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Momente – Teil 33: An einem Brunnen

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Ich sitze am Rand eines Brunnens und warte auf mein Date. In meinen Händen halte ich einen selbst gepflückten und gebundenen Blumenstrauß. Ich sitze da und warte, vor Vorfreude ganz zappelig, denn es ist eine ganz besondere Frau, die ich zu treffen beabsichtige. Ich treffe eine Frau, in die ich so verliebt bin, wie ich es seit meinem vierzehnten Lebensjahr in keine mehr war.
Schließlich kommt mein Date. Sie begrüßt mich herzlich mit einer Umarmung und dann reiche ich ihr meinen selbst gepflückten Blumenstrauß. Doch statt der erwarteten Freude, verfinstert sich ihre Miene und statt eines Dankes, sagt sie: „Das hättest du nicht tun sollen.“ „Was hätte ich nicht tun sollen?“, frage ich Begriffsstutzig, wie ich nun einmal bin. „Du hättest die Pflanzen nicht abschneiden und zu einem Blumenstrauß binden sollen. Du hättest sie einfach stehen und leben lassen sollen, anstatt sie abzuschneiden und zu binden, auf das sie vor ihrer Zeit vertrocknen und vergehen.“ „Aber ich wollte dir doch nur eine Freude bereiten.“, sage ich verlegen, da sie nicht wie erwartet reagiert, sondern stattdessen sogar von mir enttäuscht ist. „Ich wollte dir mit dem Blumenstrauß zeigen, dass du für mich ein ganz besonderer Mensch bist. Du bist für mich ein ganz besonderer Mensch und in unserer Gesellschaft ist es nun einmal Anstand und Sitte, bei besonderen Anlässen, wie dieses Treffen eines für mich ist, solchen besonderen Menschen Blumensträuße zu schenken.“, gehe ich in Verteidigungshaltung. „Nur weil etwas gesellschaftlich verbreitet ist, heißt es noch lange nicht, dass es gut ist. Bleiben wir einmal bei dem Blumenstrauß, so überreichst du mir, wenn du ihn mir schenkst, einen verstümmelten Organismus der über kurz oder lang, lang vor seiner eigentlich Zeit, sterben wird. Du überreichst mir etwas Sterbendes und was denkst du, was diese Geste wirklich ausdrückt? Drück diese Geste vielleicht aus, dass unsere Bekanntschaft auch nur für kurze Zeit gut aussieht und lebendig scheint, bevor sie viel zu schnell vergeht? Wäre es in diesem Kontext nicht besser, mir eine lebendige Pflanze, die noch über ihre Wurzeln verfügt und in einem Blumentopf sitzt, zu schenken? Eine lebendige Pflanze, vielleicht noch mit dem Spruch ‚Diese Pflanze kannst du pflegen, wie wir unsere Beziehung pflegen und wenn du sie gut pflegst, wird sie dir lange Zeit Freude bereiten, so wie ich hoffe, dass dir unsere Bekanntschaft Freude und Glück bereitet.‘ Das wäre doch einmal etwas wirklich Schönes und Aufmerksames, anstatt einem etwas Sterbendes zu schenken, was nur vergehen kann.“
Von den Ausführungen meines Dates etwas überrollt, weiß ich nicht gleich, was ich sagen soll. Ich komme mir dumm vor, denn alles, was sie sagt, ergibt Sinn. Doch warum ist mir selbst noch nie dieser Gedanke gekommen? Warum fiel mir dieser Aspekt des Schenkens von Blumen bisher nicht auf? Weil ich nicht darauf achtete und mir keine Gedanken darüber machte und stumpfsinnig, gesellschaftlichen Konventionen folgte. Doch was soll ich jetzt tun? Was soll ich zu meinem Date sagen?
Nach einem Moment des Nachdenkens antworte ich ihr: „Ja, du hast recht. Ich habe nicht nachgedacht. Die Blumen wären tatsächlich besser ganz und am Leben geblieben. Doch dafür ist es jetzt leider zu spät. Ich kann den Blumen nicht neues Leben geben, doch was hältst du davon, wenn wir beide uns zwei Eichen großziehen? Es ist ja gerade Herbst und es liegen viele Eicheln am Boden verstreut, von denen wir uns paar auflesen und anpflanzen können. Wer weiß, vielleicht entwickeln sich ja zwei oder mehr kräftige Bäume aus ihnen, die uns dann unser Leben lang begleiten? Was meinst du dazu, wäre das eine ausreichende Kompensation für die geschnittenen Blumen und von der Bedeutung her besser geeignet, dir meine Zuneigung zu zeigen?“
Jetzt ist es an meinem Date zu schweigen. Sie sieht mich einfach einen Moment still an, bevor sie mir ihre Antwort mitteilt. Es ist eine Antwort, die das Potential hat, mein Leben nachhaltig zu verändern.

Published inMomente

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