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Momente – Teil 14: Vor einem alten Foto

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Ich sitze vor einem Bilderrahmen, in dem sich ein altes Foto befindet. Auf dem Foto sind meine alten Freunde und ich, vor einem Lagerfeuer, zu sehen. Das Foto wurde vor beinahe zwei Jahrzehnten aufgenommen. Seit dem Zeitpunkt dieser Aufnahme hat sich viel verändert, wir uns und die Welt sich. Wir haben uns verändert, ob zum Guten oder Schlechten, sei einmal dahingestellt, doch liegt in diesem Bild und der Begegnung mit der Vergangenheit, die ich durch die Betrachtung des Bildes erfahre, der Grund dafür, dass ich jetzt eine Schnapsflasche in der Hand halte. Es ist die erste Schnapsflasche die ich mir, für mich selbst, seit mehr als zwei Jahrzehnten kaufte. Es ist darüber hinaus das erste Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten, dass ich überhaupt eine Flasche mit einem alkalischen Getränk, das ich beabsichtige zu trinken, in der Hand halte.
Ich schaue mir die Schnapsflasche an und höre ihre Verlockung. Ich höre die Versprechung von Erlösung und Flucht, die sie mir still und verführerisch einflüstert. Die Erlösung von meinen Gedanken und die zumindest temporäre Flucht aus dem hier und jetzt. Ich frage mich, warum ich überhaupt aufgehört habe alkoholische Getränke zu trinken? Warum habe ich es nicht geschafft, den Alkohol als Genussmittel zu sehen, und ihn zusammen mit meinen alten Freunden Feier um Feier, Jahr um Jahr zu genießen? Mein Leben wäre dann sicher einfacher gewesen.
Was hatte mich nur geritten, als ich vor mehr als zwei Jahrzehnten dem Alkohol entsagte, nur um von Feier zu Feier deutlicher zu merken, wie dumm und selbstbezogen eigentlich meine Freunde waren. Wie kam es nur dazu, dass ich die kontrastierten Worte, die mir auf der Zunge lagen, wenn meine Freunde wieder auf ihre „Stammtischparolen“ verfielen, nicht mehr mit Alkohol herunterspülte, sondern sie ihnen ins Gesicht spie, nur um festzustellen, dass an diesen Worten die Freundschaften kaputtgingen.
Von Feier zu Feier, zu der ich eingeladen wurde, verstrich mehr Zeit, bis mich meine Freunde irgendwann gar nicht mehr einluden und wir nie mehr gemeinsam feierten. Irgendwann waren die alten Freundschaften gänzlich tot und ich suchte mir neue. Doch egal wo ich hinkam, egal welche Leute ich auch kennenlernte, häufig scheiterten Freundschaften daran, dass ich das sagte, was ich dachte und darüber hinaus den Wahnsinn, dem ich tagtäglich begegnete, ansprach. Ich begann mich zu fragen, wie es kam, dass viele andere Menschen die Welt nicht so sahen, wie ich sie sah. Ich begann mich zu fragen, warum es mir als einen von wenigen so schwerfiel, gesellschaftliche Teilhabe zu finden?
Ich fing an die Leute, denen ich in meinen Alltag begegnete, zu analysieren und stellte dabei fest, dass es scheinbar zwei Gruppen von Menschen gibt, die glücklich in unserer Gesellschaft leben können. Die eine Gruppe sind die, die einfach nur ignorant oder dumm sind. So ignorant, dass sie das, was auf der Welt geschieht, einfach ignorieren oder so dumm, dass sie das, was auf der Welt geschieht, einfach nicht verstehen können. Die zweite Gruppe sind die, die sich in Drogen stürzten. Diese Gruppe von Menschen sieht häufig die Welt, wie sie wirklich ist, doch da sie nicht die Macht oder Kraft haben, sie zu ändern, flüchten sie sich in Substanzen, die ihnen helfen, der Realität, wenn auch nur temporär, zu entkommen. Zu diesen Substanzen, die ihnen eine Flucht aus der Wirklichkeit ermöglichen, zählt auch der Alkohol. Der Alkohol, dem ich vor so vielen Jahren abgeschworen habe.
Vielleicht hätte ich nie dem Alkohol abschwören, sondern ihm die Treue halten sollen. Ihm treu bleiben, auf das er mir Entspannung und gesellschaftliche Teilnahme ermögliche. Ach, was für eine süße Versprechung.

Und was mache ich jetzt? Ich sitze vor dem Foto das meine alten Freunde und mich zeigt und denke an die vergangenen Zeiten zurück. Ich setze die Schnapsflasche an, in der Hoffnung mit ihr der tristen Realität und der Komplexität der Welt zu entkommen. Ich setze sie an, um mit jedem Schluck des Schnapses, der mir meine Kehle hinunterrinnt, meine Gedanken zu betäuben, um hoffentlich glücklicher, wenn wahrscheinlich auch ignoranter gegenüber der Wirklichkeit, weiterzuleben.

Published inMomente

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