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Momente – Teil 39: In der Fußgängerzone

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Ich bin in der Fußgängerzone unterwegs, als eine junge Frau, Arme wedelnd, versucht meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie schaut mich an, wedelt mit den Armen und ich erkenne, dass sie eine Unicef-Jacke trägt. Also wahrscheinlich wieder jemand, der für die ‚Unterstützung eines guten Zweckes’ werben und mein Geld haben möchte.
Die junge Frau erreicht mich und bleibt vor mir stehen. Sie fragt: „Wohin des Weges.“ „Zum Einkaufen.“ „Ach, das hat ja bestimmt noch etwas Zeit, da können wir uns ja sicherlich etwas unterhalten.“ „Mmh.“ „Kommst du kurz mit rüber zu meinem Freiluftbüro?“ Während sie das sagt, zeigt sie auf die andere Straßenseite und fügt noch hinzu: „Natürlich erst, wenn die S-Bahn vorbeigefahren ist, es hat ja keinen Sinn uns totfahren zu lassen.“ Während wir warten, dass die S-Bahn vorbeifährt, fragt die junge Frau: „Wo wohnst du?“ „Hier, in dieser Stadt.“, erwidere ich, worauf die junge Frau meint: „Ach, das hätte ich bei deinem Dialekt nicht gedacht, wohl zugezogen?“ „Ja.“ „Also ich komme vom Bodensee. Schon einmal dort gewesen?“ „Nein, ich reise nicht viel.“ Dann ist die S-Bahn vorbeigefahren und ich folge der jungen Frau zu ihrem ‚Freiluftbüro‘.
Auf der anderen Straßenseite angekommen fragt die junge Frau: „Weißt du überhaupt was ‚Unicef‘ ist?“ „Ja, Unicef ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.“ „Das stimmt. Was denkst du, wie viele Menschen auf der Welt Hunger leiden?“ „Ungefähr eineinhalb Milliarden.“ „Also, nicht ganz so viele. Schwer vom Hunger betroffen sind etwa 800 Millionen. Zwei Milliarden Menschen sind mangelernährt.“ Anschließend an ihre Ausführung dreht sie sich die junge Frau einer Schale mit Anschauungsstücken zu und nimmt einige davon in die Hand. Mit den Anschauungsstücken in der Hand wendet sie sich wieder mir zu. Als Erstes zeigt sie mir ein Maßband das verschiedenfarbig eingefärbt ist und fragt mich: „Weißt du, was das ist?“ „Ja, ein Maßband um festzustellen, ob eine Person oder ein Kind unterernährt ist. Damit misst man den Umfang des Arms einer Person, als Beurteilungsgrundlage.“ „Ja, du hast recht, um genau zu sein, den Oberarm. Ist es nicht erschreckend, wie dünn die Arme von ausgehungerten Kindern sein können?“ Während sie das sagt, formt sie einen Kreis, mit einem ganz schmalen Durchmesser, mit dem Maßband. Dann tut sie das Maßband zur Seite und zeigt mir drei andere Anschauungsstücke. Sie zeigt mir zwei Döschen und eine gefüllte Aluminiumtube. Mich fragt sie: „Und, weißt du auch was das ist?“ „Das eine sieht aus wie eine Notration aus, während die zwei Döschen Medikamente enthalten könnten.“ „Fast, das eine ist tatsächlich eine Nahrungsration. Doch in dem einen Döschen befinden sich Milchpulvertabletten und in dem anderen Wasserreinigungstabletten. Wie du ja sicher weißt, gibt es in vielen Ländern kein sauberes Trinkwasser, so dass man es erst mit der einen Tablette reinigen muss und dann mit den Milchpulvertabletten eine Art ‚Grundnahrungsmittel‘ daraus macht.“
In diesem Moment unseres Gesprächs merke ich, dass es jetzt zu dem Punkt kommt, an den sie mein Geld zur Unterstützung der Projekte von Unicef haben möchte. Ich erkenne das daran, dass sie sich umschaut, ob gerade ein Ordner frei ist oder in Verwendung eines ihrer Kollegen. Ein Ordner, wie ihn viele für Hilfe werbende Personen dabei haben. Ein Ordner, der Bilder enthält, an denen Geldbeträge stehen, die angeben sollen, mit welcher Summe die jeweilige Organisation, welche Ziele erreichen kann. Und ja, ein Ordner ist frei und so sagt die junge Frau: „Das so weit zu den Informationen. Darf ich dir jetzt zeigen, wie du Unicef unterstützen kannst?“ „Nein, lass mal gut sein. Ich unterstütze schon genug Hilfs- und Umweltorganisationen und Vereine.“ „Was unterstützt du denn?“ „Verschiedene lokale Projekte, wie den Katzenschutzverein Karlsruhe mit Einmalspenden und dann noch zwei Organisationen als Fördermitglied.“ „Ach so, das ist schon einmal gut. Doch du kannst ja sicherlich trotzdem noch einen kleinen Betrag jährlich aufbringen, mit dem du Unicef unterstützten könntest? Das täte dir doch sicherlich finanziell nicht weh? Was denkst du, mit wie viel Geld am Tag du uns bereits unterstützen könntest? Was denkst du, mit welchen Beitrag ich, die gerade ihr Gymnasium abgeschlossen hat und sich aufs Studium vorbereitet, Unicef unterstütze?“ „Ich würde schätzen zwischen 50 Cent und einem Euro pro Tag.“ „Oh, da kennt sich ja jemand aus. Tatsächlich unterstütze ich Unicef mit etwa einem Euro pro Tag. Und mal ehrlich, das täte dir doch sicherlich auch nicht weh? Ein Euro zu geben, bedeutete ein Coffee-to-go oder einen Energydrink pro Tag weniger zu trinken.“ „Diese beiden ‚Getränke’ trinke ich nicht, also kannst du mich so nicht ködern. Wie bereits gesagt, ich unterstütze für meine aktuelle Lebenslage erst einmal genug Hilfs- und Umweltorganisationen und Vereine.“ „Kann ich dich wirklich nicht überzeugen? Ich sage immer: ‚Lieber viele Hilfs- und Umweltorganisationen und Vereine mit wenig Geld unterstützen um Präsenz und Stimmbild zu zeigen, anstatt wenige.‘ Also zeig doch, mit einer kleinen Unterstützung, dass deine Stimme auch für die Ziele von Unicef steht!“ Ich schüttle nur meinen Kopf. Doch damit gibt sich die junge Frau immer noch nicht zufrieden und den Kampf um mein Geld nicht auf. Stattdessen fügt sie noch hinzu, wobei sie auf ihre zwei Mitstreiter zeigt: „Wir alle hier sind in mehreren Hilfs- und Umweltorganisationen und Vereinen Mitglieder. Ich bin beispielsweise noch bei Greenpeace organisiert. Es ist nun einmal so, dass häufig immer die gleichen Menschen Unterstützung geben, während andere mehr oder weniger ignorant durch ihre Leben dümpeln. Wenn du auch einer dieser Menschen bist, die gerne die Welt verbesserten, dann schau, dass du eine breite Unterstützung für Hilfs- und Umweltorganisationen zeigst, so dass sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Also, überlegst du es dir noch einmal?“ „Heute nicht, vielleicht ein anderes Mal. Mach’s gut.“ Das gesagt, drehe ich mich um und gehe.

Ich mache mich auf den Weg zu mir nachhause, wobei meine Gedanken kreisen. Das Gespräch hat mich nachdenklich gemacht. Mir wird bewusst, dass die junge Frau recht damit hat, dass sich häufig immer die gleichen Menschen für gemeinnützige Organisationen einsetzen und arrangieren, während andere einfach in den Tag hinein und hinausleben. Doch mir wird auch bewusst, dass viele Organisationen, meines Empfindens nach, viel zu viel Geld und Arbeit in die Bekämpfung von Symptomen stecken, anstatt die Ursachen für die Symptome nachhaltig anzugehen und zu beseitigen.
Ich denke an Unicef und die Ernährungshilfe, die über Jahrzehnte in bestimmte Länder und Regionen fließt und das nicht nur als Konsequenz aus einer Katastrophe, zur Überbrückung einer schlechten Zeit. Nein, teilweise Jahrzehnt um Jahrzehnt. Mir wird bewusst, dass wir, vor allem in bestimmten Regionen der Welt, zu viele Menschen, mit einem viel zu großen ökologischen Fußabdruck, sind, als dass das Land und die Welt uns noch nachhaltig ernähren könnte.
Als ich so nachhause gehe, gelange ich zu der Überzeugung, dass es eigentlich nur zwei Wege gibt, von denen der Mensch mindestens einen begehen muss, um wieder nachhaltig und im Einklang mit der Natur leben zu können. Der eine Weg ist, den durchschnittlichen weltweiten Lebensstandard herunterzufahren und der zweite Weg, die Anzahl der Menschen auf der Welt nachhaltig zu reduzieren. Wobei viele Menschen in der ‚entwickelten‘ Welt sicher nicht auf ihren Lebensstandard verzichten möchten und darüber hinaus viele andere Menschen das Ziel haben, genau diesen weltzerstörenden Lebensstandard auch zu erreichen. Mit diesem Gedanken im Kopf wird mir bewusst, dass eine Erhaltung der Welt und der Menschheit nur gelingen kann, wenn es den Menschen gelingt ihre Population langfristig stabil zu halten oder gar zu reduzieren. Die Maßnahmen, die mir zur Erreichung des Ziels in den Sinn kommen, sind, Bildung und sexuelle Aufklärung, so dass Frauen nicht ungewollt schwanger werden. Soziale Sicherungssysteme, so dass Kinder nicht mehr als Altersvorsorge gezeugt und großgezogen werden. Die Verabschiedung von dem Gedanken, dass Kinder ‚Statussymbole‘ sind, wie er in einigen Gesellschaften vorherrscht und vor allem die Verabschiedung vom Gedanken, das ein Kind einer bestimmten Abstammung oder eines bestimmten Geschlechts mehr wert ist, als ein anderes. Mir fallen die patriarchalischen Gesellschaften ein, in denen Frauen teilweise so lange Kinder gebären müssen, bis ein männlicher Nachkomme das Licht der Welt erblickt, da nur er der ‚Stammhalter‘ sein kann. Ehrlich? Was für ein Nonsens!
Meine Gedanken schweifen ab und ich denke an den Katzenschutzverein, der verwilderte Katzen einfängt und sie sterilisiert oder kastriert, damit sie sich nicht ungehemmt ausbreiten, verwildern, Druck auf andere Tierarten ausüben und keinen Hunger leiden müssen. Ich denke daran, dass auch wir Menschen einen Weg finden müssen, zu schauen, dass wir zwar noch Kinder bekommen, aber nicht so viele, als dass die Weltbevölkerung noch weiter wachse. Wie bräuchten nur so viele Kinder, dass die Weltbevölkerung über die Zeit auf ein gesundes Maß schrumpfte. Oder, wie mir da einfällt, es dürften nicht mehr als zwei Komma eins Kinder pro Frau zur Welt kommen. Erst, wenn die Menschheit aufhört in ihrer Anzahl zu wachsen oder besser noch, schrumpft, kann es ihr vielleicht gelingen, nachhaltig und im Einklang mit der Natur zu leben. Zu leben, ohne die Welt, die sie ernährt, zu zerstören oder selbst zu leiden.

Ja, dass müsste das Ziel sein, doch warum zweifle ich nur daran, dass uns Menschen das jemals gelingen wird? Ich zweifle daran, da ich sehe, wie die Welt ist und ich immer wieder viele streng religiöse Menschen gegen Verhütung wettern und kinderreiche Familien propagieren höre. Ich sehe eine Welt, in der vielen Status und Statussymbole über alles geht.
Ich sehe eine Welt, in der viele Menschen, einfach alles dafür tun, dass sie sich schneller und schneller auf ihr Ende zu bewegt.

Published inMomente

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