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Momente – Teil 43: Vor dem Spiegel

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Ich stehe vor einem Spiegel und sehe ein verzerrtes Bild. Ich sehe ein verzerrtes Bild von mir und erkenne mich beinah selbst nicht. Dabei handelt es sich bei dem Spiegel um einen planen und keinen konvexen, oder besser gesagt, Trickspiegel. Er müsste physikalisch betrachtet also genau das zeigen, was vor ihm steht. Er müsste also genau mich zeigen, wie ich in den Spiegel blicke. Doch warum sehe ich dann mich nicht selbst in ihm, sondern nur ein verzerrtes Bild von mir?
Ich sehe ein verzerrtes Bild, weil der Spiegel nur mein Äußeres reflektiert. Er gibt nicht wieder, wie ich mich fühle oder was ich denke. So zeigt mir der Spiegel einen adrett gekleideten jungen Mann, während ich mich in Wirklichkeit wie ein Clown fühle. Ich fühle mich wie ein Clown, da meine momentane Erscheinung und das Auftreten, dass ich Tag für Tag meiner Umwelt zeige, absolut nicht meiner Einstellung und meinem Wesen entspricht. Nein, es ist eine Maskerade, die ich angelegt habe, um konform mit der menschlichen Welt und insbesondere, mit der westlichen Gesellschaft, von der ich ein Teil bin, zu leben. Ich sehe dieses Zerrbild von mir, da ich auf einige gute Freunde hörte, die mir rieten, etwas mehr auf mein Äußeres achtzugeben. Sie rieten mir das, da sie die Meinung vertreten, dass der erste Eindruck, also die ersten Sekunden, die man einen Menschen sieht und kennenlernt, die Sekunden sind, die wirklich zählen. Es ist dieser erste kurze Moment, in dem man eigentlich nur Äußerlichkeiten sieht, der ihrer Meinung nach wirklich zählt und es aufgrund dessen heutzutage nicht besonders hilfreich sei, wie ein abgehalfterter Hippie auszusehen oder daherzukommen. Doch nicht nur das, sie vertreten auch die Einstellung, dass mein ehemaliges Weltbild und mein auf Diskussionen gebürstetes Auftreten, mir niemals ermöglichten im Leben voranzukommen und etwas zu erreichen. Sie legten mir nahe, anstatt anstrengender Diskussionen über die Welt und ihren Zustand zu führen, die seichte Unterhaltung, also den Smalltalk, zu üben und zu zelebrieren, da man unter seiner Verwendung, vor allem wenn man in ihm brilliert, besonders weit auf dieser, unserer Welt kommt.
Und was tat ich? Ich, der ich merkte, dass ich auf meine bisherige Art und Weise im Leben nicht weiterkam? Ich glaubte ihnen und versuchte mich anzupassen. Ich passte mich an und stellte schnell fest, dass leider viel zu viele ihrer angeführten Punkte einen wahren Kern hatten. Sie hatten mit ihren Bemerkungen recht, denn nach meiner Anpassung an die Konformität der Gesellschaft, stieg meine soziale Teilhabe und Anerkennung, wie von selbst. Doch was sie mir leider nicht sagten, war der Preis, den ich für meine soziale Teilhabe zahlen musste. Der furchtbare Preis, den ich jetzt im Spiegel sehe, vor dem ich stehe. Der Preis meiner Anpassung um der gesellschaftlichen Anerkennung willen, war und ist, dass ich meine Struktur verlor. Ich verlor das, was mich ausmachte! Das, was ich wirklich war und einst um alles in der Welt sein wollte. Anstatt das ich meinen innersten Träumen nacheiferte, bin ich zu einem uniformen Teil der Gesellschaft geworden, der nichts mehr ausstrahlt, als reine Angepasstheit.
Kann diese Angepasstheit wirklich der Sinn meines Lebens sein? Bin ich, oder man im Generellen, einfach dazu verdammt, angepasst und uniform durchs Leben zugehen?

Ich betrachte weiter mein Spiegelbild, dass ich wie durch einen Schleier oder besser gesagt, einem wabernden Nebel, sehe. Ich betrachte das konturlose Etwas, das mich aus ihm ansieht und mit fällt noch etwas auf. Etwas in den Augen meines Spiegelbilds, also meinen Augen. Früher blickten meine Augen, die ich da im Spiegelbild sehe, noch freudig und erwartungsvoll in die Welt und die Zukunft. Doch jetzt blicken sie nur müde, stumpf und trübsinnig aus dem Spiegel auf mich selbst. Was war nur passiert, dass das Leuchten meiner Augen verblasste?
„Augen sind die Spiegel der Seele.“, fällt mir eine alte Weise ein. Ich denke über die Weise nach und frage mich, was wohl in diesem Kontext meine Augen über mich und meine Seele sagen? Ich weiß es nicht genau. Ich weiß auch nicht, warum ich mich plötzlich so konturlos im Spiegel sehe. Habe ich denn nicht, nachdem ich den Rat meiner Freunde befolgt hatte, vieles von dem im Leben erreicht, was ich erreichen wollte? War ich denn nicht plötzlich Teil der Gesellschaft, respektiert und angesehen? Doch das war ich! Aber um welchen Preis? War die Veränderung, der ich mich unterwarf, um endlich als Teil dieser Gesellschaft angesehen und respektiert zu werden, wirklich notwendig oder war sie nur der Beginn meiner Selbstaufgabe?
Was war nur aus meinen alten Idealen und Ideen geworden, die ich in jungen Jahren verfolgte? Was war aus meinen Einstellungen geworden, die mich auf Statussymbole und Konformität „Scheißen ließen“, wenn ich zu der Überzeugung gelangte, dass mein Weg, der bessere und nachhaltiger war? Was war aus der Einstellung geworden, fast alles dafür zu geben und zu tun, die Welt nach und nach zu einer besseren Welt für alle Lebewesen zu machen?
Ich hatte sie für Anerkennung und Bequemlichkeit aufgegeben und verkauft, da ich kein Außenseiter mehr, sondern ein Teil der Gesellschaft sein wollte. Ich hatte sie aufgegeben, um in Harmonie mit anderen Menschen zu leben, auch wenn ich mich dadurch selbst aufgab.

Ja, das war aus mir geworden und jetzt stehe ich vor einem Spiegel, der mir zeigt, was wirklich aus mir geworden ist. Vor einem Spiegel, der mir zeigt, dass ich keine Kontur mehr besitze, da ich alles, woran ich einst glaubte und darüber hinaus mich selbst, verkaufte. Verkaufte, nur um Teil von etwas zu sein, dass ich einst hasste und verachtete.

Schlussendlich sehe im Spiegel nur eine Karikatur meiner selbst und meiner einstigen Träume und Wünsche.

Published inMomente

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