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Momente – Teil 37: Im Wohnzimmer

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

„Du hast mir mein ganzes Leben kaputt gemacht! Du hast mir alles genommen! Du hast mir mein Leben gestohlen!“ schreit mich meine Freundin, oder sollte ich besser sagen, meine seit kurzem Ex-Freundin an. Meine Ex-Freundin, mit der ich bis vor fünf Minuten, seit beinah zehn Jahren, zusammen gewesen bin. Auf einmal brach es aus ihr heraus. Auf einmal schrie sie mich an, dass ich ihr, ihr Leben ramponiert hätte.
Ich stehe einfach nur da, während sie mir Anschuldigung um Anschuldigung ins Gesicht schreit. Ich stehe da und mit jeder Anschuldigung spüre ich, wie mein Herz in immer kleiner Teile zerbricht. Was ist nur geschehen, dass meine Freundin mich auf einmal so anschreit? Ich überlege, doch mir fällt nichts ein! Ich weiß nur, dass sie mir, von einem auf den anderen Moment, die Schuld an all den Dingen gab, die in ihren Leben schiefliefen. Sie gibt mir die Schuld, an ihrer Arbeitsplatzwahl, die sie unglücklich macht. Die Schuld daran, dass sie nicht die erhoffte Beförderung bekommen hat. Und vor allem die Schuld daran, dass ich ihr, ihr Leben geraubt hätte.
Aufgrund der Fülle der Anschuldigung, die sie mir nach und nach ins Gesicht schreit, weiß ich nicht, wo und wie ich anfangen soll etwas zu sagen. Wie versuchen, zu verstehen, was gerade passiert? Schließlich sagt meine Freundin: „Alles in den zehn Jahren unserer Bekanntschaft war schlecht. Alles, wirklich alles, hat nur dazu geführt, dass ich unglücklicher und unglücklicher wurde.“ und als meine Ohren das vernehmen und das Ding, dass sich zwischen meinen Ohren befindet, anfängt zu verstehen, was sie da gerade eigentlich zum Ausdruck bringt, zersplittert etwas in mir. Es ist mein Welt- und Lebensbild, dass ich bis gerade eben noch hatte, das zersplittert. Doch, nicht nur das. Ich habe auch den Eindruck, dass seine Reste von einem Schwarzen Loch aufgesaugt werden und nur eine bedrückende Leere in mir bleibt. Vor meinem inneren Auge fliegen all die schönen Momente, die ich mit meiner Freundin erlebte, vorbei. All die schönen Erinnerungen an unserer Momente des Glückes, von denen sie auf einmal behauptet, dass es sie nie gegeben habe und sie eben nie Glück in ihnen empfunden hätte. Nein, dass konnte nicht sein! Nein, dass durfte nicht sein! Hatte ich wirklich all die Jahre nur eine Lüge gelebt?
Ich denke nach und frage mich, ob ich mich all die Jahre selbst belogen habe. Hat mich meine Menschenkenntnis all die Jahre so im Stich gelassen, dass ich nicht erkannte, dass meine Freundin in unserer Beziehung unglücklich war? Hatte ich vielleicht all die kleinen Merkmale, die normalerweise darauf hindeuten, dass etwas nicht stimmt, einfach nicht gesehen oder unbewusst ignoriert? „Ja, das war möglich.“, muss ich mir eingestehen. Doch kann ich mir nicht vorstellen, dass mich meine Gefühle und meine Menschenkenntnis fast zehn Jahre lang getrogen haben. Nein, sicherlich nicht!
Während weiter Wortschwall um Wortschwall meiner Freundin über mich ergeht, denke ich noch einmal zurück. Ich lasse Jahr um Jahr, Monat um Monat unserer Beziehung vor meinem inneren Auge Revue passieren. Während dieses Prozesses des Reflektierens stelle ich fest, dass ich doch zum Teil blind gewesen bin. Zwar nicht die ganze Zeit, doch zum Ende hin, als Gewöhnung und der Alltag in unsere Beziehung Einzug hielten.
Am Anfang waren wir wirklich glücklich. Wir lachten viel und verlebten viele schöne Momente. Das zu leugnen wäre falsch! Doch irgendwann kam die Gewöhnung und man lebte einfach nur noch zusammen, aber nicht mehr wirklich miteinander und auf Augenhöhe. Man machte halt sein Ding. Man machte halt das, was man die ganze Zeit gemacht hat. Und ja, ich war vielleicht nicht der beste Partner. Ich war vielleicht auch nicht der Partner, den meine Freundin wirklich verdiente, da ich nicht immer für sie da war und ich ihr auch nicht jeden Wunsch von den Lippen abgelesen habe. Doch ich habe sie auch nicht bewusst ausgebremst, ihr Steine in den Weg gelegt oder sie unfair behandelt. Ich habe sie im späteren Verlauf unserer Beziehung halt so behandelt, wie ich auch eine einfache Freundin behandelte, nur dass ich mit ihr zusätzlich noch das Bett teilte. Ich behandelte sie die letzten Jahre unserer Beziehung nicht mehr wirklich so, wie man einen vom Herzen geliebten Menschen behandelt. Ich denke über unsere einstige Liebe nach und der Grund, der sich für mein Verhalten herauskristallisiert, ist die Gewöhnung, die in unsere Beziehung Einzug hielt und mich vergessen ließ, was für eine besondere Person doch meine Freundin ist.
Aufgrund dieser Gedanken unterbreche ich meine Freundin in ihrem Redeschwall und sage: „Du tust mir unrecht, wenn du mir jetzt die Schuld an allem gibst, was in deinem Leben nicht geklappt hat. Du magst deine Gründe haben, dass du jetzt all deinen Ärger auf mich projizierst und einer der Gründe mag sein, dass, wie mir gerade bewusst wurde, schon seit einiger Zeit keine Liebe mehr in unserer Beziehung wohnt. Doch Beziehungen sind in der Regel nie einseitig und so hättest auch du etwas sagen können, als du merktest, dass dich etwas an unserer Beziehung stört oder ausbremst. Du hättest den Dialog mit mir suchen können, damit wir vielleicht gemeinsam eine Lösung für das Problem finden. Doch du sagtest nie etwas und so kommt es jetzt für mich überraschend, dass du mir die Schuld an so vielen Dingen gibst, die in deinem Leben schiefliefen.
Während du mir die ganzen Vorwürfe machtest, dachte ich an die letzten Jahre unserer Beziehung zurück und merkte und sah, dass in unserer Beziehung keine Liebe mehr wohnt. Hätten wir das früher erkannt und darüber gesprochen, hätte es vielleicht nie zu dieser Situation, die wir jetzt erleben, kommen müssen. Vielleicht wäre es da noch nicht zu spät gewesen und es hätte noch einen anderen Lösungsweg, als die Schuldzuweisungen und den Bruch unserer Beziehung, gegeben. Doch dafür ist es jetzt zu spät und so bleibt uns eigentlich nur noch, einen Schlussstrich zuziehen. Lass uns unsere Beziehung und die letzten zehn Jahre vernünftig abschließen, anstatt uns gegenseitig die Schuld zuzuweisen. Lass uns von den Schuldzuweisungen Abstand nehmen, da sie einfach nichts bringen. Projiziere bitte nicht deine Wut, die du scheinbar verspürst, auf mich und auf unsere vergangene Beziehung, sondern lasse uns schauen, dass wir als selbstständige Menschen, die noch in den Spiegel blicken können, von hier an weitergehen. Lass uns schauen, dass wir unsere individuellen Leben von hier an aufrecht gehen können. Unsere Leben, in denen wir vielleicht kein Liebespaar mehr sind, aber dennoch Freunde oder wenigstens Kumpels.“
Das gesagt, schaue ich meine Freundin fragend an. Ich merke, dass sie mich am liebsten noch weiter anschrie, doch sie tut es nicht. Stattdessen dreht sie sich schlicht und einfach um und geht von dannen. Nur noch ihren Rücken sehend, frage ich mich, ob es uns gelingen kann, unsere Beziehung vernünftig zu Ende zu bringen oder ob Hass und Schuldzuweisungen das Ende bestimmen werden.

Published inMomente

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