und schaut mich musternd an. Anfänglich sitze ich auch einfach nur da, bis ich mich nach einigen Sekunden dazu durchringe, zumindest ein „Hallo“ zu sagen. Doch scheinbar war das der falsche Einstieg in die Unterhaltung, denn mit leicht genervt klingenden Tonfall fragt sie: „Hallo, und wer bist du jetzt?“ „Ich heiße…“ „Nein.“, unterbricht mich die Frau barsch, bevor sie ergänzt: „Ich möchte nicht wissen, wie du heißt, ich möchte schlicht und einfach wissen, wer du bist.“ Ich überlege einen Moment und antworte: „Ein Mensch.“, woraufhin sie ihre Augen verdreht und meint: „Ich wollte auch nicht wissen, zu welcher Tierart du gehörst, denn schließlich sind alle hier Anwesenden, auch wenn es bei einigen schwerfällt zu glauben, Säugetiere der Gattung Mensch. Also, noch einmal, wer bist du?“ Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll und entscheide mich noch einem weiteren Moment des Überlegens für die Antwort, von der ich denke, dass sie sie an diesem Abend noch nicht gehört hat. Ich antworte: „Ein Veganer.“ Diese Antwort bringt sie tatsächlich etwas aus dem Tritt, denn sie schaut mich plötzlich verblüfft an. Doch nur für ein paar wenige Sekunden, bevor sie meint: „Ich habe nicht nach deiner ernährungstechnischen Einstellung gefragt. Also sag mir, kurz und knapp, wer bist du?“ Worauf mir der Geduldsfaden reißt und ich leicht aufbrausend sage: „Verdammt, ich bin einfach nur ‚Ich‘!“, da lacht sie und meint: „Das ist doch schon einmal ein guter Anfang. Es ist ein Anfang, dass du einfach du bist und hier nicht vorgibst, irgendjemand anderes zu sein, um deine Chancen bei den anderen Frauen oder mir zu verbessern. Wobei, eigentlich ist ‚man selbst zu sein‘ nicht nur hier von nutzten, sondern generell im Leben. Doch warum verstellen und verbiegen sich dann nur so viele Menschen im Leben um etwas dazustellen, was sie eigentlich nicht sind?“ Von ihrer Antwort und Frage etwas überrascht, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich überlege, was sie mir mit ihrer Offenbarung sagen möchte? Was möchte sie mir mit der Aussage, dass sie es gut findet, dass ich, einfach ich bin, sagen? Sie weiß doch nicht, wer ich bin. Sie weiß doch nicht, was mein wirkliches ‚Ich‘ ist. Wie kann sie dann generell die Aussage treffen, dass es gut ist, wenn ich ‚Ich‘ bin?
Über mein Nachdenken vergeht die Zeit und der Gong erklingt erneut. Der Gong erklingt, doch das nehme ich nur am Rande meines Bewusstseins wahr. Erst als die Frau, die mir gegenübersitzt, meint: „Unsere Zeit hat geschlagen, es ist Zeit für dich aufzustehen und weiterzugehen.“, erhebe ich mich wie von selbst und rutsche einen Stuhl weiter.

Die restlichen „Kennenlernrunden“ an diesem Abend absolviere ich wie auf Autopilot, da mir dieses eine Gespräch einfach nicht aus dem Kopf gehen möchte. Das Gespräch beschäftigt mich, obwohl ich schon nicht mehr weiß, wie die Frau aussieht, mit der ich es führte. Ihr Gesicht verblasst hinter der These, die sie aufstellte.

Als ich mich schließlich nach den ganzen ‚Speed-Dates’ auf den Nachhauseweg mache, denke ich: „Ja, das ‚Speed-Dating‘ war eine Erfahrung, wie mein Kumpel meinte, doch was für eine? Das muss sich wohl erst noch zeigen.“

Published inMomente

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