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Der Blick zurück

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Ich bin alt geworden. Jahrzehnte verlebte ich schon unter dieser Sonne, auf dieser Erde. Ich erlebte, wie die Erde trotz oder gerade wegen des technischen Fortschrittes von einem „wilden Paradies“ zu einer feindlichen Ödnis wurde. Ich blicke zurück auf ein Leben, in dem sich Leichenberge stapeln und ich, durch meine Lebensweise, dem Teufel die Hand schüttelte und ihm ein treuer Diener war.
Mein Leben lang wollte ich eigentlich nie ein Mensch sein, der die Welt zugrunde richtet. Ich wollte nie jemand sein, der über seinen Verhältnissen lebt. Ich wollte die Welt zu einem besseren Ort machen und was ist daraus geworden? Ich verfiel dem Konsum und Materialismus. Mit dem Verfallen in die Ausprägungen unseres kapitalistischen Gesellschaftsmodells, begann sich auch die Leichen zu stapeln. Die Leichen von tausenden von Tieren und die von einigen Menschen. Die Leichen von Tieren, deren Lebensraum durch die Gewinnung von Ausgangsmaterialien, die für meine konsumierten Produkte benötigt wurden, zerstört wurde. Die Leichen von Tieren, deren Lebensraum, durch die Zivilisationsabfälle vergiftet wurden. Leichen von Tieren, deren Mägen sich mit Plastik füllten, auf das sie qualvoll verhungerten, da wir in unserer Gesellschaft das Plastik nie richtig recycelten, sondern jedes Jahr hunderte Tonnen in die Umwelt gelangen ließen.
Darüber hinaus sehe ich auch noch die Leichen von Menschen, die unter erbärmlichen Bedienungen lebten und ausgebeutet wurden, damit ich, wie der Rest der westlichen Welt, meinem Konsum frönen konnte. Ich sehe die Kinder, die im Kongo in Bergwerken für seltene Erden schufteten und schließlich sterben mussten. Für seltene Erden, die für all die technischen Geräte, die ich im Laufe meines Lebens nutzte, benötigt wurden. Ich sehe die Textilverarbeiter, die in nicht sicheren Fabriken, die z.T. einsturzgefährdet waren und schließlich einstürzten, unter erbärmlichen Bedingungen arbeiten und dadurch das ein ums andere mal auch am Arbeitsplatz, aufgrund von „Unfällen“, sterben mussten.

Ich blicke jetzt im Alter auf mein Leben zurück und mir wird bewusst, dass ich kein Teil der Lösung, sondern Teil des Problems war. Ich sehe auf mein Leben zurück und merke, dass auch mir Bequemlichkeit über Nachhaltigkeit ging. Ich blicke in meine Vergangenheit und beginne zu verstehen, dass auch ich mich mit den gegebenen Bedingungen arrangiert habe und ein Teil der von mir verhassten Gesellschaft wurde. Ich schaue zurück auf mein Leben und merke, dass ich eine Lüge lebte.
Erst lebte und erlebte ich in meinem Leben den jugendlichen Leichtsinn, in dem ich dachte, dass ich alles machen und erreichen kann, ohne mir über die Konsequenzen meiner Handlungen Gedanken machen zu müssen. Später wurde ich älter und ich lernte dazu. Mit den Jahren wurde mir bewusst, dass jede Aktion eine Reaktion zur Folge hat, und das selbst das kleinste, was man tat, einen Einfluss auf die Umwelt hat. Und was machte ich mit der Erkenntnis? Ich schrieb meine Gedanken nieder. Ich brachte Worte zu Papier, die all die gesellschaftlichen Wiedersprüche, die mir auffielen, aufzeigten. Ich schrieb und setzte mich mit mir selbst und mit der Gesellschaft auseinander.
Durch diese Reflexion über mich und mein Leben veränderte ich mich auch selbst. Ich veränderte meine Lebensweisen, um nicht mehr Teil des Problems zu sein. Doch das, was ich in Wirklichkeit tat, war nur Greenwashing. Ich gab mich grüner und nachhaltiger, als ich eigentlich war. Es stimmt zwar, dass die Umweltauswirkungen meines Lebensstils in vielen Bereichen unter denen meiner Mitmenschen, die in der westlichen Gesellschaft lebten, lag, doch trotzdem war es mehr Schein als sein. Ich hätte noch viel mehr tun können und auch müssen. Doch die Bequemlichkeit siegte und irgendwann stagnierten meine Bemühungen. Darüber hinaus verkaufte ich meine Seele, indem ich eine moderne Form des Ablasshandels zelebrierte. Ich zelebrierte ihn, indem ich in bestimmten Bereichen besonders nachhaltig lebte, nur um einen übermäßigen Konsum in anderen Bereichen damit zu Begründen, dass die Ressourcen ja nachhaltig gewonnen würden. Ein Beispiel gefälligst?
Man leistet sich ein Elektroauto und schließt einen „grünen“ Stromvertrag ab, bei dem alle elektrische Energie aus erneuerbaren Energiequellen stammt, da dadurch das Autofahren und die eigene Mobilität ja wirklich nachhaltig betrieben werden kann. Doch ist dem wirklich so oder denkt man das nur? Man denkt es nur! Wenn man nämlich mit 160 km/h über die Landstraße rast, obwohl man genauso gut 100 km/h fahren könnte, da man weiß, dass der Energieverbrauch pro Strecke, aufgrund des Luftwiderstandes, mit der Geschwindigkeit zum Quadrat zunimmt. Wie an der folgenden Formel erkennen kann:

Und was machen nachhaltig lebende Mensch, wie ich selbst einer war und noch bin? Sie geben sich dem Rausch der Geschwindigkeit hin und fahren immer so schnell, wie sie können und denken dabei, dass die verbrauchte Energie ja nachhaltig gewonnen wird.
Wenn man aber ehrlich zu sich selber ist, merkt man, dass dem nicht wirklich so ist. Der Grund dafür ist, das, je mehr elektrische Energie aus nachhaltigen Quellen benötigt wird, desto mehr Kraftwerke, auch wenn es nachhaltige sind, gebaut werden müssen. Kraftwerke, die bei ihrer Aufstellung Naturflächen verbrauchen und aufgrund ihrer Arbeitsweise eigentlich immer einen Impact auf die Natur haben. Doch nicht nur der Energieverbrauch elektrischer Fahrzeuge nimmt mit zunehmender Geschwindigkeit zu, sondern auch der Verschleiß, sodass z.B. mehr Mikroplastik, das beim Abrieb der Reifen entsteht, in die Umwelt gelangt, und sie schädigt. Man sieht, Konsum, auch wenn er grün und nachhaltig wirkt, ist meist nicht nachhaltig.

Ich blicke weiter auf mein Leben zurück und mir wird bewusst, dass eigentlich nur der bewusste Verzicht auf Produkte des Konsums, die Möglichkeit gehabt hätte, etwas nachhaltig zuverändern. Etwas zu verändern, was im Gegensatz zu dem, was ich tat, etwas anderes als reines Greenwashing gewesen wäre, mit dem ich meine Seele und mein Gewissen erleichterte.

Nachdem ich auf mein Leben zurückblickte, frage ich mich, ob ich es jetzt, im Alter, noch schaffen werde, etwas zu ändern, oder ob ich in meinen Verhaltensweisen und den gesellschaftlichen Zwängen auch noch die letzten Jahre meines Lebens gefangen sein werde.
Ich riskiere noch einmal einen kurzen Blick zurück und realisiere, dass alles, was ich noch tun könnte, eigentlich zu spät kommt. Ich realisiere, dass wir den Punkt des „no return“ schon lange überschritten haben, und es kein zurück mehr gibt. Ich merke, dass ich früher hätte mehr tun müssen, anstatt jetzt, im Alter, zurückzublicken und über vertane Chancen zu jammern.
Doch vielleicht erreicht dieser Text die noch junge Generation, die unser Schicksal noch ändern kann und bringt sie dazu, nachhaltiger zu Leben, auf dass nicht auch sie im Alter zurückblicken und sehen, welche Chancen sie alles vertan haben und dadurch die Zukunft verspielten.

In diesem Sinne, lebt wohl und nachhaltig, auf das nicht auch ihr im Alter zurückblickt und nur verbrannte Erde seht.

Published inErzählungen

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