Zum Inhalt springen

Über Gespräche unserer Zeit

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Ich bin müde, erschöpft von den Unterhaltungen unserer Zeit. Einst unterhielt ich mich gerne mit den Menschen. Ich lernte gerne neue Menschen kennen und diskutierte mit ihnen über Gott und die Welt. Doch irgendetwas änderte sich. Entweder ich mich oder sich meine Gesprächspartner. Es änderte sich die Unterhaltungskultur und es verschwand die generelle Freude an Diskussionen. Es verschwand das Interesse am Austausch von Meinungen und dem Bedürfnis seinen Horizont zu erweitern, um die Welt besser kennenzulernen und zu verstehen. Es verschwand das Bedürfnis sich selbst, durch Unterhaltungen, weiterzuentwickeln.

Der Abend ist gekommen und ich sitze da, ein Bier in meiner Hand, und warte darauf, dass die Zeit vergeht. Die Zeit, die ich gerne mit anderen Menschen verbrächte und mit Diskussionen füllte. Ja, die Zeit, die doch eigentlich so kostbar und wenn einmal vergangen nicht wiederzuerlangen ist. Ich trinke einen Schluck von meinem Bier und frage mich: „Wann hat mir eine Diskussion zum letzten Mal richtig Spaß gemacht und mich dazu gebracht, mich selbst zu hinterfragen und meinen Horizont zu erweitern?“ Es ist Jahre her! Und was ist mit den Gesprächen und Diskussion die ich jetzt führe? Es handelt sich um Diskussionen und Gespräche, die eigentlich reine Zeitverschwendung sind. Diskussionen, in denen die Beteiligten nur sich und ihren Standpunkt sehen und glauben, dass sie die einzige, allumfassende Wahrheit kennen. Es sind Unterhaltungen mit Menschen, die nicht einmal mehr versuchen den Standpunkt anderer zu verstehen und sich mit diesem konstruktiv auseinanderzusetzen. Doch nicht nur die Diskussionsqualität hat gelitten, nein, auch das, was Gespräche einst für mich wertvoll machte, ist abhandengekommen. Früher unterhielt ich mich mit anderen Menschen und es kam zu einem Austausch von Fragen und Gedanken. Es waren Gespräche, bei denen man merkte, dass der andere einem wirklich zuhört. Doch was ist davon heute geblieben? Für mich nicht viel, denn viele meiner aktuellen Gespräche kommen mir wie Verkaufsgespräche vor, in denen sich der jeweilige Gesprächspartner einfach nur noch versucht, bestmöglich und manchmal gar übermenschlich darzustellen.

Meine Bierflasche ist leer und ich hole mir eine neue. Kronkorken auf, Flasche an den Mund gesetzt und Schluck um Schluck versuche ich weiter meine Zeit und Gedanken zu ertränken. Ich versuche meine Gedanken zu betäuben, doch es gelingt mir nicht.
Was machte früher die Gespräche und Diskussionen für mich besonders? Es war das Reiben an der Meinung, den Gedanken und Ideen anderer. Es war das Argumentieren, Nachfragen und Schwachstellen in der Meinung anderer oder sogar der eigenen zu finden und diese argumentativ aufzuzeigen. Es war das Hinterfragen des eigenen Selbstverständnisses, um ein besseres Bild von sich selbst und der Welt zu bekommen. Es waren Gespräche, die kein reiner „Smalltalk“ waren, sondern Gespräche, in denen man merkte, dass der andere, Interesse an der Meinung von einem hat und wirklich wissen möchte, wie man die Welt sieht.

Verdammt, mein Bier ist schon wieder leer. Ich hole mir noch eine neue Flasche. Wieder Kronkorken auf und an den Mund gesetzt. Mein Kopf wird langsam schummrig. Ich merke die Wirkung des Alkohols. Ich merke, dass er mich langsam weg zieht, mir meine Zeit nimmt, und mich ins Reich der Träume führt. Doch etwas hält mich davon ab ins Reich der Träume, auch wenn es Alkoholschwere Träume sind, zu gleiten. Es halten mich immer noch die Gedanken an die Gespräche zurück, die ich tagtäglich führe, die ich zum Teil führen muss, obwohl ich es gar nicht mehr möchte.
Ich denke an die Diskussionen, in denen sich die Gesprächspartner kein Stück bewegen und in denen immer wieder Aussagen wie „Ich verstehe nicht, was du meinst!“ oder „Ich verstehe dein Problem nicht!“ kommen. Es sind Gespräche, in denen man merkt, dass der Gesprächspartner den Standpunkt und die Sicht des anderen gar nicht verstehen möchte. Er möchte den anderen nicht verstehen, da er sich dann vielleicht selbst und seinen eigenen Standpunkt hinterfragen müsste. Es sind Unterhaltungen und Diskussionen wie diese, in denen die Gesprächspartner jedes Nachgeben, jedes zeigen davon, dass man den Blickpunkt des anderen verstehen kann, auch wenn man ihn nicht unbedingt teilt, als Schwäche auslegen. Es sind Gespräche und Diskussionen, die viele nur führen und führen wollen, wenn sie sich aus ihnen eine Bestätigung von sich selbst und ihres Standpunktes erhoffen. Nein, solche Gespräche und Diskussionen machen mir keinen Spaß.

Ich muss pissen. Ich stehe auf und merke, dass mir die Beine langsam weich werden. Ich gehe zur Toilette, stelle mich vor die Toilettenschüssel, lehne meinen Kopf gegen die Wand, mache meinen Hosenstall auf und lasse mein Gemächt heraushängen. Ich versuche mit meinem Strahl gut die Toilettenschüssel zu treffen, auf das es keine Sauerei gibt, die ich später bereinigen müsste.
Während es plätschert, denke ich an die Gespräche, die ich in den letzten Tagen führte. Ich denke an die Gespräche mit Fremden, die vielleicht einmal Freunde oder Kumpels werden könnten. Die Gespräche waren alle öde! Sie fühlten sich für mich wie Verkaufsgespräche an, in denen sich meine Gesprächspartner einfach nur versuchten, bestmöglich darzustellen und wenn überhaupt, nur Interesse an dem heuchelten, was ich sagte. Häufig hatte ich den Eindruck, dass sie sich am allerliebsten selbst reden hörten und eigentlich nur Interesse daran hatte, ihre eigenen Gedanken von sich zu geben. „Solche Gespräche und Diskussionen sind es, die ich am liebsten vergessen und in der Toilette meines Lebens hinunterspülen möchte“, denke ich bei mir, während mein Strahl langsam schwächer wird und zu einem Tropfen verkommt.
Während ich abschüttle und mein Gemächt wieder einpacke, frage ich mich, was Gespräche früher mich besonders machte. Das besondere war, das wirkliche einander zuhören. Es war das, auf das Gesagte des Gesprächspartners eingehen und nachfragen, um den anderen besser zu verstehen und um ihn zu zeigen, dass man ihn wirklich zuhört. Doch was ist davon heute geblieben? Scheinbar nur die eigene Imagepflege des jeweils Sprechenden.
Ich spüle die Toilette und während ich in den Wasserstrudel des Ablaufes blicke, hoffe ich, dass er meine Gedanken mit sich reißt. Ich hoffe, dass der Sprudel meine Gedanken und Zweifel an der Kultur unserer Gesellschaft mit sich hinunter in die dunklen Abgründe unserer Gesellschaft reißt. Doch die Gedanken bleiben. Also dann, Händewaschen und zurück aufs Sofa, um den primären Betäubungsmittel unserer Zivilisation zu frönen, auch wenn mich seine Wirkung bis jetzt im Stich lässt.

Ich komme am Sofa an und stelle fest, dass auch die dritte Bierflasche leer ist, also dann, auf zur Vierten. Kronkorken auf und Flaschenhals an den Mund gesetzt.
Während der Inhalt der vierten Flasche meine Kehle hinunterläuft, denke ich an all die Gespräche zurück, die eigentlich Monologe waren. Ach, wie viele Gespräche führte ich schon mit anderen Leuten, die nur Stundenlang von sich selbst erzählten, nicht nach meiner Meinung oder Sicht fragten und wenn doch, nicht auf meine Erwiderung eingingen, sondern anschließend sofort weiter von sich und ihrer Sicht der Dinge sprachen? Viel zu viele. Es kommt mir so vor, als lebten viele Menschen die Selbstdarstellung ihrer Meinung, die als einzige die Richtige sein konnte, da sie sich ja nie irrten, aus. Ich frage mich, wie es nur dazu kommen konnte, dass die Selbstdarstellung und die Filterblasen, die in Facebook, Instagram und wie sie noch alle heißen, ihre digitalen Ausprägungen gefunden haben, sich so tief in unserer Gesellschaft und Gesprächskultur verwurzeln konnten. Wie konnte es nur dazu kommen, dass wir unsere Gedanken nicht mehr an der Wirklichkeit messen und Gespräch nur führen, um Bestätigung für unsere Sicht der Dinge zu bekommen, auch wenn wir dann die einzige Bestätigung nur aus unseren eigenen Mündern hören? Ach, wie gut es die Menschen doch haben, die ihren vollendeten Hybris zelebrieren und ihn tagtäglich hegen und pflegen können, ohne sich je selbst zu hinterfragen!

Auch mein viertes Bier ist leer. Mein Kopf wird mir schwer. Bald habe ich es geschafft und kann meine Gedanken und diesen beschissenen Tag, wie so viele andere vor ihm, hinter mir lassen. Mein Kopf sinkt auf den Tisch und plötzlich stellt sich ein beißender Hass auf mich selbst ein. Ich hasse mich dafür, dass ich meine Zeit verschwende. Ich hasse mich dafür, dass ich mir mit Bier den Kopf volllaufen lasse, anstatt zu versuchen, etwas zu ändern. Ich hasse mich dafür, dass ich ein Schatten meines ehemaligen Selbst geworden bin.

Ich stehe auf. Mir dreht sich alles. Ich schwanke durch meine Wohnung. Mir ist schlecht.

Ich frage mich, warum ich mir überhaupt so viele Gedanken mache. Ich frage mich, warum ich es nicht schaffe, mich mit einer Blase der Ignoranz zu umgeben, wie es doch so viele Menschen tun. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass mein Kopf arbeitet und arbeitet. Er macht Überstunden und selbst wenn ich versuche zu verdrängen, versuche zu vergessen oder ihn gar im Alkohol zu ertränken, so gelingt es mir nicht. Ich sehe die Welt, ich höre die Gespräche und ich mache mir Gedanken. Gedanken, die richtig oder falsch sein können. Gedanken, über die man sich unterhalten oder diskutieren könnte. Doch wer macht das heute noch offen, unvoreingenommen und ohne vorgefertigte Meinung? Eben, fast keiner, und so bleibt mir nur die Hoffnung, dass das Bier doch noch seinen Dienst tut, meine Gedanken verstummen lässt, auf das mich dann der Schlaf holt und auch dieser Tag, wie so viele vor ihm, endlich zu Ende geht.

Published inErzählungen

Diese Webseite verwendet nur technische Cookies, die zur Funktion der Webseite notwendig sind. Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du ihrer Verwendung zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen