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Das Leben von Geschichten

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Hey du! Ja, genau du. Halt mal etwas Inne und setzt dich zu mir. Ich möchte dir etwas erzählen.

Warum zögerst du? Ich beiße nicht und das, was ich dir erzählen möchte, kostet dich nichts, außer einen Moment deiner Zeit.

Schau nicht so gehetzt auf deine Uhr und mache nicht so eine entschuldigende Geste. Wenn du so, wie jetzt, immer durch dein Leben hetzt, verpasst du es nur. Du verpasst es, da du keine bis wenige neue Erfahrungen sammelst und nur eine Lebensgeschichte schreibst, die aus dem ‚durchs Leben rennen‘ besteht.

Na also, setzt dich. Möchtest du einen Tee?

Hier bitte. Und jetzt zu dem, was ich dir erzählen möchte.

Ich möchte dir davon erzählen, dass jeder Moment im Leben, vor allem dann, wenn etwas Unvorhergesehenes oder nicht alltägliches in ihm passiert, der Ausgang einer Geschichte sein kann. Für dich kann beispielsweise der Ausgang einer Geschichte sein, dass dich ein Fremder auf der Straße ansprach und dich dazu einlud, sich zu ihm zu setzen, da er dir etwas erzählen möchte. Es kann der Beginn einer Geschichte sein, da sie die Frage in den Raum stellt, was denn der Fremde, den man doch nicht kennt, einem erzählen möchte und offene Fragen meist ein guter Anfang für eine Geschichte sind.
Doch ich schweife ab oder auch nicht. Ach, sei es, wie es ist. Ich möchte dir, mit dem, was ich sage, nur näher bringen, dass alles der Beginn einer Geschichte sein kann und man, wenn man den Beginn einer Geschichte sieht, Einfluss auf sie nehmen und ein Stück weit selbst schreiben kann. Nehmen wir beispielsweise die Geschichte unserer Begegnung. So wäre sie eine kurze Geschichte gewesen, hättest du die Entscheidung getroffen, nicht innezuhalten. Hättest du nicht innegehalten wäre die Geschichte unserer Begegnung aus deiner Sicht: ‚Mich sprach ein komischer Kauz, der am Straßenrand saß an, doch ich war in Eile und so ließ ich ihn sitzen und setzte meinen Weg fort.‘ Doch da du innehieltest und dich überzeugen ließt, mir zu lauschen, kannst du bereits jetzt eine längere Geschichte erzählen. Du kannst eine Geschichte erzählen, die so beginnt: ‚Ich eilte gerade durch die Innenstadt, als mich plötzlich ein Mann ansprach, der am Straßenrand saß. Der Mann forderte mich auf, innezuhalten und mich zu ihm zu setzten. Ich zögerte, da ich eigentlich keine Zeit hatte, doch meine Neugier siegte und so setzte ich mich zu dem Mann. Er bot mir eine Tasse Tee an, den ich dankend annahm und dann begann er mir von Geschichten zu erzählen.’
Also, was ist die bessere Geschichte oder um es anders auszudrücken, was ist der bessere Beginn einer Geschichte? Unsere tagtäglichen Entscheidungen bestimmen darüber, ob wir Geschichten erleben und ob es sich bei ihnen um erzählenswerte Geschichten handelt. Jeder Moment kann dabei der Ausgang einer Geschichte sein und man kann häufig Einfluss auf seine Geschichten nehmen und ihnen durch bewusste Entscheidungen auf die Sprünge helfen. Man kann an die Geschichten herangehen und sich fragen, welche wahre Lebensgeschichte man auf dem Sterbebett erzählen oder im Rückblick sehen möchte. Eine Geschichte, in der man nur von Termin zu Termin hetzte, eine Gaunergeschichte, in der Mann immer nur alles dafür tat, sich selbst zu bereichern oder eine Geschichte vom Guten, in der man versuchte in jeder Situation das ethische und moralische Richtige zu tun. Durch diesen Blick seines zukünftigen Ich, kann man dann bewusst steuern, was für Geschichten man erleben kann oder erlebt. Durch diesen Blick aus der eigenen Zukunft, in die zukünftige Vergangenheit, kann man Geschichten leben, die einem keiner glaubt, da die Entscheidungen, die man aufgrund dieses Blickes, in der Gegenwart trifft, manch einmal wider der Vernunft und absurd erscheinen. Und doch, wenn man das große Ganze, also die Geschichte und insbesondere seine Lebensgeschichte im Blick hat, kann man genau solche Entscheidungen treffen und die unglaublichsten Geschichten erleben.
Darum meine Bitte an dich. Hetze nicht einfach kopflos durchs Leben, sondern Frage dich, welche Geschichten du erleben und erzählen möchtest. Möchtest du eine gute oder schlechte Lebensgeschichte leben? Möchtest du Abenteuer erleben oder ein Leben in stumpfer Lethargie verbringen? Triff deine tagtäglichen Entscheidungen und frage dich dabei, welche Geschichte dein zukünftiges Ich erzählen möchte und du wirst vielleicht Entscheidungen treffen, die im Moment widersinnig scheinen, aber im Großen und Ganzen die beste, ehrliche und nachhaltigste Geschichte schreiben.

Doch damit genug. Ich sehe, du hast deinen Tee ausgetrunken und ich habe dir jetzt auch schon genug deiner Lebenszeit gestohlen. Geh weiter deinen Lebensweg und schreibe und erlebe Lebensgeschichten, die sich zu erzählen lohnen. Am besten Geschichten, die vom Guten und von der Hoffnung handeln, denn egoistisches, böses und schwermütiges gibt es auf der Welt wahrlich schon genug.

Published inErzählungen

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