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Momente – Teil 41: Am Frühstückstisch

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

„Was treibt dich eigentlich noch an?“ Diese Frage durchdringt plötzlich mein halb schlafendes Gehirn. Die Frage überrascht mich. Sie überrascht mich, da sie von einem Jahrzehnte alten, sehr guten Freund kommt, der für zwei Tage bei mir zu Besuch ist. Er ist für zwei Tage bei mir zu Besuch, wie jedes Jahr, seitdem ich umzog und plötzlich hunderte Kilometer zwischen uns lagen und wir uns nicht mehr wöchentlich sahen, sondern nur noch jährlich. Doch warum überrascht mich seine Frage? Sie überrascht mich, da sie von einem guten Freund kommt, der mich seit meiner Grundschulzeit kennt und aufgrund dessen eigentlich alles von mir wissen müsste. Er weiß eigentlich alles, was mir im Laufe meines Lebens widerfahren ist und aufgrund dessen auch, was meine Ziele waren und sind. Er weiß alles von mir! Also, was bewegte ihn nur dazu, gerade diese Frage zu stellen.
„Hey, aufwachen!“, durchdringt seine Stimme plötzlich zum zweiten Mal meine noch nicht ganz wachen Gehirnwindungen. Darauf hin sehe ich meinen guten Freund an und sage: „Ja, ich bin wach. Ich musste nur gerade über deine Frage nachdenken.“ „Wie kann man nur über so eine einfache Frage nachdenken? Man muss doch wissen, was einen antreibt! Wenn man schon über die Frage nachdenken muss, heißt das doch eigentlich, dass einem nichts mehr antreibt, sondern man einfach nur noch funktioniert und das tagein, tagaus.“ Aufgrund seiner Worte, die mir wie ein Angriff vorkommen, schweige ich einen Moment, bevor ich erwidere: „Ja, du hast recht. Auf Anhieb kann ich dir nicht sagen, was mich eigentlich noch antreibt. Manchmal fühle ich mich einfach wie eine Maschine, die um des funktionieren Willens, funktioniert. Eine Maschine, die das tut, was von ihr erwartet wird.“ „Manchmal?“, fragt mein guter Freund mit einem spöttischen Unterton, den ich ihn aber nicht übel nehmen kann, da ich ihn dafür zum einen zu gut kenne und er mit der Nachfrage einen wunden Punkt bei mir trifft. Mein guter Freund fährt fort: „Mit fiel die letzten Jahre, in denen ich dich besuchte, auf, dass mit jedem Jahr, mehr und mehr dein Elan, den du einst hattest, schwand. Das Feuer, das einst in dir brannte, dich antrieb und dich gegen jede Schwierigkeit für deine Überzeugungen kämpfen ließ, schwächer und schwächer wurde. Es verlosch langsam und jetzt, da ich hier, dir gegenüber sitze, habe ich gar den Eindruck, dass es vollkommen erloschen ist. Keine Lebensgeister erfüllen mehr deinen Blick. Nein, stumpf und trüb sind deine Augen geworden. Doch, nicht nur das! Ich habe sogar den Eindruck, dass du genau zu dem wurdest, was du jahrelang bekämpftest. Du wurdest zu einem stummen Zahnrand im Getriebe der Gesellschaft und in deiner ‚Freizeit‘ zu einem ‚Couchpotato’, das seine Zeit damit verschwendet, dem Konsum von zweifelhafter Unterhaltung und Verblödung nachzugehen, anstatt nach etwas Besserem, Nachhaltigerem zu streben!“
Die Worte meines guten Freundes schmerzen mich. Sie tun mir höllisch in meiner Seele weh. Sie tun mir weh, doch möchte ich mich nicht verteidigen. Am liebsten würde ich ihn zwar anschreien und ins Gesicht sagen, das er wohl spinne. ‚Ich, ein stummes Zahnrad im Getriebe der Gesellschaft? Dass ich nicht lache!’ Doch das Lachen und die Worte bleiben mir im Halse stecken, da mein guter Freund mit allem, was er sagt, recht hat. Er hat recht und da ich weiß, dass mir das mein guter Freund sagt, um mich wachzurütteln und nicht, um mich zu verletzen, nicke ich nur stumm und denke nach. ‚Was treibt mich noch an?‘ ‚Was lässt mich noch jeden Morgen aufstehen und den neuen Tag bestreiten.‘ Und da fällt mir ein, was mich und mein Leben noch am Laufen hält.
Ich sage zu meinem guten Freund: „Am Laufen halten mich die tagtäglichen Begegnungen mit Freunden und Bekannten, egal wie kurz oder lang sie auch sind. Die Begegnungen, in denen man sich einfach austauschen und gemeinsam lachen, weinen und Spaß haben kann.“ Worauf mein guter Freund erwidert: „Das ist schon einmal etwas. Es ist das, was dein Leben am Laufen hält, doch was treibt dich an? Was möchtest du in deinem Leben noch erreichen? Was auf der Welt bewegen? Was bringt dich dazu, deine geistigen Grenzen zu sprengen? Was vermag es, dein Herz wieder mit dem Feuer der Leidenschaft zu füllen? Kurz, was gibt deinem Leben einen wirklichen Sinn?“
Diese Fragen meines guten Freundes verunsichern mich. Ich überlege. Für was habe ich jemals mit Leidenschaft in meinem Leben gekämpft? Für was habe ich keine Kosten und Mühen gescheut, um es zu erreichen, auch wenn das Ziel kaum bis gar nicht erreichbar für mich war? Mir fällt der Gedanke der Aufklärung ein. Mir fällt ein, wie ich Jahrzehnte lang Diskussionen geführt und gestritten habe, damit meine Bekannten, und seien sie auch noch so flüchtig, einmal ihren Kopf benutzten und wissenschaftlichen Prinzipien, Einzug in ihre Gedankenwelt erlauben. Es war ein schwerer, anstrengender Kampf. Es war ein Kampf, an dem ich nach Jahren, ohne einen sichtbaren Fortschritt, die Lust verlor. Ich kapitulierte und ließ mich mit der Strömung treiben. Mit einer Strömung der Missinformationen und der Selbstdarstellung. Es war eine Strömung, die meine Ecken und Kanten, früherer Jahre, abschliff, so dass ich rund und bequem und für keinen mehr gefährlich wurde. Kein Mensch, keine Idee vermochte ich noch anzukratzen oder zu hinterfragen. Sie umfingen mich einfach und packten mich ein. Sie umfingen mich und hielten mich in einer Gedankenwelt der Ignoranz, die ich einst so gehasst habe.
Ich denke zurück und stelle fest, dass die Jahre des Kampfes um den Verstand der Menschen, zwar anstrengende, aber dennoch glückliche Jahre waren. Es waren Jahre, in denen ich wusste, wer ich bin und was meine Ziele sind. Nicht so wie jetzt. Mit diesem Gedanken im Kopf sage ich zu meinem guten Freund: „Meinem Leben gibt der Kampf um Wissen, Vernunft und Verstand einen Sinn. Meinem Leben geben die Diskussionen, die ich tagtäglich führe, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen, einen Sinn. Meinem Leben gibt es einen Sinn, zu versuchen, die ganze Welt, Stück für Stück, und seien die Stücke auch noch so klein, zu einer besseren Welt zu machen. Auch, wenn ich vergaß, diese Kämpfe zu führen, so kann mein Lebensziel und das, was mich antreibt, nur sein, wieder in den Kampf um die Vernunft zu ziehen und zu versuchen die Welt zu einer besseren zu machen, anstatt als willenlose Maschine einfach nur zu funktionieren.“
Als mein guter Freund die Worte hört, lächelt er und sagt: „Das ist das Feuer, dass ich von dir aus deinen jungen Jahren kenne. Bewahre es dir, auch wenn du dich ab und zu mal an ihm selbst verbrennen solltest. Versuche nie wieder in die Lethargie abzurutschen, die dich abstumpfen und nur noch funktionieren lässt. Lebe einen Kampf, für eine bessere Welt.“

Published inMomente

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