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Momente – Teil 38: Auf der Straße

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Ich bin zu Fuß auf dem Weg in die Stadt, als ich zufällig einer alten Bekannten, wobei es eigentlich einmal eine gute Freundin war, über den Weg laufe. Ich grüße sie und sie erwidert meinen Gruß. Ich stehe da und überlege, was ich sagen oder fragen soll, schließlich bin ich ihr zum letzten Mal vor über einem Jahr begegnet. Doch mir fällt nichts ein, was ich sie fragen oder was ich zu ihr sagen könnte. Ich stehe ihr einfach nur gegenüber und sehe sie an. Aber scheinbar geht es nicht nur mir so, denn sie sagt auch kein Wort und so fühlt es sich an, als hätte sich eine Wand zwischen uns geschoben. Eine Wand, mit einem Fenster, durch das wir unser Körper sehen, aber nicht unsere Leben. Die Wand ist eine Mauer, die früher nicht da war, als wir uns noch regelmäßig begegneten. Doch jetzt ist sie da und die Anknüpfungspunkte, die früher zuhauf zwischen uns bestanden, sind alle weg, unterbrochen durch die Mauer, die auf einmal zwischen uns steht.
Da ich nicht weiß, was ich anderes tun könnte, flüchte ich mich in Smalltalk. Ich flüchte mich in Standardfragen, die eigentlich nichts aussagen und sich konträr zu der Freundschaft, die wir einst führten, verhalten. Es sind Fragen, auf die man eigentlich in einer Freundschaft oder guten Bekanntschaft die Antworten wissen müsste, da man im regen und regelmäßigen Austausch miteinander steht. Doch diesen, für eine gute Freundschaft notwendigen Austausch, gibt es zwischen meiner alten Freundin und mir nicht mehr.
Ich frage: „Wie geht es dir so?“ „Mir geht es ganz gut und dir?“ „Ja, mir auch.“ Soviel zum Einstieg, doch wie weiter? Was bleibt noch zu fragen? Mir wird schmerzlich bewusst, dass die Freundschaft, die wir einst führten, eingeschlafen ist. Mir wird bewusst, dass ein ‚Stranger‘ vor mir steht, von dem ich nichts mehr weiß. Ich weiß nicht, was sie gerade beruflich macht. Ich weiß nicht, welche Lebensphilosophie und welchen Lebensstil sie gerade pflegt. Ich weiß einfach überhaupt nichts mehr von ihr!
„Was macht die Arbeit.“, flüchte ich mich in die nächste Standardfrage. „Mal so, mal so. Das übliche halt. Und bei dir? Bist du noch bei deiner alten Firma?“ „Ja, bin ich und die Arbeit macht auch noch überwiegend Spaß.“, und schon wieder weiß ich nicht mehr, was ich fragen oder sagen soll. Wäre die Person, die jetzt vor mir steht, wirklich ein kompletter ‚Stranger‘, bräche ich das Gespräch spätestens an dieser Stelle ab und brächte eine Entschuldigung vor, dass ich dringend weiter müsste. Doch die Person, die da vor mir steht und von der ich leider nichts mehr weiß, ich kein x-beliebiger Stranger. Sie ist eine alte Freundin, mit der ich viele schöne Jahre verbrachte. Sie ist eine Person, von der ich dachte, dass unsere Freundschaft die Zeit überdauert. Doch dem war offensichtlich nicht so. Irgendwo auf unseren Lebenswegen haben wir den Bezug zueinander und uns aus den Augen verloren. Irgendwo auf unseren Lebenswegen kam eine Weggabelung, die uns in verschiedene Richtungen führte.
Ich denke zurück. Ich denke an eine schöne Zeit. Ich denke an die vielen Momente, in denen wir herzhaft und glücklich lachten. All das liegt in der Vergangenheit und jetzt weiß ich nicht einmal mehr, was ich sie fragen oder was ich zu ihr sagen soll.
Ich schau meine alte Freundin an und sie schaut wortlos zurück. Schließlich, nach ein paar bedrückenden Minuten, schaut sie auf ihr Uhr und sucht dann, mit den Worten: „Ich muss dann auch los. Ich habe noch einen wichtigen Termin.“, die Flucht. Wir verabschieden uns voneinander und gehen wieder unsere getrennten Wege. Ich setze meinen Weg in die Stadt fort, wobei jegliche Ambition, die ich ursprünglich verspürte, verflogen ist. Bei der Begegnung mit meiner alten Freundin wurde mir schwer ums Herz, da sie mir bewusst machte, wie viele meiner alten Freundschaften einschliefen und verkamen. Sie machte mir bewusst, dass der Traum von einer wahren Freundschaft, die die Zeit überdauert, zumindest für mich, eine Lüge ist. Sie ist eine Lüge, da sich meine Vorstellung von einer wahren Freundschaft, die die Zeit überdauert, nie erfüllte.

Als mich meine Füße weiter in Richtung Stadt tragen, wird bewusst, dass ich als ‚einsamer Wolf‘ durch die Welt und Zeit ziehe und ich frage mich, wie viele Menschen auch keine Freundschaften finden, die die Zeit überdauern. Ich frage mich, wie viele Menschen, obwohl sie eigentlich echte und gute Freundschaften suchen, nur Freundschaften für kurze Lebensabschnitte finden. Ich frage mich, wie viele Menschen Abstand vom Konzept der ‚wahren Freundschaft‘ nehmen, da sie keine guten und wahren Freundschaften finden, sondern nur temporäre, die viel zu schnell vergehen oder mit der Zeit einschlafen und am Ende tiefe Löcher in ihren Seelen zurücklassen.

Published inMomente

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