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Der Ausstand

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Der Kuchen steht zusammen mit mehreren Kannen voll Kaffee und Tee auf den Tischen bereit. Doch, nicht nur das. Für den späteren Abend habe ich auch noch ein paar Kisten mit Limonade und Mineralwasser, sowie Tabletts mit belegten Brötchen organisiert. Doch, damit ist es immer noch nicht genug, zu guter Letzt, wenn die Gäste gingen, erhielte jeder von ihnen eine persönliche Geschenktüte. Eine Geschenktüte, die eine selbst geschriebene Abschiedskarte und ein kleines persönliches Präsent enthielte. Eine Abschiedskarte mit ein paar persönlichen Gedanken und Wünschen für die Zukunft und ein Geschenk, dass mit dem zu tun hat, was mich mit der jeweiligen Person einst verband. So enthielt die Geschenktüte, die ich einer Grundschulfreundin zu schenken gedachte, einen Gedichtband, da ich zusammen mit ihr, in der vierten Klasse, die Begeisterung für das Lesen und die Poesie entdeckte. Die Geschenktüte für einen Bekannten, aus meinem Abschlussjahrgang, enthielt dagegen eine Konzertkarte, da ich mit ihm das erste Mal in meinem Leben auf einem Rockkonzert war und aufgrund dessen mit ihm meine Liebe zur Musik verband.

Ich organisierte die Speisen und Getränke und lud meine alten Freunde und Bekannte ein, da ich einen Ausstand geben wollte. Einen Ausstand, den ich für nötig erachte, um nicht zu viele lose Enden in meinem Leben anzusammeln. Einen Ausstand, der für mich notwendig ist, da sich mein Leben mit jedem Tag mehr wandelt und ich einfach nicht mehr der bin, der ich einst war.
Mein Leben wandelt sich aufgrund der Neujustierungen, die ich tagtäglich an ihm vornahm und immer noch vornehme. Neujustierungen, die ihren Ursprung in neu erlangtem Wissen und meinen tagtäglichen Erfahrungen haben. Es sind Neujustierungen, die mich mit jedem Tag deutlicher merken lassen, dass sich meine Interessen und mein Lebensschwerpunkt weiter und weiter von dem entfernt, was mein altes Leben ausmachte. Ich merkte mit der Zeit, das mit den tagtäglichen Neujustierung meines Lebens, die Brücken zu einem Teil meiner Vergangenheit bereits weggebrochen sind und weitere Brücken kurz davor stehen, auch noch wegzubrechen. Dieses Brechen der alten Brücken brachte es mit sich, dass die Worte zwischen meinen alten Weggefährten und mir verstummten. Sie verstummten und manch einmal kam gar auf die einfache Frage: „Wie geht es dir?“, keine Antwort mehr zurück. Mit der Zeit und einem mehr an Menschen, die zu Geistern meiner Vergangenheit wurden, wurde mir bewusst, dass ich altes loslassen und alten Bekannten: „Lebt wohl!“, sagen sollte, bevor sie still und stumm im Strudel meiner Vergangenheit verschwänden.
Diese Menschen, die mir doch einst so viel bedeuteten und mit denen ich viele Erfahrungen und Erlebnisse verband, verschwänden im Stillen, wenn ich den Weg ginge, den viele in meiner Situation gehen. Viele gingen nämlich einfach still und heimlich, ohne etwas zu sagen. Sie gingen, in der Hoffnung, dass die alten Bekanntschaften schon so weit eingeschlafen sind, dass ihnen keiner mehr nachtrauert oder überhaupt bemerkt, dass sie aus ihren Leben verschwunden sind. Doch das kann und darf für mich nicht der richtige Weg sein. Nein, diese Art des Abschieds ist mir verhasst, da sie viel zu viele Unklarheiten, Zweifel und offene Fragen zurücklässt. Unklarheiten, die andere verletzen können. Also beschloss ich lieber offenen zu kommunizieren, was mich bewegt und warum ich Abschied zu nehmen gedächte. Ich beschloss, mich für die gemeinsame Zeit und die gemeinsamen Erfahrungen zu bedanken und einen Ausstand von meinen bisherigen Leben zu geben.

Die Gäste meines Ausstandes trudeln nach und nach ein und begrüßen mich. Es sind Menschen, mit denen ich zum Teil schon seit mehr als einem Jahr keinen Kontakt mehr hatte, die mir aber einst, auf einem Stück meines Lebensweges, gute Gefährten waren oder eine besondere Bedeutung für mich hatten. Es sind Menschen, die mir mein Leben bereicherten und die es eigentlich immer ein Stück weit positiv prägten. Ich begrüße die einzelnen Gäste freundlich und bei vielen merke ich, dass ich ihnen eigentlich nichts mehr zu sagen habe. Wir sind uns fremd geworden. Wir wurden uns fremd, da sich viele von uns weiterentwickelten, wobei sich diese Entwicklung häufig in unterschiedliche Richtungen vollzog, so dass wir uns mit der Zeit aus den Augen verloren. Doch ich entfremdete mich auch von denen, die irgendwann geistig stehen blieben und es sich in ihrem Weltbild bequem machten. Ich entfremdete mich von den Bekannten, die irgendwann dachten, dass sie bereits alles wüssten und ihr Weltbild das einzig Richtige wäre. Diese Bekannten sind Menschen, die denken, dass sie ihr Weltbild nicht mehr korrigieren oder auch nur an der Realität messen und an sie angleichen müssen. Das denke ich zumindest bei mir, bei mehr als einen meiner alten Bekannten, die ich da auf meinem Ausstand begrüße. Bei mehr als einem meiner alten Weggefährten denke ich, dass er bereits vor mehreren Dekaden aufhörte, sein Weltbild an der Realität zu messen und sich weiter und weiter zu bilden und mit der Meinung anderer auseinanderzusetzen. Nein, stattdessen tragen sie schon seit Jahren ein einfaches Weltbild zur Schau. Ein Weltbild, das sich vielleicht ein Zehnjähriger erlauben kann, aber kein erwachsener Mensch, der für seine Handlungen die Verantwortung tragen muss. Sie tragen Weltbilder zur Schau, die mit meinem aktuellen Weltbild gar nichts mehr zu tun haben, auch wenn ich einst, in jungen Jahren, ähnlich wie sie dachte und handelte. Ich war einst wie sie, doch mit der Zeit, mit meiner Auseinandersetzung mit der Welt, in Sprache und Tat, änderte ich meine Einstellungen und mich. Ich änderte mich und entfremdete mich dadurch von meinen einstigen Weggefährten und ihren Weltbildern.

Die Zeit meines Ausstandes vergeht und eine Stunde nach seinem Anfang komme ich zu der Überzeugung, dass abgesehen von den bereits erschienen Gäste, keine weiteren mehr kommen werden. Aufgrund dieser Überzeugung mache ich die Anwesenden auf mich aufmerksam und ergreife das Wort:
„Hallo meine alten Freunde und Freundinnen, Weggefährten und Weggefährtinnen, die wir uns häufig schon seit Jahren kennen. Ich habe euch heute hier, zu mir eingeladen, um einen kleinen Ausstand zu geben. Einen Ausstand, mit dem ich mich von euch und meinem bisherigen Leben verabschieden möchte. Ihr, die ihr heute vor mir steht, wart in der Vergangenheit ein wichtiger Teil meines Lebens, doch das Rad der Zeit drehte sich weiter und wir wurden uns fremd. Wir wurden uns fremd, da sich unsere Leben in verschiedene Richtungen entwickelten und sich unsere Interessen verschoben. Im Laufe meiner letzten Lebensjahre merkte ich immer deutlicher, dass ich nicht mehr der Mensch bin, der ich vor zwanzig, zehn oder fünf Jahren war. Um ehrlich zu sein, bin ich nicht einmal mehr derselbe Mensch, der ich noch gestern gewesen bin. Tagtäglich reibe ich mich an der Wirklichkeit und justiere mein Leben neu. Ich lese und diskutiere über Gott und die Welt und aus den Erkenntnissen, die ich daraus gewinne, ziehe ich Schlüsse, die ich in mein Leben und meine tagtäglichen Entscheidungen einfließen lasse. Viele Menschen reiben sich wie ich an der Wirklichkeiten und durchlaufen dadurch ähnliche Entwicklungen, wobei ich, wenn ich mich hier umsehe, bei den ein oder anderen denke, dass er sich seit eins, zwei Dekaden nicht mehr weiterentwickelt hat, also scheinbar an einem festen Platz in seinem Leben angekommen ist, in dem er es sich häuslich eingerichtet hat. Es sei ihm gegönnt! Doch was mich betrifft, so habe ich diesen Zustand noch nicht erreicht und wenn ich auf mein Leben zurückblicke und meine Vergangenheit auf meine Zukunft interpoliere, werde ich diesen Zustand auch nie erreichen. Ich kann mir nicht vorstellen irgendwann geistig stehenzubleiben und zu solch einem Menschen werden. Ich werde wahrscheinlich nie geistig sesshaft, sondern immer ein Suchender bleiben. Ein Suchender, der sich und sein Leben hinterfragt und versucht es besser, nachhaltiger und aufgrund dessen immer anders als bisher zu gestalten.
Doch ich schweife ab. Das, was ich eigentlich sagen möchte, ist, dass ich euch Dankbar dafür bin, dass ihr ein wertvoller Teil meiner Lebensgeschichte wart. Durch die Begegnung mit euch, bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Und eben, weil ich euch dankbar dafür bin, dass ihr mich ein Teil meines Lebensweges begleitetet, möchte ich unsere Bekanntschaft nicht einfach einschlafen lassen oder mich wortlos aus ihr verabschieden, sondern mich stattdessen mit diesem Ausstand bei euch bedanken und euch ein kleines Präsent als Zeichen meiner Dankbarkeit zukommen lassen. Nach dem heutigen Abend, werden wir uns dann wahrscheinlich, wenn überhaupt, nur noch zufällig sehen.
Aber genug der Worte. Ich wünsche euch alles Gute auf euren weiteren Lebenswegen. Ich wünsche euch Liebe, Freude und Glück und vielleicht sieht man sich ja mal wieder und tauscht sich dann über vergangene Zeiten aus.

Damit genug der Worte greift jetzt ruhig bei den Speisen und Getränken zu und verlebt einen schönen Nachmittag und Abend. Genießt diesen letzten Tag der Vergangenheit, bevor morgen, wie jeden Tag, eine neue Zukunft und ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Macht’s Gut.“

Als ich geendet habe, schweigen meine Gäste. Es ist ein unverständiges Schweigen und ich frage mich, was ich denn auch anderes erwartet hatte.

Published inErzählungen

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