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Momente – Teil 44: Vor einem Grab

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Ich stehe vor einem Grab. Es ist nicht wirklich mehr ein frisches Grab, aber es ist auch noch nicht wirklich alt. Es ist das Grab eines ehemaligen guten Freundes. Von einem Freund, zu dem mit der Zeit der Kontakt etwas einschlief, so dass wir die letzten Dekaden eigentlich nur noch zweimal im Jahr Kontakt hatten. Zweimal, wenn wir uns gegenseitig zum Geburtstag gratulierten und bei dieser Gelegenheit gleich mit fragten, wie es denn dem anderen so gehe und was sich denn neues ereignet oder ergeben hätte. Aufgrund dieses seltenen Kontaktes kam es schließlich auch dazu, dass ich erst jetzt, etwa fünf Monate nach seinem Tod, an seinem Grabe stehe.
Viereinhalb Monate hatte ich nicht mitbekommen, dass er gestorben war. Erst als ich ihm zum Geburtstag gratulieren wollte, ihn nicht erreichte und dann die „Fühler“ ausstreckte, erfuhr ich, dass er, nach kurzer schwerer Krankheit, gestorben war. Erschüttert bis ins Mark, als ich davon erfuhr, brauchte ich eins, zwei Tage um mich wieder zu fangen. Eins, zwei Tagen, in denen mir immer wieder die Erinnerungen an unsere verstrichenen, gemeinsamen Jahre und unsere Abenteuer, vor mein geistiges Auge traten.
Schließlich, die erste Trauer überwunden, machte ich mich daran, herauszufinden, wo er denn begraben lag. Als ich das herausgefunden hatte, machte ich mich auf den Weg, ihm seine letzte Ehre, wenn auch etwas verspätet, zu erweisen.

Jetzt also stehe ich vor seinem Grab. Ich stehe dort, wo seine „sterblichen Überreste“ begraben liegen. Noch einmal steigen die alten Erinnerungen in mir auf. Noch einmal die Erinnerungen an die Jahre, die wir in Freundschaft verbrachten. Mir wird schwer ums Herz.
Ich gebe zu, mein Freund war nicht mehr der Jüngste, als er starb. Doch wenn man den Statistiken trauen durfte, hatte er noch nicht einmal die Hälfte seiner zu erwarteten Lebensjahre erreicht, als er starb. Er war viel zu jung gestorben. Viel zu jung.
Ich denke an den Tod. Ich denke daran zurück, wie viele Freunde, Bekannte und Familienangehörige, im Laufe meines Lebens, schon zu Grabe getragen wurden. Mir wird darüber bewusst, dass der Tod mir näher kommt und mir immer häufiger sein Gesicht zeigt. Nicht das man mich falsch versteht, ich verdamme den Tod nicht. Nein, absolut nicht. Der Tod gehört zum Leben und erst durch ihn wird das Leben wertvoll. Nur der Tod bringt uns dazu, zu versuchen, das Beste aus unseren Leben und unserer begrenzten Lebenszeit zu machen. Gäbe es ihn nicht, wäre unsere Welt schon längst zerstört und tot.
Ich denke an den Tod. An Gevatter Tod und mir wird bewusst, dass sich im Laufe meines Lebens das Gesicht änderte, dass er mir zeigte. Zeigte er mir in jungen Jahren noch ein Gesicht, dass mir Angst machte, da er mir Wort und Grußlos meine Familienangehörigen, vor allem die älteren, nahm, so nahm er in meiner Jugendzeit eher die Freunde und Bekannte mit, die sorglos lebten, feierten und sich selbst überschätzten. In meiner Jugend nahm er hauptsächlich Freunde und Bekannte mit, die zu viel Alkohol tranken und dann bei selbst verschuldeten tödlichen Unfällen starben oder an ihrem eigenen Erbrochenen erstickten. Dann holte Gevatter Tod eine Zeit lang nur wenige Freunde und Bekannte von mir, wobei die meisten von denen, die er holte, bei Unfällen starben. Jetzt, da ich noch älter geworden bin, nimmt Gevatter Tod vor allem Freund und Bekannte mit, die schwer erkrankten. Krankheiten, über die meine Freunde und ich als Kinder und Jugendliche noch lachten, wurden mit den verstreichen unserer Lebensjahre, immer häufiger der Grund dafür, dass der Gevatter Tod kam. Er kam und nahm meine alten Freunde und Bekannte mit sich ins Nichts.
In meinen jungen Jahren, nachdem ich meine Angst vor Gevatter Tod, der mir meine Familienangehörigen nahm, überwunden hatte, war ich sorgsam mit meinem Leben umgegangen und bin nur wenige Risiken eingegangen, auf das er mich nicht zu schnell hole. Ich wollte nicht wie einige meiner Freunde und Bekannte, die ihn durch Sorglosigkeit und Selbstüberschätzung viel zu früh zu sich riefen, enden. Doch jetzt, mit ein paar Jahrzehnten mehr auf dem Buckel, merke ich, dass mich der rücksichtsvolle Umgang mit dem Leben, sei es das Leben anderer oder mein eigenes, nicht davor bewahren wird, auch irgendwann, vielleicht viel zu früh, von Gevatter Tod geholt zu werden. Ein dummer Unfall oder eine kurze schwere Krankheit, wie bei meinem alten Freund, und schon kann das Leben vorbei sein. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit oder ein plötzliches Versagen meines Körpers und schon kommt er und nimmt mich mit sich ins Nichts.

Schwermut möchte sich in meinem Herzen ausbreiten, doch lasse ich es nicht zu. Ich lasse es nicht zu, da Schwermut weder mir, noch irgendjemand anderem, etwas bringt. Ich denke an meinen alten Freund und an all das, was er noch in seinem Leben erreichen wollte. Ich denke an all die Dinge, die er jetzt nicht mehr tun und erreichen kann. Ich denke an ihn und mache mir bewusst, dass mich die Angst vor Gevatter Tod nur lähmte und am Leben hinderte. Ich mache mir bewusst, dass ich bewusst und sorgsam mit meinem und allen anderen Leben umgehen muss, da jedes Leben einfach nur einzigartig und, wenn einmal verloren, nicht wiederzuerlangen ist. Mir wird bewusst, dass ich, anstatt einfach dahinzuvegetieren und durch die Zeit zu dümpeln, mehr für meine Ziele tun muss, damit ich dann, wenn mich Gevatter Tod holen kommt, zu ihm sagen kann, dass ich ein Leben lebte, das es wert war, gelebt zu werden. Ein Leben, aus dem ich das Beste machte, was mir möglich war.

Mit diesem Gedanken nehme ich Abschied von meinem alten Freund und seiner Ruhestätte. Ich mache mich auf den Weg zurück in mein altes Leben. Ein Leben, dessen Weg ich jetzt überdenken und dann bewusst weiter leben werde.

Hoffentlich werde ich einen Lebensweg finden und gehen, dessen ich mich nicht schämen muss, wenn eines Tages Gevatter Tod zu mir kommt, um mich mit sich ins Nichts zu nehmen.

Published inMomente

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