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Vom Sterben einer Gemeinschaft und Gruppierung

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Mit zwei Bekannten sitze ich in einem Lokal, an einem Tisch. Die anderen Tische sind unbesetzt. Wir sind die einzigen Menschen im Lokal. Neben uns steht ein Tablett mit belegten Brötchen und einige Kisten mit Getränken. Wir warten. Auf wen? Das ist die Frage, die sich uns stellt, denn wir wissen nicht, wer noch kommt, wenn überhaupt noch jemand kommt.

Wir saßen schon einmal so zusammen, mit Getränkekisten und Tablets mit belegten Brötchen. Es war damals, vor zehn Jahren, als unsere Gruppierung ihren Anfang nahm. Nur waren wir damals schon mehr, als wir heute noch sind.
Angefangen hatte unsere Gruppierung vor etwas mehr als zehn Jahren, mit zwanzig Freunden und Bekannten die eine eingeschorene Gemeinschaft waren und die nicht mehr tatenlos zusehen wollten, wie die Politik nur die wirtschaftlichen Interessen vertrat und nicht mehr Entscheidungen traf, die einem eigentlich der gesunde Menschenverstand und moralische und ethische Überlegungen diktierten. Wir wollten auf Missstände aufmerksam machen, die Menschen bilden und aufklären, und zu meiner Überraschung schafften wir das auch, zumindest anfänglich. So wurde unsere Gemeinschaft zu einer kleinen Bewegung und schließlich zu einer Gruppierung, die wuchs, da sich immer mehr Menschen mit unseren Interessen solidarisierten.

Die Jahre des Aufbaus, der Gruppierung, vergingen recht schnell und mit der Zeit zogen sich einige der Gründungsmitglieder unserer Bewegung zurück. Sie zogen sich entweder zurück, da sie sich nicht mehr mit in unserer Gruppierung heimisch fühlten, da sich mit der Zeit die Ziele verschoben und sich auch der Umgang der Mitglieder untereinander veränderte. Bei manch einem gaben auch sich ändernde familiäre Umstände den entscheidenden Ausschlag, sich zurückzuziehen, oder aber auch das berufliche Leben, dass sie das ein ums andere mal in andere Regionen verschlug. Doch trotz, dass sich einige zurückzogen, so wuchs doch in der ersten sechs Jahren die Anzahl derer, die sich in unsere Gruppierung einbrachten und zu den Veranstaltungen und Treffen kamen, die wir organisierten. In diesen ersten Jahren gründeten und unterstützten wir auch einige Läden, die sich den Zielen unserer Gruppierung verbunden fühlten. Diese Unternehmen unterstützten wir, indem wir bei ihnen Einkauften oder, wenn es sich um eine Wirtschaft oder um ein Café handelte, indem wir in ihnen Treffen und Veranstaltungen organisierten, oder einfach regelmäßig einkehrten.
Diese ersten Jahre unserer Bewegung waren verdammt schöne, wenn auch anstrengende Jahre und ich merkte, dass diese Gruppierung und das Gemeinschaftsempfinden, dass in ihr herrschte, die Würze meines Lebens war. Ich merkte, dass diese Gruppierung, der ich angehörte, meinem Leben einen Sinn gab, und so brachte ich mich und meine Zeit ein, um die Gruppierung voranzubringen. Doch trotz aller Mühe kam nach einigen Jahren die Zeit der Stagnation.

Die Zeit der Stagnation kam, da der „Mainstream“ und damit das Kapital auf unsere Bewegung aufmerksam wurde, und dadurch etablierte Firmen Produkte und Dienstleistungen, in den Markt drückten, die die kleinen Unternehmen, die wir in der Anfangszeit unserer Bewegung aufgebaut hatten, verdrängten. Doch das war nicht das einzige Problem. Nein, auch die Anzahl der Mitstreiter unserer Bewegung ging zurück, da sich scheinbar die nachfolgende Generation nicht mehr für unsere Bewegung und deren Ziele interessierte und die alten Mitstreiter mit der Zeit resignierten oder sich aufgrund ihrer Lebensumstände zurückzogen.
Wenn ich ehrlich bin, trug der Kapitalismus nur eine kleine Teilschuld an den eigentlichen Problemen, die unsere Gruppierung plagten. Das Hauptproblem war der Rückgang der Interessenten und Mitstreiter unserer Gruppierung. Und ich meine, dass ein Hauptgrund für den Rückgang der Unterstützer in unserer gesellschaftlichen Kultur liegt. Was ich damit meine? Von dem Zeitpunkt an, da unsere Gruppierung im Mainstream ankam, warfen auch Selbstdarsteller einen Blick auf unsere Gruppierung, die sie sich schließlich als ihre neue „Bühne“, auf der sie sich selbst darstellen konnten und Bestätigung erfahren konnten, erkoren. Kurz gesagt, unserer Gruppierung geriet in den Blick von Menschen, die alles Taten, um im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. So kam es, dass Menschen zu unserer Gruppierung dazu stießen, die eigentlich nicht die Ideale der Gruppierung teilten, die das aber auch nicht störte. Der Grund dafür ist, dass man ja fast jede Gruppierung von Innen heraus verändern und zu seiner Bühne machen kann. So trugen mit der Zeit immer mehr Menschen die abstrusesten Ideen in unsere Gruppierung und Taten sie kund.
Da es sich bei den Selbstdarstellern das ein ums andere mal um gute Redner handelte, hingen die Menschen an ihren Lippen und folgten ihren verbalen Ergüssen, obwohl es sich dabei eigentlich nur um proletenhaftes Gewäsch, das keine wissenschaftliche oder moralische Grundlage hatte, handelte.
Durch diese Individuen veränderte sich die Stimmung und das Klima in unserer Gruppierung und auch die Ziele, die wir einst vertraten, rückten in den Hintergrund. Unsere Gruppierung und ihre Ziele verloren an Profil und schließlich zersplitterte unsere Gruppierung in viele kleine Bewegungen und Gemeinschaften. In kleine Bewegungen und Gemeinschaften, die ihre Ziele häufig nicht mehr von unserer Gruppierung vertreten sahen, da sie und ihre Ziele, ihnen mit der Zeit fremd geworden waren.
Was auch schlussendlich die ausschlaggebenden Gründe gewesen sein sollten, es kam schließlich zu einer Abwärtsspirale. Einer Abwärtsspirale, in der immer weniger Menschen zu den verschiedenen Treffen kamen und sich für die Ziele unserer Gruppierung einsetzten, und in der die verschiedenen Geschäfte und Läden, die wir aufgebaut oder im Aufbau unterstützt hatten, schlossen, da die Kundschaft entweder zu anderen, etablierten Läden und Geschäften abwanderte, da sie mittlerweile die gleichen oder ähnliche Produkte anboten oder sich gar gänzlich aus der Szene zurückzog. Durch den Wegfall der Geschäfte und Läden brachen schließlich auch die Treffpunkte unserer Gruppierung weg, denn die Läden, Geschäfte, Cafés und Lokale waren Orte, an denen sich die Mitglieder trafen, sei es, dass sie sich in ihnen verabredet, sei es, das sie sich durch Zufall in ihnen begegneten.

Die Regression der Mitglieder unserer Gruppierung führte bald dazu, dass wir bald nur noch eine kleine Bewegung waren. Sie schritt soweit voran, bis wir an diesem Abend nur noch zu dritt zusammen saßen. Zu dritt, da einfach keine weiteren Mitstreiter dazu kamen. Drei von einst zwanzig und ehemals bis zu hundert Mitstreitern. Drei Menschen, die man als „harter“ Kern bezeichnen könnte, oder aber auch, als den kläglichen Rest, der nicht wahrhaben wollte, dass die Gruppierung, der sie angehörten, schon lange tot war, und man eigentlich auch nicht mehr von einer Gruppierung oder Bewegung reden konnte. Drei Individuen, die ihre Leben erst an der Gemeinschaft, dann an einer Bewegung und schließlich an einer Gruppierung ausgerichtet hatten, nur um jetzt vor dem Nichts zu stehen. Drei, einer Gemeinschaft von einst zwanzig, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollten.
Wir saßen an jedem Abend da und schwiegen. Wir schwiegen, da uns allen Bewusst war, dass es eigentlich nur noch eine Option für uns gab. Die Option, als die Letzten das Licht zu löschen, und die Gruppierung und die Bewegung, der wir uns so viele Jahre verbunden gefüllt hatten, mit Ehren zu Grabe zu tragen. Zu Grabe zu tragen, da wir drei Übriggebliebenen der Beweis waren, dass all unsere Bemühungen, abgesehen von kleinen Teilerfolgen, kläglich gescheitert und wir am Ende waren.
Eigentlich wollten wir an diesem Abend schauen, ob nicht doch noch einige zusammenkämen, die unsere Überzeugungen und Ideale teilten, um noch einmal neu anzufangen. Doch dem war nicht so, unsere Bewegung und Gruppierung war wirklich am Ende. Vielleicht würde sich mal wieder eine neue Bewegung gründen, die unserer ähnlich ist, aber dass müsste dann eine Neugründung sein. Eine Neugründung, ohne die Altlasten. Vielleicht könnte man ja einige Erkenntnisse, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, in die neue Bewegung retten, doch ich zweifele daran. Der Grund ist, dass ich in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht habe, dass Bewegungen und Gruppierungen ihre eigenen Erfahrungen machen müssen, da sich die Umstände, in denen sie agieren, immer ändern und jede (politische) Bewegung oder Gruppierung immer auf die aktuellen Umstände reagieren muss.
Die einzige Erkenntnis, die meiner Meinung nach für eine neue Bewegung wichtig sein könnte, ist: „Wachst nicht zu schnell, und unterstützt die Geschäfte, Lokale und Cafés eurer Anfangstage, denn wenn sie sterben, brechen Begegnungsstätten und häufig auch Teile der Bewegung und Gemeinschaft weg. Haltet die Ideale eurer Anfangszeit hoch, die eurer Bewegung oder Gruppierung ein Profil verleihen, denn ohne Profil verschwindet man schnell in der Bedeutungslosigkeit.“

Schließlich ist es 23:59 Uhr. Meine Bekannten stehen auf und verabschieden sich für immer und ich mache als letzter das Licht aus. Ich schließe die Tür ab und gehe nach Hause. Ab morgen gehört das Lokal, in dem unsere Gemeinschaft zu einer Bewegung und schließlich zu einer Gruppierung wurde, nicht mehr uns. Nein, ab dann gehörte es einem Nachmieter. Was er mit dem Lokal machen wird? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, das ein Teil meines Lebens heute einen Abschluss gefunden hat. Ich weiß, dass ab jetzt nichts mehr so sein wird, wie es die letzten Jahre war, da ich einen neuen Sinn für mein Leben suchen und auch finden muss. Mir wird bewusst, dass wir an diesem Tag auch die Gemeinschaft, der anfänglich zwanzig Gründer unserer Bewegung, zu Grabe getragen haben, da wir uns über die Jahre aus den verschiedensten Gründen entfremdeten und heute weder unser Kontakt noch unsere Ideen und Ideale mehr Bestand haben. Doch auch wenn mir das Herz schwer wird, so bringt der Blick zurück nichts. Es bringt nur etwas, nach vorne zu sehen.

Mal sehen, wo der Wind und die verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen mich hintreiben.

Mal sehen, ob ich etwas Neues finde, das mein Leben mit Sinn füllt.

Mal sehn, ob ich Teil einer neuen Gemeinschaft werde, die die Welt zu verändern sucht.

Published inErzählungen

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