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Momente – Teil 24: Vor der Haustür

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Es klingelt an der Tür. Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach neun Uhr abends. Ich stehe auf und begebe mich zu Tür. Ich frage mich, wer das so spät noch sein kann. Ich erwarte nämlich keinen Besuch mehr.
Ich öffne die Tür. Zu meiner Überraschung steht meine beste Freundin vor ihr. Im Licht der Tür fällt mir sofort auf, dass ihre Augen gerötet sind. Sie hat offensichtlich geweint. Sie hat geweint und das nicht zu wenig. Ich sage ruhig: „Hallo, wie geht es dir?“ und noch während die Worte meinen Mund verlassen, komme ich mir albern bei der Frage vor, denn schließlich ist offensichtlich, dass es ihr nicht gut geht. Meine beste Freundin schluchzt: „Er hat mich verlassen. Er hat mich wirklich verlassen.“ und fängt wieder an zu weinen.
Ich fühle mich emotional überfordert. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich geh auf sie zu, nehme sie in den Arm und tätschle ihren Rücken. Während ich das tue, sage ich: „Das wird schon wieder.“, doch was soll überhaupt ‚schon wieder‘ werden?
Ich frage meine beste Freundin: „Möchtest du nicht mit hereinkommen? Hier draußen ist es kalt und es regnet.“ „Nein, wenn ich irgendwo drinnen bin, fühle ich mich unwohl. In Räumen habe ich momentan den Eindruck, dass mir die Decke auf den Kopf fällt. Ich möchte lieber hier draußen, an der frischen Luft, bleiben.“, erwidert sie, halb schluchzend, halb versuchend zu lächeln. „In Ordnung, dann warte kurz, ich bin gleich wieder da.“ Nachdem ich das gesagt habe, gehe ich ins Haus und komme kurze Zeit später mit zwei Campingstühlen, die normalerweise in meinem Keller verstaut sind, wieder und stelle sie unter das Vordach der Tür. „Na dann, setzt dich wenigstens etwas hin und mache es dir soweit wie möglich gemütlich. Möchtest du etwas trinken?“ „Ja, gerne, ein Tee wäre nett.“, erwidert meine beste Freundin. Ich gehe in die Küche, koche einen Topf Tee und fülle ihn, nach dem der Tee ausreichend gezogen hat, in eine Thermoskanne. Anschließend nehme ich noch zwei Tassen aus dem Küchenregal und bringe sie raus, vor die Tür. Zu guter Letzt hole ich noch einen Holzhocker, zum Abstellen der Tassen und der Thermoskanne, und zwei Decken, von denen ich eine meiner besten Freundin gebe, damit sie nicht friere. In die zweite Decke hülle ich mich selbst ein, nachdem ich mich zu meiner guten Freundin gesetzt habe.
Das erledigt sage ich zu ihr: „Na dann, erzähl mal. Was ist passiert?“ Auf diese Frage hin sammelt sich meine beste Freundin einen Moment, bevor sie erwidert: „Wie bereits gesagt, mein Freund hat mich verlassen. Er hat von gestern auf heute einfach Schluss gemacht und ist gegangen. Er hat mich allein zurückgelassen.“ Bei diesen Worten fängt sie wieder an zu weinen. Mir gehen ihre Tränen nah. Sie gehen mir an die Nieren, da ich meine beste Freundin sehr gern habe und es mir mein Herz zerreißt, sie traurig und unglücklich zu sehen. Viel lieber würde ich sie lachend und tanzend sehen, doch das Leben ist kein Wunschkonzert und so gehören leider auch traurige Zeiten dazu. Traurige Zeiten, sei es im Leben oder in einer Freundschaft. Und sind denn nicht gerade Freundschaften, vor allem gute Freundschaften, dafür da, schlechte Zeiten gemeinsam durchzustehen?
Meiner besten Freundin antworte ich auf ihre Aussage hin, obwohl mir bewusst ist, dass meine Worte hart klingen, ich aber nicht lügen möchte: „Jetzt machst du dir aber selbst etwas vor. Du hast mir selbst schon gesagt, dass ihr euch in der letzten Zeit häufig gestritten habt. Zwar habt ihr nach außen hin noch den Eindruck der trauten Zweisamkeit vermittelt, aber in eurer Beziehung knirschte es schon eine ganz Weile.“ „Das stimmt nicht!“, widerspricht mir meine beste Freundin sofort. „Doch, so begannen sich, unter vielen anderen Dingen, eure Lebenswege in verschiedene Richtungen zu entwickeln, so das sich eurer geistiger und moralischer Horizont, so wie eure Erwartungen ans Leben, voneinander entfernten. Eure Lebensziele und Wünsche veränderten sich mit der Zeit. Der eine von euch wollte Kinder, der andere nicht. Der eine wollte Karriere, der andere lieber feste gemeinsame Zeiten, die man in Ruhe miteinander verbringen kann, anstatt immer auf Abruf zu sein.“ „Ja, das schon, aber ich wäre ja kompromissbereit gewesen und wir hätten ja über alles reden und eine gemeinsame Lösung finden können.“ „Ja, ihr hättet reden können, doch Kompromissbereitschaft bedeutet, dass beide bereit sind, sich zu bewegen und nicht nur einer. Vielleicht hat dein Freund, oder sollte ich besser sagen ‚Ex-Freund‘, gemerkt, dass du bereit warst, dich selbst und deine Wünsche, um seines Willens, aufzugeben, er aber das nicht wollte, da du dann nicht mehr der Mensch gewesen wärst, den er all die Jahre liebte? Vielleicht zog er den Schlussstrich, um dich, vor dir selbst zu schützen? Hast du dich das schon einmal gefragt?“ „Ja, du hast recht, das könnte sein. Doch trotzdem schmerzt mir mein Herz und ich vermisse ihn.“ „Ja, frische Wunden schmerzen. Doch die Zeit wird auch diese Wunde heilen, wenn vielleicht noch nicht morgen, so doch in Wochen, Monaten oder Jahren, je nachdem wie das Leben spielt.“ „Ja, vielleicht.“, erwidert meine beste Freundin und fängt wieder an zu schluchzen. Da ich nicht mehr weiß, was ich noch sagen kann, bleibe ich einfach stumm. Ich bleibe einfach stumm sitzen, um ihr allein durch meine Anwesenheit, Gesellschaft und Trost zu spenden.

Wir sitzen einfach schweigend da, vor meiner Haustür, auf Campingstühlen. Es ist eine kalte Nacht, nach einem traurigen, lebensverändernden Tag, zumindest für einen von uns beiden. Doch sitzen wir zusammen hier und genießen einfach unsere Freundschaft und Vertrautheit. Wir genießen, dass wir jemanden haben, der, solange wir beide leben, immer für uns da sein wird.

Published inMomente

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