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Momente – Teil 8: Vor einer Fabrik

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Ich stehe mit einer guten Freundin vor einem Fabrikgebäude. Der Grund dafür ist, dass sie in einem Streit meinte, dass ich mit geschlossenen Augen durch die Welt ginge. Sie meinte, dass ich einmal versuchen solle, meine Augen zu öffnen, um die Welt wie sie zu sehen. Auf meine Frage hin, wie dass denn gehen solle, lud sie mich ein, einfach einmal eine Runde mit ihr spazierenzugehen und dann würde sie mir schon zeigen, wie sie die Welt sieht. Sie würde mir zeigen, wie es auch mir gelängen könnte, die Welt mit offenen Augen zu sehen.
Das gesagt, vereinbarte ich mit ihr, uns zu einem Spaziergang zu treffen. Zu einem Spaziergang, der uns zu dieser Fabrik führte.

Jetzt stehe ich also vor der Fabrik und frage mich, was ich denn hier sehen soll. In diesem Moment fragt mich meine gute Freundin: „Schau dir mal die Fabrik genau an, was siehst du?“ „Ich sehe LKWs kommen, die scheinbar Rohstoffe bringen und LKWs fahren, die scheinbar das Zwischen- oder Endprodukt wegbringen.“ „Nein, was siehst du hier wirklich? Verabschiede dich davon, die Fabrik als Blackbox zu sehen. Schau mal, was genau zu der Fabrik gefahren und was von ihr weg transportiert wird.“
Auf die Aussage meiner guten Freundin hin schaue ich mir die LKWs, die da kommen und die, die wieder fahren, genauer an. Ich stelle fest, dass viele LKWs Tiertransporter sind, von denen es auf den Hinweg zur Fabrik ängstlich grunzt und muht, wohingegen von den Tiertransporten, die das Fabrikgelände wieder verlassen, kein Laut mehr kommt. Die übrigen LKWs, die an uns vorbei zur Fabrik fahren, sind Kühllaster. Mit diesen Eindrücken im Kopf sage ich zu meiner guten Freundin: „Viele LKWs die kommen und wieder fahren sind entweder Tiertransporter oder Kühllaster. Anscheinend handelt es sich bei der Fabrik, vor der wir hier stehen, um eine Großschlachterei.“ „Ja, das ist eine Schlachterei, die viele aber nicht wahrnehmen, da sie sich nicht mit dem, was in ihr passiert, auseinandersetzen wollen. Sie wollen nicht wissen, wo und wie die Tiere, die ihnen als Mahlzeit dienen, geschlachtet, ausgenommen und verarbeitet werden. Sie blenden es schlicht und einfach aus. Für sie besteht der Schlachtungsprozess, wie viele andere Prozesse und Abläufe, die in ihren Leben stattfinden, auch, aus einer Blackbox. Aus einer Blackbox, an deren Anfang ein oder mehrere ‚Rohstoffe‘ hineingegeben werden. Diese Rohstoffe werden dann ‚irgendwie‘ verarbeitet, wobei man nicht genau weiß wie, um dann kommt auf wundersame Weise am Ende der Blackbox das End- oder Zwischenprodukt heraus. Was zwischen dem Zuführen der ‚Rohstoffe‘ und dem Ausstoß der ‚Zwischen- oder Endprodukte‘ passiert, ist denn meisten Menschen dabei egal.“ „Ja, da hast du recht.“, antworte ich ihr, die da vor Wut bebend neben mir steht. Und sie hat tatsächlich recht. Bis jetzt habe ich mich noch nicht wirklich damit auseinandergesetzt, wie aus der Kuh oder dem Schein, dass auf der Farm oder im Stall lebt, das Fleisch oder die Wurst wird, die wir tagtäglich essen. Was es aber noch schlimmer macht, ist, dass für mich zeitweise die Blackbox der Fleisch- und Wurstproduktion nur aus der Geldeingabe und der Entnahme des Endproduktes bestand. Alles, was vor der Endproduktentnahme geschah, war mir schlichtweg egal.
„Dieses Blackbox-Denken führt dazu, dass Menschen und andere Lebewesen ausgebeutet werden.“, fährt meine gute Freundin fort, bevor sie wütend und mit trauriger Stimme sagt: „In der Fleischerei werden die Tiere getötet, sowie häufig auch die Menschen ausgebeutet, die die Tiere töten und verarbeiten müssen. Doch nicht nur die Tierverarbeitungsindustrie ist so eine Blackbox! Nein, auch die Kleidungs- und die Elektronikindustrien, sind häufig solche Blackboxes, von denen viele Konsumenten nur die Produkte sehen, die sie am Ende ausspucken und die sie dann gedankenlos konsumieren. Bei der Kleidungsindustrie sind die Näherinnen, die Tiere, die für Leder oder Seide getötet werden und die Umwelt, die durch die verwendeten Chemikalien und die Fasergewinnung zerstört werden, die Opfer. In der Elektroindustrie sind zum Teil auch wieder die Menschen Opfer, die in Minen für seltene Erden und andere Rohstoffe ausgebeutet und darüber hinaus auch noch häufig in der Produktfertigung geknechtet werden, in der sie häufig im Akkord arbeiten müssen. Sie müssen häufig bis zur Erschöpfung arbeiten, ohne ein soziales Sicherungssystem zu haben, das sie auffängt, falls sie einmal krank oder einfach nur alt werden. Vom Raubbau an der Natur für die Rohstoffe mag ich schon gar nicht mehr sprechen. Unsere ganze Welt und unsere Leben sind mit solchen Blackboxes gefüllt, die wir häufig aber nicht sehen und verstehen wollen, da wir uns dann mit ihnen und mit dem, was in ihnen passiert, auseinandersetzen müssten. Wir scheuen die Auseinandersetzung mit dem, was in ihnen tagtäglich passiert, da wir dann dazu gezwungen wären, bewusste Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen wie die, ob wir wirklich solch eine Ausbeutung unterstützen möchten oder nicht. Solche Entscheidungen und die Begegnung mit dem, was man unbewusst oder fahrlässig in der Welt verursacht, ist dabei für viele unbequem. Die Begegnungen sind so unbequem, dass überall auf der Welt die Menschen wählen ignorant zu leben und diese Blackboxes bestehen zulassen, da ihnen diese Blackboxes, die die Herstellungsprozesse bestimmter Produkte enthalten, versprechen, einfach weiter glücklich, wenn auch unwissend, zu leben.“
Das, was meine gute Freundin da sagt, trifft mich hart. Ich fühle mich durch ihre Worte angegriffen und verletzt, doch mich verteidigen mag ich nicht, da zu viel Wahrheit in ihren Worten liegt. Zuviel von dem, was sie sagte, stimmt und beschreibt, wie unsere Gesellschaft, die Welt und vor allem wir Menschen funktionieren. Sie hat schlicht und einfach recht, doch was bedeutet das jetzt für mich und mein weiteres Leben?

Für mich und mein Leben bedeutet diese Erkenntnis, dass ich versuchen muss, die Blackboxes aus meinem Leben zu verbannen und im Sinne der Aufklärung, alle Aspekte meines Lebens und der Produkte, die ich tagtäglich benutze oder konsumiere, zu verstehen. Doch, nicht nur das. Ich muss auch aus dem gewonnenen Wissen, die richtigen Konsequenzen für mich und mein weiteres Leben ziehen, sonst sind alle Überlegungen und Auseinandersetzungen einfach nur für die Katz.

Published inMomente

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