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Midlife-Crisis – Brief 8: Angefangenes zu Ende bringen

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Liebe Freundin,
vielen Dank für deinen letzten Brief. Es freut mich, zu hören, dass es dir gut geht. Was deine Frage betrifft, wie es mir so geht, so muss ich leider antworten, wenn ich ehrlich bin, dass es mir momentan nicht besonders gut geht. Wenn ich voraussetze, dass deine Frage eine ehrliche und nicht nur eine Floskel ist, wie bei vielen Menschen heute, worauf die höfliche Antwort „Gut.“, wäre, so ist doch die ehrliche Antwort: „Nicht so besonders.“ Und dadurch, dass wir uns bereits so lange kennen, denke ich mal, dass zwischen uns die Frage, wie es einem geht, nicht nur eine Floskel ist. Doch ich lasse meine Gedanken abschweifen.
Der Grund dafür, dass es mir nicht besonders gut geht, ist, dass ich einen Unfall zwischen einem zweiundzwanzigjährigen Radfahrer und einer sechsundachtzigjährigen BMW-Fahrerin als Zeuge und Ersthelfer miterlebte. Einen Unfall zwischen einem Menschen, relativ am Anfang seines Lebens, und eines Menschen, dessen Leben doch schon recht weit fortgeschritten ist. Doch lass mich dich mit zurück an den Abend des Unfalls nehmen.

Es war ein Freitagabend und ich war mit einigen Freunden in einem Restaurant essen. Schließlich kam die Zeit des Abschiedsnehmens und ich ging zu der S-Bahnhaltestelle, von der aus die Straßenbahn fahren sollte, mit der ich nachhause zu gelangen dachte. Doch an der Straßenbahnhaltestelle erlebte ich eine böse Überraschung. Die Überraschung war, dass auf der Anzeige stand, dass die nächsten zwei Straßenbahnen, die zu mir führen, ausfielen und ein Blick in meine Bahn-App verriet mir ferner, dass sogar die nächsten vier Bahnen nicht führen, wodurch die nächste Straßenbahn, die ich nehmen könnte, erst in über neunzig Minuten käme. Na gut, aufregen bringt nichts, dachte ich bei mir und kam zu dem Entschluss, dass ich in der Zeit auch nachhause laufen könnte, um dadurch meinen immer fülliger und träger werdenden Körper auch noch etwas Gutes zu tun. Gedacht, getan und so lief ich los.
Nachdem ich so eine halbe Stunde durch die Stadt gelaufen war, überquerte ich eine Kreuzung an einer Ampel, an der mir auf der anderen Seite, auf dem Fußweg, im Dunkeln, relativ schnell, ein Radfahrer entgegenkam und an mir vorbeifuhr. Als er so an mir vorbeifuhr, begann ich mich umzudrehen und dachte bei mir, dass es schon rücksichtslos und gefährlich ist, bei Nacht auf dem Fußweg und darüber hinaus auch noch in Gegenrichtung zu fahren. Doch während ich das noch dachte und mich dabei umdrehte, gab es schon einen lauten Knall und ich mochte mich gar nicht mehr weiter und vollständig zum Radfahrer umdrehen. Am liebsten hätte ich wieder nach vorne geschaut und wäre einfach weitergelaufen, gerade so, als hätte ich nichts gehört. Nichts gehört, denn mir sofort bewusst, dass der Knall, bei dem kurzen Verzug zwischen dem Passieren des Radfahrers und meinem Aufenthaltsort, so wie dem akustischen Ursprung des Knalls, nur von einem Unfall zwischen dem Radfahrer und einem anderen Verkehrsteilnehmer stammen konnte.
Doch, anstatt einfach weiter zulaufen, dachte ich, dass ich helfen muss, wenn etwas Schlimmes passiert ist und drehte mich vollständig um. Der Anblick, der sich mir bot, war erschreckend. Der Radfahrer lag leblos links neben der Front eines BMWs, dessen Seite eine Delle hat. Doch nicht nur das. Nein, auch die Frontscheibe des BMWs war stark eingedellt und tausendfach gerissen. Ferner war auch der linke Außenspiegel komplett zerstört. Es war garantiert kein leichter Unfall. Wie automatisch ging ich zügig die wenigen Schritte zu dem verunfallten Radfahrer und sprach ihn an. Keine Reaktion. Ich sah mich um. Links niemand zu sehen. Blick zur Autofahrerin. Eine ältere Frau, die sichtlich schockiert aus dem linken Fenster sah. Ich blicke nach rechts. Keine Person zu sehen. Blick über die Motorhaube des BMWs. Eine Person steht da, mit dem Smartphone in der Hand. Ich sagte zu ihr: „Rufen Sie einen Krankenwagen!“, und wand mich wieder dem verunfallten Radfahrer zu. Ich sprach ihn erneut an und er begann langsam seinen linken Arm zu bewegen. „Glück gehabt!“, dachte ich, denn jetzt braucht er offensichtlich keine stabile Seitenlage oder gar eine Beatmung mehr. Während ich versuchte beruhigend auf den Verunfallten einzureden und fragte, ob ihm etwas wehtut, hörte ich, wie der zuvor von mir angesprochene Mann mit dem Smartphone einen Notruf abgab.
Der Verunfallte versuchte sich aufzurichten und ich sagte zu ihm, dass er langsam machen solle, wobei ich mich erneut umsah. Ein junger Erwachsener hat sich ebenfalls neben mich hingekniet und fragte, ob er etwas helfen könne, worauf ich meinte, er solle versuchen, die Schaulustigen etwas vom Unfallort wegzuhalten. Danach sah ich auch noch einmal zur Autofahrerin, die schließlich auch aus ihrem Auto ausstieg. Sie stieg kurz nachdem aus, da sich der verunfallte Radfahrer zu bewegen begann und damit offensichtlich noch lebte. Während ich weiter beruhigend auf den Verunfallten einreden versuchte, bekam ich mit, wie einige Autofahrer, die ebenfalls abbiegen wollten, ungeduldig zu hupen anfingen und herumschrieen, dass man endlich das Auto fortfahren solle. Dieses Geschrei wurde scheinbar auch einigen Beistehenden zu viel, die dann zu den Autofahrern gingen und sagten, dass es hier erst einmal nicht weitergehe. Doch, nicht nur das. Ich bekam auch mit, wie einige der Beistehenden der älteren Dame Vorwürfe machten. Wie sie sie beschuldigten und vorverurteilten, wobei die Autofahrerin sichtlich unter Schock stand und mal hierhin und mal dorthin lief. Ich wollte gerade etwas sagen, als der verunfallte Radfahrer plötzlich aufstand, worauf ich ihn mehrmals sagte, dass er sich am besten wieder hinsetzen sollte, da sein Unfall offensichtlich kein leichter gewesen ist. Doch der Radfahrer wollte nicht hören und meinte nur, dass er nachhause führe, wobei er sein Fahrrad aufhob. Sein Fahrrad, dessen Vorderrad beinah einen rechten Winkel auf Höhe der Achse formte. Ich meinte, dass er mit dem Fahrrad nicht fahren könne, sondern er sich wieder hinsetzen solle, bis der Krankenwagen käme. Doch er wollte immer noch nicht hören und ich merkte deutlich, dass er einen Schock hatte. Schließlich ließ er sein Fahrrad doch wieder fallen und meinte, dass er dann halt nachhause liefe. Und tatsächlich lief er los, wobei man merkte, dass es ihm schwerfiel, gerade zu laufen. Ich lief langsam neben ihm her und sprach weiter auf ihn ein, dass er sich doch hinsetzen und auf den Krankenwagen warten solle. Schließlich, nach zwei, drei Metern tat er es und setzte sich auf ein niedriges Geländer.
In diesem Moment war ich erleichtert und sprach vorsichtig weiter mit ihm, dass sicherlich bald der Krankenwagen da sei, wobei ich im Hintergrund immer noch hörte, wie einige der Beistehenden der älteren Dame die Schuld am Unfall gaben, so als hätten sie alles gesehen und wären die Richter, wobei die meisten erst kamen, als der Unfall bereits passiert war und aufgrund dessen nicht wirklich etwas gesehen hatten.
Schließlich kamen zwei Polizeiwagen und zwei Polizisten übernahmen die weitere medizinische Betreuung des verunfallten Radfahrers, bis schließlich der Krankenwagen und die Sanitäter eintrafen. Während sich die zwei Polizisten um den Radfahrer kümmerten, fragte ein anderer nach Zeugen, worauf sich ein anderer Mann und ich mich als einzige meldeten. Der Polizist nahm dann die Personalien von den Unfallteilnehmern und von uns Zeugen auf, und fragte mich, ob ich noch Zeit hätte, kurz auf die Verkehrspolizei zu warten, um meine Aussage gleich zu Protokoll zu geben. Ich bejahte seine Frage.
Damit zufrieden, nahm der Polizist weiter den Unfallhergang auf und ich stand da. Ich stand da und merkte, wie das Adrenalin, das beim Anblick des Unfalls durch meine Adern geschossen war, langsam nachließ. Ich nahm wahr, wie Menschen mit Smartphones um die Unfallstelle herumstanden und von einem Polizisten ermahnt wurden, mit dem Fotografieren aufzuhören. Ich bekam mit, wie die Autofahrerin sichtlich unter Schock mit den Polizisten sprach und dabei nicht mehr Frau ihrer Sinne und der Situation war. So stand ich da und die Minuten vergingen.
Nach einigen Minuten hörte ich plötzlich meinen Nachnamen rufen und ich blickte mich um. Ich blickte mich um, bis zu einem weiteren Ruf, der meinen Blick schließlich den Polizisten fokussierten ließ, der schon meine Personalien aufgenommen hatte. Er winkte mich zu sich hin und ich ging zu ihm. Der Polizist stand an der Motorhaube eines Polizeiwagens, auf die er eine Mappe mit Formularen für die Aufnahme von Aussagen gelegt hatte. Er meinte, dass er meine Aussage jetzt aufnähme, nur um sich dann gleich zu unterbrechen, als sein Funkgerät los quäkte. Das Funkgerät kam mir unendlich laut vor. So laut wie alles um mich herum. Ich konnte mich kaum auf etwas konzentrieren, doch schnappte ich trotzdem einiges auf. Ich schnappte auf, dass die Zentrale noch Informationen von dem verunfallten Radfahrer bräuchten, worauf der Polizist meinte, dass das nicht möglich sei, da die Sanitäter ihn bereits „eingepackt“ hätten und er in das Schockzentrum eines Krankenhauses gebracht werden solle. Ins Schockzentrum, wo auch ein MRT gemacht werde, da der Verdacht auf schwere Kopfverletzungen bestünde. Da verstummte das Funkgerät und der Polizist nahm meine Aussage auf. Dabei fragte er mich, ob der verunglückte Fahrradfahrer das Licht an seinem Fahrrad angehabt hätte, worauf ich meinte, dass ich keins wahrgenommen hätte. Anschließend fragte mich der Polizist auch noch, ob die Fußgängerampel beim Unfall grün gewesen sei, was ich bejahte. Schließlich las er mir noch einmal das Protokoll vor und ließ es mich unterschreiben. Das getan, wünschte er mir noch ein schönes Wochenende und ich dachte bei mir, wie das Wochenende noch schön werden sollte.
Doch meine Bedenken äußerte ich nicht, sondern wünschte dem Polizisten ebenfalls ein schönes Wochenende und setzte meinen Nachhauseweg zu Fuß fort.
Als ich schließlich zuhause ankam, setzte ich mich auf mein Sofa und begann zu zittern. Ich zitterte und dachte, dass jetzt das Adrenalin gänzlich meinen Körper verlassen hat. Doch ich dachte nicht nur das. Ich sah auch immer wieder die Bilder des Unfalls vor meinem inneren Auge und dachte, dass, je nachdem wie schwer die Kopfverletzung des verunfallten Radfahrers ist, das unbeschwerte Leben, in seinen jungen Jahren, bereits vorbei sein könnte. Das Leben, dass er noch gänzlich vor sich hatte. Aber mich plagten noch weitere Gedanken. Mich plagten auch die Vorwürfe, die die Beistehenden der Autofahrerin gemacht hatten, obwohl diese offensichtlich unter Schock stand und ebenfalls Betreuung in dieser Situation gebraucht hätte. Mich schockierte, dass keiner sie gefragt hat, ob es ihr gut ginge und sie dazu aufgefordert hat, sich hinzusetzen, bis die Polizei käme. Mich schockierte, dass ihr Fahrlässigkeit und Absicht unterstellt wurde, wobei ich mir selbst eingestehen musste, dass ich den Radfahrer, der gegen die Fahrtrichtung auf dem Fußweg unterwegs war, auch leicht hätte übersehen können, wäre ich mit dem Auto unterwegs gewesen.
Aber selbst die Vorwürfe an die Autofahrerin waren noch nicht das Schlimmste. Nein, das Schlimmste war das Bild der Gaffer vor meinem inneren Auge. Das Bild der Gaffer mit ihren Smartphones. Das Bild der Menschen, die fotografieren, ohne sich wirklich Gedanken darüberzumachen, was für Schicksale und Folgen der Unfall für die Beteiligten, auch langfristig, haben könnte. Die Folge, dass der Radfahrer, der 22 Jahre alt war, wie ich später aus der Pressemitteilung der Polizei erfuhr, aufgrund seiner schweren Kopfverletzung vielleicht für immer bleibende Schäden mit sich trüge.
In dieser Nacht, nachdem ich nachhause gekommen war, saß ich einfach fünf bis sechs Stunden von meinen Gedanken geplagt, auf meinem Sofa. Ich saß da, bis mich schließlich doch die Müdigkeit übermannte und ich in einen unruhigen Schlaf versank.

Der Unfall führte mir wieder einmal vor Augen, wie fragil doch die körperliche Gesundheit und das Leben ist. Sie führte mir vor Augen, dass durch einen Unfall, aus welchen Gründen auch immer, schnell vieles, wenn nicht gar alles, zu Ende sein kann.
Diese Erkenntnis führte dazu, dass mich der Unfall auch noch die folgenden Tage nicht losließ. Ich beschäftigte mich aufgrund von ihm, intensiv damit, was wäre, wenn ich heute stürbe. Was hinterließe ich, wenn ich heute zu atmen aufhörte und die Schwelle zum Totenreich über schritte? Die Antwort, die ich mir selbst gab, war niederschmetternd. Der Grund dafür war, dass ich abgesehen von einigen trauernden Verwanden, eine unordentliche Wohnung und eine Menge unfertiger Projekte hinterließe. Ich hinterließe jede Menge offener Baustellen und hätte in meiner Lebenszeit der Welt wahrscheinlich mehr Schaden zugefügt, als ich je durch positive Aktion ausgeglichen habe.
Aus diesen Überlegungen erwuchs der Gedanke, meine persönlichen Lebensprojekte zeitnah, eins nach dem anderen, zu einem Ende zu bringen. Meine persönlichen Projekte abzuschließen und dabei nicht immer wieder neue zu starten, wie ich es bisher viel zu häufig tat.
Ferner beschloss ich auch, dass Projekte, die ich in meinem Leben neu zu starten gedachte, nicht mehr nur mich in ihrem Zentrum haben sollten, sondern darüber hinaus auch immer einen positiven „Impact“ auf die Welt.

Liebe Freundin, was meinst du, kann es uns gelingen, unsere Leben so zu gestalten, dass wir uns „Schlüsselfertig“ von dieser Welt verabschieden? Dass wir am letzten Tag unserer Leben maximal noch ein oder zwei Projekte offen haben und zufrieden auf die abgeschlossenen zurückblicken können? Auf die Abgeschlossenen, die hoffentlich die Welt zum Positiven beeinflussten?

Damit genug von mir. Ich freue mich schon darauf, wieder von dir zuhören.

Dein guter Freund.

Published inMidlife-Crisis

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