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Momente – Teil 23: Auf einem Baum

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Ich sitze auf einem Baum oder um es genauer zu sagen, auf einem dicken Ast in der Krone eines Baums. Meine Beine baumeln herunter und ich versuche kein Geräusch von mir zu geben oder zu verursachen. Ich verstecke mich. Ich flüchtete auf diesen Baum, um meinen Verfolgern zu entgehen.
Meinen Verfolgern, die nach mir suchen und mich jagen, da ich nicht so bin, wie sie. Sie jagen mich, weil ich anders bin als sie. Sie, die doch die Mehrheit der Gesellschaft bilden. Der Gesellschaft, die sowohl optisch als auch sozial die Normen definiert. Es ist eine wirkliche Last, anders zu sein, als die Mehrheit der Menschen einer Gesellschaft, sei es vom Aussehen, sei es vom Wesen her. Das trifft besonders dann zu, wenn beides auf einmal zusammen kommt.
Wenn es nach der Meinung vieler geht, habe ich kein Recht mich zu beschweren. Ich habe kein Recht mich zu beschweren, da es mir eigentlich gut geht, schließlich lebe ich ja in einer Demokratie und in der sozialen Marktwirtschaft. Ich lebte in einem Sozialstaat, in dem mir sicherlich nichts Schlimmes passiert. So denken zumindest viele Menschen, doch warum fühle ich mich dann ständig unwohl und bedroht? Sicherlich nicht wegen der angeblichen Freiheit, die ich habe! Ich fühle mich unwohl, da in dieser ach so freien Gesellschaft, nicht der Intellekt und die Vernunft zählt, nein, Statussymbole und die Geburtsurkunde zählen. Nicht was man kann, weiß oder leistet, zählt, sondern dass man als Deutscher unter Deutschen geboren ist. Im Prinzip lebt noch der Feudalismus, nur dass sich jetzt das ganze „deutsche Volk“ wie Könige aufführt. Es führt sich wie lauter Könige auf, denen es von Geburtswegen zusteht, besser als alle anderen zu sein. Besser als andere Menschen, aus anderen Ländern, oder als andere Bevölkerungsgruppen. Sie glauben eine Gesellschaft von Königen zu sein, doch ich sehe nur eine Gesellschaft von Narren.
Aber lassen wir das leidige Thema und wenden wir uns einem anderen zu. Wenden wir uns dem Thema zu, warum ich jetzt auf einen Baum sitze und mich vor anderen, gleichaltrigen Kindern verstecke, um nicht verdroschen zu werden. Ich verstecke mich, da es leider in vielen gesellschaftlichen Schichten an der Tagesordnung ist, die eigene, angebliche Überlegenheit mit körperlicher, anstatt mit geistiger Kraft gleichzusetzen. Die körperliche Gewalt und manchmal auch die psychische dient vielen, vor allem jungen Menschen dazu, sich zu profilieren. Dabei leben die jungen Menschen ihre Gewaltfantasien häufig noch aus, um zu zeigen, wer sie sind, wohingegen die älteren Menschen eher dazu neigen, versteckte Gewalt anzuwenden. Ältere Menschen neigen dazu, Gewalt versteckt zu praktizieren, sei es durch versteckte Drohungen, Ab- und Ausgrenzung oder auch nur dadurch, dass sie anderen Steine in den Weg legen, um sie dadurch auf ihren Lebensweg zu behindern.
Betrachte ich mir diese zwei Formen von Gewalt, so ist mir die Erste, die direkte, die häufig in jungen Jahren praktiziert wird, um sich abzugrenzen, lieber, denn bei ihr weiß man, woran man ist. Gegenüber der direkten Gewalt ist mir die indirekte, versteckte Gewalt, die viele Erwachsene praktizieren und häufig hinter schönen oder unschuldig klingenden Worten verstecken, verhasst. Diese Art von Gewalt ist mir verhasst, da man bei den Menschen, die sie praktizieren, häufig nicht weiß, woran man ist und man dadurch der drohenden Gewalt nicht direkt begegnen und sie durch Reden entschärfen kann. Doch, nicht nur das, darüber hinaus habe ich auch den Eindruck, dass viele Menschen sich auf die Benutzung von indirekter und versteckter Gewalt beschränken, um sich am Ende eines Tages selbst belügen zu können. Sie wollen ja nicht als „böse“ Menschen gesehen werden, die mobben, lügen, betrügen und anderen Steine in die Wege legen, sondern als weltoffen und freundlich gelten, besonders vor sich selbst.
Durch dieses Verhalten belügen sich viele Menschen tagein tagaus selbst, während sie die verschiedensten Arten der Gewalt praktizieren und am Ende ist ihre tagtäglich gelebte versteckte Gewalt schlimmer, als die direkte Gewalt, die immer wieder in den Medien Aufschreie der Entrüstung nach sich zieht. Ach, wie gern sich doch die Menschen selbst belügen und dadurch die Gewalt verdeckt in Worten und kleinen Taten in die Welt und in das Herz jeder Gesellschaft tragen.
Diese indirekte, versteckte Gewalt, die hauptsächlich Menschen trifft, die anders sind, als die Mehrheit einer Gesellschaft. Diese Gewalt, die häufig von Erwachsen bewusst und unbewusst praktiziert wird. Von Erwachsenen, die dadurch ihren Kindern vorleben, dass diese versteckte Gewalt normal und nicht schlimm ist. Und was machen die Kinder daraus? Sie adaptieren die Gewalt. Sie adaptieren sie häufig erst als direkte und dann, wenn sie älter und „weißer“ werden, als indirekte und versteckte Gewalt. Ist das denn nicht schön?
Und so dreht sich das Rad der Gewalt und schuld sind immer die anderen, da man die eigene versteckten, tagtäglich praktizierten Gewalttaten nicht sieht oder nicht sehen möchte. Ach, du schöne heile Welt!

Über meine Gedanken ist die Zeit verstrichen und die Drohrufe und die Geräusche meiner Verfolger verklingen langsam in der Ferne. Ich steige vom Baum und mache mich, mich ständig nach allen Seiten umblickend, auf den Nachhauseweg. Wieder ein Tag gut und heil überstanden, oder?

Published inMomente

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