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Ein Moment im Leben einer Schlange

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Erschütterungen des Erdbodens wecken mich. Verschlafen spüre ich ihnen nach. Sie kommen näher und näher. Sie ängstigen mich. Sie künden von Tod und Verderben. Wie viele meiner Freunde und Verwandten spürten die Erschütterungen, bevor sie starben?
Panik ergreift mein Herz und ich versuche zu flüchten. Ich versuche der Gefahr zu entkommen. Doch es ist zu spät. Ich schlängle mich gerade in Richtung Ausgang, in Richtung meiner vermeintlichen Sicherheit, als sich vor mir ein Abgrund auftut und ich ins Nichts stürze.

Benommen liege ich da. Versuche mich zu orientieren. Plötzlich fällt ein Schatten auf mich. Ein riesiges Lebewesen steht vor mir. Ein Lebewesen, das die Welt verändert. Ein Lebewesen, das den Lebensraum meiner Artgenossen und mir schon seit Jahrhunderten zerstört. Ein Lebewesen, das meine Artgenossen aus Angst tötet, obwohl er uns doch nicht einmal kennt oder gar unterscheiden kann. Es tötet uns, obwohl wir es doch sind, die Angst verspüren. Wir verspüren Angst, da einer nach dem Anderen von uns getötet oder vertrieben wird. Wir werden feindselig behandelt, obwohl wir häufig einfach nur unsere Ruhe haben und vor den Lebewesen, die sich da auf zwei Beinen die Welt untertan machen, flüchten wollen.
Das zweibeinige Lebewesen starrt mich an. In seinen Vorderpfoten hält es ein Werkzeug, mit dem er die Erde absticht, umwirft und ihr eine neue Form gibt. Ich verspüre Angst. Ich verspüre Todesangst, denn viel zu vieler meiner Verwanden wurden von diesem Werkzeug totgeschlagen oder gar zerteilt. Viel zu viele meiner Verwanden wurden mit voller Absicht, durch solch einen Zweibeiner oder seine Hilfsmittel getötet. Ich versuche zu fliehen. Ich krieche einen Hang hinauf und rutsche wieder und wieder im lockeren Sand ab. Jede Sekunde rechne ich damit, dass etwas kommt, das mein Leben beendet. Doch es passiert nichts. Ich drehe mich um. Ich sehe den Zweibeiner. Er hat sein Werkzeug neben sich auf den Boden gelegt und schaut mich musternd an. Er greift in seine künstliche Haut und sucht etwas. Ach, was wird er nur aus seiner künstlichen Haut holen? Was wird er hervorholen, mit dem er mir zu Leibe rückt? Ich begebe mich in Abwehrhaltung. Ich bin auf alles gefasst, als der Zweibeiner plötzlich ein schwarzes, künstliches Objekt, in Form eines Flachen Steins, in seinen Vorderpfoten hält. Es ist ein Objekt, auf dessen eine Seite er schaut, während er die andere Seite auf mich richtet. Dann bleibt der Zweibeiner plötzlich einen Moment ganz still und ruhig stehen, bevor er den künstlichen Stein wieder in seine künstliche Haut steckt. Er steckt den Stein weg und entfernt sich von mir. Er geht zurück und setzt sich auf einen am Boden liegenden Baumstamm, von dem aus er mich weiter beobachtet. Ich bin irritiert. Ich bin verwundert. Doch dann reise ich mich zusammen und schlängle mich davon. Ich schlängle mich fort von diesem Ort der Zerstörung, hin zu einem Haufen Astholz, der gestern noch nicht da war. Ich erreiche den Haufen und krieche unter ihn. Diesen Hort der Sicherheit erreicht, sehe ich mich noch einmal nach dem Zweibeiner um. Er ist wieder aufgestanden und hält erneut sein Werkzeug in den Vorderpfoten. Er sieht mich an und seine Lippen ziehen sich in die Breite. Dann senkt er kurz seinen Kopf und hebt ihn anschließend wieder, während er mich die ganze Zeit anschaut. Nach der Beendigung der Geste macht er sich schließlich von Neuem daran, die Erde nach seinem Willen zu formen.

Ich liege unter dem Asthaufen und bin von der Aufregung erschöpft. Ich bin müde. Und während der Zweibeiner weiter die Erde formt und ich die Erschütterungen spüre, schlafe ich ein. Ich schlafe ein und hoffe, dass ich auch zukünftig nur Zweibeinern begegnen werde, die mein Leben schonen. Ich hoffe, dass ich nicht das Pech haben werde, dass viele meiner Artgenossen hatten und immer noch haben, nämlich sofort durch Zweibeiner, bei Sicht, mutwillig und kaltblütig getötet zu werden.

Published inErzählungen

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