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Mein Platz (um ich selbst zu sein)

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Meine Füße tragen mich ohne ein bestimmtes Ziel durch die Welt. Sie führen mich durch meine Heimatstadt, in der ich seit Jahrzehnten wohne und durch Felder und Wälder, in denen ich ebenso lange schon Ruhe und Entspannung finde, oder besser gesagt, einst fand. Sie führen mich an Orte, die ich seit Dekaden kenne, und die mir doch seltsam fremd geworden sind.
Ich laufe an den Orten vorbei, an denen ich einige Freunde zum ersten Mal traf und stelle fest, dass sie sich verändert haben. Die alten Kneipen und Cafés sind verschwunden, genauso wie die Orte, an denen meine Freunde und ich, in unserer Jugend abhingen. Selbst der Ort, an dem ich das erste Mal ein Mädchen küsste, existiert nicht mehr. Der Zahn der Zeit zog durch die Straßen der Stadt, die Felder und Wälder und veränderte sie nachhaltig. Der Zahn der Zeit, der mit dem Tod von alteingesessenen Ladenbesitzern, Schicksalsschlägen und Katastrophen einherging, durch die sich immer und immer wieder Dinge änderten. Es verschwand althergebrachtes und machte neuem Platz. Neuem, aber auch besserem?
Es sind auf jeden Fall nicht mehr meine Plätze. Es sind nicht mehr die Plätze, an denen ich gern war und an denen ich, ich selbst sein konnte. Nicht das man mich jetzt falsch versteht, ich habe nichts gegen den Fortschritt, denn er erlaubt uns länger, gesünder und mit weniger Ressourcenverbrauch zu leben, als es noch vor wenigen Jahrzehnten, nach der industriellen Revolution, der Fall war. Doch für mich ging etwas mit dem Voranschreiten der Zeit verloren. Etwas, das uns Menschen, meiner Meinung nach, erst zu wirklichen Menschen macht.
Im Laufe meines Lebens erlebte ich, wie das wirkliche Leben in online geschaffenen Welten und in Onlineprofilen aufging. Ich erlebte, wie sich Menschen immer weniger persönlich trafen und halfen und diese Veränderung, die viele Menschen unterliefen, ist mir suspekt. Ich fand und finde es immer noch erschreckend, wie viele Menschen lieber ihre Onlineprofile pflegen, als wirkliche Menschen zu treffen, um sich direkt, von Angesicht zu Angesicht, mit ihnen auszutauschen. Der direkte Austausch, der so viel mehr bietet, als der Digitale. Es fehlt mir in unserer modernen Welt, die nonverbale Kommunikation, die häufig mehr sagt, als jedes Wort. Es fehlen mir die Gerüche und Geräusche, die Lust auf mehr machen, und echte Lacher, die von Herzen kommen. Ach, diese Dinge sind zu einer Seltenheit in unserer heutigen Zeit geworden.
Doch als wäre das noch nicht schlimm genug, so verschwanden mit den persönlichen Treffen auch die Treffpunkte, die man einst Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, besuchte und versuchte zu erhalten. Die Veranstaltungen und Treffpunkte, bei denen man Gleichgesinnte finden und besser kennenlernen konnte, wurden weniger und weniger. Diese Orte der persönlichen Begegnung verschwanden aus der realen Welt und wanderten als Karikaturen ihrer selbst, in die virtuellen Weiten des Internets. Das geschah, da viele Menschen dem Glauben anheimfielen, dass sie online viel mehr und viel besser Menschen mit den gleichen Interessen finden könnten, als sie es je offline gekonnt hätten. Tatsächlich gelang und gelingt es auch vielen Menschen, sich mit Leuten online zu verknüpfen, die ähnliche Interessen und Einstellungen haben. Doch das bei diesen Onlinebegegnungen etwas auf der Strecke bleibt, wird den Betroffenen, wenn überhaupt, erst nach vielen Jahren oder spät im Leben bewusst. Mache Menschen nehmen diesen Verlust an Qualität, der mit dem Wandern von Begegnungen in die virtuellen Welten einhergeht, auch billigend in kauf, da sie denken, dass sie in den virtuellen Welten eher Ansehen und Beachtung finden können, als in der wirklichen, realen Welt.

Ich gehe an einigen Orten vorbei, an denen sich Cafés und Bars befanden, die ich in meiner Jugend gern mit Freunden zum geselligen Beisammensein besuchte und stelle fest, dass es sie nicht mehr gibt. An ihre Stellen sind „Arbeitscafés“ oder simple Fresstempel getreten. Arbeitscafés, an denen Menschen mit Laptops an den Tischen sitzen, um ihrer täglichen Arbeit nachzugehen. Die Treffpunkte meiner Jugend wurden zu Orten, an denen Unterhaltungen oder gar mal ein Lacher unerwünscht, da störend, sind. Sie wurden zu Fresstempeln, in denen sich einige etwas schnell auf die Hand holen oder, wenn sie doch einmal zum Essen Platz nehmen, gleich ihre Smartphones in der Hand halten, um sich virtuell mit anderen Menschen auszutauschen, anstatt mit den Menschen, die direkt neben ihnen sitzen. Ach, es ist ein bedrückendes Bild.
Ich sehe diese Menschen und denke an meine alten Freunde und Bekannte. Ich denke an sie und stelle fest, dass sie sich auch zu solchen, mir fremden Menschen entwickelt haben. Mit dem technischen Fortschritt hörten sie auf, ein Stück weit in der realen Welt zu existieren. Mit der Digitalisierung und den Möglichkeiten der digitalen Welt hörten sie auf reale Beziehungen, intensiv zu pflegen. Ausgiebige Unterhaltungen oder einen tiefgreifenden Austausch gibt es kaum noch mit ihnen. Nein, kurze Nachrichten, ab und an die Frage, wie es einem geht, um Interesse zu heucheln, und das war’s. Ich stelle fest, dass sich die Welt in den letzten Jahrzehnten, mehr und mehr zu einer Spaßgesellschaft entwickelt hat. Ich stelle fest, dass die Werte, die mir im Leben und in jeder Freundschaft besonders wichtig sind, mehr und mehr hinter persönliche Vergnügen gestellt werden und dadurch immer mehr verschwinden. Treue? Zuverlässigkeit? Verbindlichkeit? Ehrlichkeit? Besonnenheit? Genügsamkeit? Nur solange der persönliche Spaß nicht leidet und man keine andauernde Verpflichtung eingeht!
Viel lieber, als diese „alten“ Werte zu pflegen, pflegen viele Menschen, darunter auch viele meiner alten Freunde und Bekannte, ein von ihnen erdachtes, generiertes und regelmäßig aktualisiertes virtuelles Bild. Ein virtuelles Bild, in dem man das Menschliche nur selten findet, da viel zu viele Menschen nur ein abstraktes Bild ihrer selbst pflegen und zelebrieren. Ein Bild, das nicht mehr menschlich ist, sondern etwas darstellt, das von den Profilbesitzern als annähernd perfekt betrachtet wird. Ja, perfekt wollen sie sein oder zumindest online erscheinen, auch wenn es das Perfekte nicht gibt. Durch diese ewige Selbstdarstellung verschwindet das wirkliche, unperfekte, aber zutiefst menschliche, was man eigentlich erhalten sollte. Aber wen sage ich das? Viel lieber als wirklich menschlich zu sein oder zu leben, generieren viele zu viele dieser Menschen ein Lebensbild aus speziell ausgewählten Bildern und Beiträgen, die sie auf den verschiedensten Onlineplattformen teilen. Sie zelebrieren ein Kunstbild, dass nichts mehr mit dem tatsächlichen Bild, das man sieht und erlebt, wenn man einem persönlich, in der wirklichen Welt, begegnet, gemein hat.

Ich streife weiter durch meine Heimatstadt und stelle fest, dass auch die Gentrifizierung und Segregation ihren Preis gefordert hat. „Neue Menschen“, die über mehr Geld als die alt Eingesessenen verfügen, mietetet mehr und mehr der Wohnungen in der Innenstadt und in einzelnen Szenestadtvierteln, wodurch die früheren Bewohner, samt ihrer Kultur und Lebensart nach und nach aus den Stadtvierteln verdrängt wurden. Durch diese Verdrängungen, ging der einstige Charme, den einige Stadtviertel früher auf mich hatten, verloren. Der Charme einiger der schönsten Ecken der Stadt veränderte sich zum Schlechteren, wenn er nicht gar pervertiert wurde. Orte in den Stadtvierteln, an denen früher Obdachlose bei schlechtem Wetter Unterschlupf fanden, wurden abgesperrt oder teilweise durch Felsbrocken, unbegehbar gemacht. Manche Stadtplaner „verschönerten“ die Stadtteile, mit einem Hauch von Pseudonatürlichkeit, wobei ihr eigentliches Hauptanliegen war, Menschen der „unteren Schichten“ oder welche die einfach nur als störend empfunden wurden, aus ihnen fernzuhalten. Selbst viele der Orte, an denen sich früher die Jugendlichen trafen, wurden von diesen modernen Stadtplanern zerstört. Eine Wildwiese, auf der meine Freunde und ich häufig in unserer Jugend saßen, plauschten und lachten, wurde zu einem säuberlich angelegten Blumenbett ohne jegliche Sitzmöglichkeit. Ein alter Brunnen, an dem wir im Sommer häufig Musik hörten und unsere Jugend genossen, zu einer Steinwüste mit ein paar ebenerdigen Wasserfontänen, die keine Gemütlichkeit mehr zuließ. Selbst viele der Bänke, die die Stadtplaner noch stehen ließen oder neu aufstellten, wurden angepasst, um menschenfeindlich zu sein. Bei diesen Bänken wurden kantige Armlehnen an die Seiten montiert, wenn nicht gar zwischen einzelnen, kleinen Sitzflächen, auf das sich kein Mensch mehr auf sie legen und schlafen oder auch nur fläzen könnte. Doch nicht nur die alte Gemütlichkeit ging verloren, nein, auch die Überwachung hielt Einzug in die „aufstrebenden“ Räume der Stadt. Mehr und mehr Kameras hielten Einzug in die „Szeneviertel“. Mehr und mehr Ordnungshüter patrouillierten, die „auffällige Subjekte“, also Menschen, die nicht mehr in das Stadtviertel passten oder in ihm gewollt waren, verstärkt kontrollieren, um ihnen dadurch ihren Aufenthalt in den besagten Stadtvierteln verlitten. Die Stadt, die ich einst kannte, ist zu einem trostlosen, lebensfeindlichen Ort geworden. Die Stadt, die früher ein „Melting Pot“ war, in der die verschiedensten Kulturen und Lebensarten nebeneinander und gleichzeitig zusammen lebten, existiert nicht mehr. Diese einzigartige Vermischung der verschiedenen Lebensweisen und Kulturen, die wunderschönes und aufregendes hervorbrachte, ist verschwunden. Sie wurde verdrängt, von dem Geldadel und seiner Vorstellung von einem „schönen, sterilen“ Stadtviertel.

Ich lasse die Stadt hinter mir und gehe in die Natur, um dort meine Ruhe und Entspannung zu finden, doch auch das gelingt mir nicht. Viel zu viele Menschen, die ihre Hunde wild durch die Felder und Wälder streifen lassen. Zu viele Mountainbikefahrer, die selbst die engsten Pfade noch rücksichtslos befahren und dadurch die Umwelt, Tiere und andere Menschen grundlos gefährden. Generell sehe ich wenig Rücksichtnahme auf andere Menschen oder gar die Natur, während ich durch die Felder und Wälder streife. Dabei behaupten doch viele dieser Menschen, dass sie in die Natur gehen, um in ihr Entspannung zu finden. Doch wie sollten sie je Entspannung finden, wenn sie allein durch ihre Art und Anwesenheit jegliche Ruhe und Stille, die für wirkliche Entspannung notwendig ist, zerstören.
Ich stelle fest, dass auch die Natur nicht mehr der Platz ist, an dem ich, ich selbst sein kann und ich, ich selbst sein darf. Ich stelle fest, dass es das, was ich in meiner Jugend kennen und lieben gelernt habe, nicht mehr gibt.

Doch wo ist jetzt mein Platz, auf dieser Welt? Wo ist der Platz, an dem ich wieder ich selbst sein kann und darf? Wo ist der Platz, an dem noch die Werte zählen, die mir wirklich wichtig sind? Wo ist der Ort, an dem ich wieder meine Träume leben kann? Vielleicht gibt es ihn nicht mehr. Ich komme mir wie aus der Zeit gefallen vor. Ich komme mir so vor, als wäre ich in eine andere, mir fremde und feindlich gesinnte Welt geschleudert worden. Eine Welt, die nicht die meine ist.
Ich frage mich, ob die Welt erst zu einer echten Dystopie werden muss, bevor mehr Menschen aufbegehren, ihren Platz auf der Welt suchen, dadurch die Dystopie von innen heraus zerstören und dann eine neue Welt erschaffen, in der wieder andere Werte und Einstellungen zählen.

Ich gehe weiter und beschließe, einige Freunde zu treffen. Ein paar meiner alten Freunde, um zu versuchen, mit ihnen über meine Gedanken und Gefühle zu sprechen. Doch als ich meine Freunde treffe und erzähle, was in mir und meinem Kopf vorgeht, verstehen sie mich nicht. Sie verstehen mich nicht und einige lachen sogar über mich. So meint einer meiner Bekannten, auf meine Ausführungen hin, dass ich schon allein aufgrund meines Duktus aus der Zeit gefallen wäre. Wieder andere meinen, dass ich mich nicht so haben und eben mit der Zeit gehen müsste. Mit der Zeit gehen und meine Werte hinten anstellen. Aber das kann und will ich nicht.
Ernüchtert und enttäuscht stelle ich bald die Unterhaltungen mit meinen alten Freunden ein und streife weiter durch die Welt. Allein, Tag für Tag, durchstreife ich die Welt, um einen Platz zu finden, an dem ich, ich selbst sein kann und darf. Ich durchstreife sie, um einen Platz zu finden, an dem meine Werte gelebt werden. Einen Platz, den es vielleicht nicht mehr gibt, wenn es ihn denn überhaupt je gegeben hat. Einen Platz, der vielleicht nur als Utopie in meinem Kopf existiert.

Published inErzählungen

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