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Momente – Teil 42: Am Morgen

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Mein Wecker klingelt. Ich wache auf und schalte den Wecker aus. Ich suche mit meiner Hand den Einschalter meiner Nachttischlampe, finde und drücke ihn. Nichts passiert. Ich fluche innerlich. Taste mich aus dem Bett und zur Tür. Drücke den Lichtschalter der Zimmerbeleuchtung. Nichts passiert. Also doch nicht nur das Leuchtmittel meiner Nachttischlampe defekt.
Überlege einen Moment, ob ich mich einfach wieder hinlegen soll. Entscheide mich dagegen, da ich einen wichtigen Termin habe. Ich taste mich durch die stockfinstere Wohnung zur meiner Flurgarderobe und hole eine alte Taschenlampe hervor. Schalte sie ein. Sie glimmt nur schwach. Scheinbar hat sich die Batterie im Laufe der Jahre, die ich sie nicht benutzte, langsam entladen. Nutzte das schwache Licht der Taschenlampe, um zum Sicherungskasten zu gelangen. Ich öffne den Sicherungskasten. Alle Leitungsschutzschalter und Fehlerstromschutzeinrichtungen sind eingeschalten. Ich fluche laut.
Ein Moment überlege ich, ob das alles nur ein schlechter Traum ist. Ich überlege, mich einfach doch noch einmal ins Bett zu legen, um noch eine Runde zu schlafen. Ich entscheide mich wieder dagegen.
Ich überlege, was ich noch tun kann. Die Taschenlampe erlischt gänzlich. Sie erlischt. Ich brauche Licht! Die Rollläden, ja die könnte ich öffnen. Ich gehe zum Fenster und schlag mir gleich darauf mit der flachen Hand gegen die Stirn. Vor zwei Jahren wurden die rein mechanischen Rolladenöffner, gegen rein elektrische getauscht und ohne elektrischen Strom lassen sie sich weder per Vorortsteuerung noch per Automatikbetrieb öffnen.
Wieder stehe ich einfach nur da und weiß nicht, was ich tun soll. Ich stehe einfach da und plötzlich wird mir bewusst, wie beklemmend still es gerade ist. Kein Brummen des Kühlschrankes. Kein leises Fiepsen des WLAN-Routers. Es ist ungewöhnlich still. So still, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr erlebt habe. Es ist fast totenstill.
Ich verdränge meine Gedanken an die Stille und versuche mich zu konzentrieren. Ich versuche mich zu erinnern. Zu erinnern an meine Kindheit. Eine Kindheit, in der der Strom manchmal für eins, zwei Tage ausfiel. Was hatten wir da getan? Wir haben Kerzen angezündet. Kerzen! Ja, einige Teelichter, die ich mal, vor vielen Jahren, für gemütliche Abende der Zweisamkeit besorgt, aber nie wirklich gebraucht habe, müssten noch da sein. Wo habe ich sie nur? Ach ja, im Wohnzimmerschrank. Ich taste mich durch meine dunkle Wohnung zum besagten Schrank und finde nach etwas wühlen die besagten Kerzen. So, jetzt nur noch entzünden und schon habe ich Licht. Entzünden? Verdammt! Wo habe ich nur ein Feuerzeug oder Streichhölzer? Ich überlege und überlege, doch mir fällt nichts ein. Verdammt! Wäre ich noch Raucher, wie in meiner frühen Jugend, ich wüsste gleich, wo bei mir Streichhölzer oder ein Feuerzeug zu finden wäre, aber so? Verdammt, verdammt! Ich überlege noch einmal. Ach ja, bei meinen Grillutensilien müsste ich noch Streichhölzer haben. Ich taste mich durch die Wohnung zur Abstellkammer und nach etwas im Dunkeln herumwursteln, finde ich tatsächlich eine Packung. Ich reise ein Streichholz an, es entflammt und ich entzünde die Kerze mit ihm. Endlich habe ich Licht. Au! Verdammt! Am Streichholz verbrannt!

Ich gehe mit der Kerze durch meine Wohnung zurück zum Schlafzimmer und kleide mich erst einmal vollständig an. Was jetzt tun? Auf Arbeit gehen, vielleicht ist da ja die Welt noch in Ordnung? Ja, vielleicht, aber erst einmal etwas essen. Ich gehe in die Küche und hole mir Toastbrot aus einer Tüte. Ich stecke das Toastbrot in den Toaster und drücke den Einschalter hinab. Verdammt, der geht ja auch nicht ohne Strom. Verdammt! Was essen? Ich hole notgedrungen etwas Knäckebrot aus meinem Schrank und etwas Aufstrich aus meinen nicht mehr kühlenden, sondern langsam warm werdenden Kühlschrank. Ich nehme ein einfaches Frühstück zu mir.
Schließlich, halbwegs gesättigt, aber keineswegs mit meinem Essen zufrieden, verlasse ich meine Wohnung. Ich trete auf eine Straße, auf der keine Straßenlaterne mehr leuchtet. Ich drehe mich zur Haltestelle, von der meine S-Bahn aus fahren sollte. Ich sehe eine S-Bahn an der Haltestelle stehen. Ich laufe auf sie zu. Verdammt! Die S-Bahn steht nur zum Teil an der Haltestelle. Der hintere Teil, um genau zu sein. Die vordere Hälfe befindet sich auf einer anschließenden Kreuzung. Scheinbar wollte die S-Bahn gerade losfahren, als der Strom ausfiel und ist deshalb halb auf der Kreuzung liegen geblieben. Bei der S-Bahn sind alle Lichter aus. Ein Mann, vielleicht der Fahrer, steht beim Führerhaus und raucht. Mit der S-Bahn komme ich sicherlich nicht zur Arbeit. Was soll ich nur tun?
Ich gehe zurück in meine Wohnung und denke mir, dass ich auf Arbeit anrufen und Bescheid sagen sollte, dass ich heute nicht komme. Da fällt mir mein Smartphone ein. Ich gehe ins Wohnzimmer, zu meinem „Feierabend“-Regal, in das ich mein Smartphone immer zum Aufladen lege, bevor ich schlafen gehe. Ich schalte es ein und sehe nur, dass es noch drei Prozent Akkuleistung und keinen Empfang hat. Drei Prozent, obwohl ich es doch gestern Abend mit dreiundvierzig Prozent Akkuleistung ins Regal gelegt und ans Ladegerät angeschlossen hatte. Verdammt! Die Suche nach einer Netzverbindung muss den Akku leer gesaugt haben. Verdammt!

Verdammt! Was kann ich noch tun? Was haben denn die Menschen früher, in solch einer Situation getan? War es vielleicht doch ein Fehler, dass wir uns so sehr vom elektrischen Strom und den Geräten, die er antreibt, abhängig gemacht haben? War es falsch, der Elektrotechnik, anstatt uns selbst, blind zu vertrauen? War unsere Technikgläubigkeit wirklich angebracht, wenn wir durch sie auf einmal nicht mehr wissen, was wir tun sollen, wenn auf einmal „kein Strom mehr aus der Steckdose kommt“?

Published inMomente

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