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„Die Zeit war (nicht) gut zu dir“ – Zwei ein Brief Kurzgeschichten

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Die Zeit war nicht gut zu dir

Liebe Freundin,
wir hatten uns seit fast einer Dekade nicht mehr gesehen, sondern nur noch über die sozialen Medien Kontakt gehalten, bevor du letzten Freitag übers Wochenende zu mir zu Besuch kamst. Du kamst und das Erste, das ich dachte, als ich dich nach all den Jahren wieder sah, war: „Die Zeit war nicht gut zu dir.“ Ich schämte mich für diesen Gedanken und so behielt ich ihn für mich. Ich behielt ihn für mich und begrüßte dich, wie man eben eine gute alte Freundin begrüßt, indem ich dich umarmte, wie wir es auch immer in unseren jungen Jahren getan haben. Doch etwas hatte sich verändert, denn als ich dich umarmte, verspürte ich nicht mehr die Wärme deines Körpers und ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit, nein, stattdessen stieg mir sofort ein unangenehmer Geruch nach kaltem Zigarettenrauch in die Nase, der mich dazu brachte, nicht länger als unbedingt nötig, in deiner unmittelbaren Nähe zu sein. Es war ein unangenehmer Geruch. Es war ein unangenehmer erster Eindruck, den du mir da, nach all den Jahren unserer Freundschaft, vermitteltest. Doch auf den ersten Eindruck, vor allem wenn man alte Freunde trifft, soll man nicht so viel geben, sondern versuchen offenzubleiben, um einander wieder wirklich kennenzulernen. So versuchte ich offenzubleiben und das zu finden, dass unsere Freundschaft einst ausmachte, doch auch die Unterhaltungen, die wir am Wochenende führten und die Unternehmungen, die wir in Angriff nahmen, machten mir bewusst, dass leider der erste Eindruck, den ich nach all den Jahren wieder von dir hatte, der richtige war und von dem, was unsere Freundschaft einst ausmachte, nichts mehr viel übrig geblieben ist.

Ist es denn nicht so, dass man den Verlauf eines menschlichen Lebens mit dem einer Blume vergleichen kann? Der Mensch wird aus dem Mutterleib geboren und wächst dann zum erwachsenen Menschen heran und die Pflanze reift aus ihrem Samen zur erwachsenen Pflanze? Erst sind beide von zierlichem Wuchs, doch dann wachsen sie mit der Zeit heran, werden stattlich und tragen schöne Blüten zur Schau, bevor schließlich das Alter kommt und ihnen die Lebensenergie nimmt, auf dass jedes Lebewesen, sei es Pflanze oder Mensch, am Ende seiner Zeit wieder zu der Erde wird, aus der es einst hervorging. Die Zeit der Blüte ist dabei für alle Menschen unterschiedlich lang und findet zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Leben statt. Manche Menschen blühen nur einmal kurz auf, manche mehrmals und einige wenige blühen fast ihr ganzes Leben lang. Doch nicht nur das, in meinem Leben stellte ich auch fest, dass manche Menschen die Blüte ihrer Leben nie erreichen. Zu diesen Menschen, die bereits vor dem Erreichen ihrer vollen Blüte verdorren, zähltest offensichtlich auch du, zumindest ist das der Eindruck, den ich am Wochenende deines Besuches gewann. So lernte ich dich in der Zeit unserer Jugend kennen und wir wuchsen gemeinsam zu erwachsenen Menschen heran. Doch dann trennten sich unsere Wege und wir verloren uns aus den Augen, auch wenn wir über die sozialen Medien in Kontakt blieben. Wir verloren unsere Bindung aneinander und während ich mich weiterentwickelte und versuchte sowohl zur körperlichen, als auch zur geistigen Blüte zu gelangen, hatte die Zeit etwas anderes mit dir vor. Die Zeit, die dich bereits vor dem Erreichen deiner körperlichen und geistigen Blüte wieder verdorren ließ.
Den körperlichen Verfall konnte ich deutlich sehen, als du bei mir zu Besuch warst und ich merkte, dass du dich mit ihm abgefunden hast. So gingen wir, als du zu Besuch warst, am ersten Tag einkaufen und ich schlug vor, etwas frisch für uns zu kochen, doch du meintest nur, dass das Zeitverschwendung sei. So packtest du, statt meiner vorgeschlagenen Zutaten, um selbst etwas Köstliches zu kochen, nur lauter Fertiggerichte, wie Dosensuppen und Pizzen in den Einkaufswagen. Doch damit noch nicht genug, kurz vor der Kasse machtest du noch einen Abstecher in die Getränkeabteilung, um dir einen Sixpack Bier und zwei Flaschen Wein zu holen. Aber selbst der Erwerb der alkoholischen Getränke stellt dich noch nicht zufrieden, nein, stattdessen schlosst du den Einkauf an der Kasse ab, indem du ihm noch drei Schachteln Zigaretten hinzufügtest, für jeden Tag eine, wie du meintest. Ich war verblüfft davon, dass du dir Zigaretten und alkoholische Getränke kaufst, denn früher, als ich dich kennenlernte und in den Jahren unserer direkten Freundschaft, machtest du einen großen Bogen um diese Suchtmittel. Doch je mehr ich dich betrachtete und mit dir unternahm, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass du nicht mehr der Mensch bist, der du einst warst. Du bist weder körperlich noch geistig mehr der Mensch, den ich einst als Freundin schätzen und mögen gelernt habe. Körperlich, aufgrund des Verfalles, den scheinbar dein jahrelanger Konsum von Zigaretten und Alkohol verschuldete und geistig, weil du irgendwann aufhörtest nach Wissen, Erkenntnis und Weltverständnis zu streben.

Nach unserem gemeinsamen Einkaufen gingen wir zu mir und ich schob die Pizzen in den Backofen. Während die Pizzen im Backofen aufbuken wollte ich mich mit dir unterhalten, doch du blocktest ab. Stattdessen meintest du, dass bestimmt etwas im Fernsehen liefe und schaltetest ihn ein. Du ließt dich lieber vom Fernseher berieseln, anstatt dich mit mir zu unterhalten und auszutauschen. Du ließt dich berieseln, während du dein Bier trankst und die Pizzen, als sie fertig waren, abwesend verspeistest.
Die Zeit schritt voran und ich fragte mich, warum du mich überhaupt besuchen gekommen bist. Warum bist du zu mir, zu Besuch gekommen, wenn du doch die Zeit nicht mit mir verbrachtest, sondern dich neben mir sinnlos beschallen und volllaufen ließt? Na gut, es war der erste Tag, vielleicht hattest du eine anstrengende Anreise und wolltest einfach nur noch abschalten. Ich dachte, dass vielleicht die kommenden zwei Tage besser würden, doch ich irrte mich.

Ich irrte mich, denn die zwei folgenden Tage und die Unternehmungen, die wir begingen, zeigten mir nur, dass deine Moral, dein Witz und dein Geist nicht mehr mit dem meinen kompatibel waren. Während wir die kommenden Tage Veranstaltungen besuchten, Spazieren gingen und uns doch noch etwas unterhielten, merkte ich, dass dich eigentlich nur noch seichte Unterhaltungen interessierten. Mehr als einmal meintest du, dass dich dieses oder jenes nicht interessierte, da du es nicht wissen müsstest. Doch nicht nur das, du gingst durch die Welt und ließt abfällige Kommentare und Witzen über Menschen fallen, die du nicht kanntest, nur weil dir ihr Aussehen oder Erscheinungsbild nicht gefiel. Es waren Sprüche unter jedem Niveau.
Ich war schockiert von deinem Auftreten. Ich war schockiert, dass dich scheinbar wenig interessierte und du hauptsächlich in den Tag hineinlebtest. Vielleicht hätte ich ja etwas zu dir sagen sollen. Meine Beobachtungen in Worte fassen, doch ich wusste nicht wie. Ich wusste nicht was tun. Na gut, wenn ich ehrlich bin, so wollte ich keinen Streit und dachte bei mir, dass die übrigen Tage deines Besuches auch bald vorbei wären und wir dann wieder zu unserer oberflächlichen Bekanntschaft, über die sozialen Medien, zurückkehrten. Also warum etwas sagen und Streit riskieren?

Damit könnte die Geschichte deines Besuches für mich eigentlich zu Ende gewesen sein. Doch dem war nicht so, denn der Gedanke etwas zu sagen, beziehungsweise diesen Brief zu schreiben, hatte sich in mir festgesetzt und seine Tentakel nach meinem Herz ausgestreckt, so dass ich nicht mehr zur Ruhe kam. Es gärte in mir, meine gewonnenen Eindrücke nicht einfach für mich zu behalten und auf sich sitzenzulassen. Nein, sie wollten ausformuliert, niedergeschrieben und dir mitgeteilt werden. Sie wollten, dass ich sie dir mitteile, da du mir früher eine gute Freundin warst und aufgrund dessen das Schweigen oder den tonlosen Abbruch unserer Freundschaft nicht verdientest.
So sitze ich jetzt hier, tippe diesen Brief und frage mich, ob unsere Bekanntschaft überhaupt noch eine Zukunft hat oder haben sollte. Hat jede Zeit, die wir weiter in unsere alte Freundschaft investieren überhaupt noch einen Nutzen oder sind wir uns beide bereits so fremd geworden, dass es einfach nur noch Zeitverschwendung ist? Ich weiß es nicht! Vielleicht bist du mit deinen Gedanken schon weiter und kannst mir sagen, wie wir von hier an am besten mit unserer alten Freundschaft weiter verfahren sollten.

Dein alter Freund …

Die Zeit war gut zu dir

Liebe Freundin,
wir hatten uns fast eine Dekade nicht gesehen, doch als du letzten Freitag zu Besuch kamst und vor meiner Tür standest, konnte man fast meinen, dass seit unserem letzten Treffen kein Tag vergangen war. Wir waren sofort wieder auf einer Wellenlänge und unterhielten uns gut. Dabei fiel mir sofort auf, dass du dir deine offene Art, dein herzliches Lächeln und dein Interesse an deinen Mitmenschen und deiner Umwelt erhalten hast. Ich hatte den Eindruck, dass die Zeit, die seit unserem letzten Treffen vergangen ist, gut zu dir war.
Zur Begrüßung umarmten wir uns und es kam mir so vor, als wäre kein Tag seit unserem letzten Treffen vergangen, den ich spürte sofort wieder die gleiche Vertrautheit wie früher. Nach der Begrüßung schlug ich vor, dass wir gleich noch etwas einkaufen sollten, um am Abend und den folgenden Tagen frisch kochen zu können und du stimmtest zu. So gingen wir in den Supermarkt und du suchtest die Zutaten für die Speisen der kommenden Tage heraus, wobei ich von einigen der Zutaten, die du da in unseren Einkaufskorb packtest, noch nie etwas gehört hatte. Nachdem wir alle Zutaten für die Gerichte, die wir in den folgenden Tagen kochen wollten, zusammen hatten, fragte ich dich, ob du noch etwas besonders zu trinken oder zu essen haben möchtest, was du ablehntest, wobei du meintest, dass alles, was wir jetzt noch kauften, unnötige Geldverschwendung und Umweltzerstörung sei. Ich war von dieser, deiner Einstellung und Aussage verblüfft, da ich selten Menschen traf, die diese Einstellungen hatten und sie auch so klar formulierten und vertraten. So ließen wir den Laden bald hinter uns und gingen zu mir, um das Abendessen zu bereiten. Bei mir angekommen, begaben wir uns gleich in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten und während wir die Zutaten klein schnitten, unterhielten wir uns über unsere bisherigen Leben und die aktuellen Ereignisse unserer Zeit. Wir unterhielten uns und kochten, wobei wir viel lachten und jede Menge Spaß hatten.
Als das Essen schließlich fertig war und wir gegessen hatten, fragte ich dich, was du noch zu tun Lust hättest und du schlugst vor, noch einen Abendspaziergang zu unternehmen. Einen Abendspaziergang trotz der späten Stunde, womit du mich erneut positiv überraschtest. So zogen wir unsere Schuhe an und liefen los, wobei wir uns angeregt unterhielten. Wir liefen und ich merkte, dass dich die aktuellen Entwicklungen, sein es wissenschaftliche oder gesellschaftliche, immer noch, wie bereits in unseren jungen Jahren, interessierten und es machte mir eine Menge Spaß mich darüber mit dir auszutauschen und zu diskutieren, auch wenn wir nicht immer die gleiche Meinung zu den verschieden gesellschaftlichen Entwicklungen und Themen unserer Zeit hatten.

Der Abend, wie die restlichen zwei Tage deines Besuches vergingen wie im Flug und ich muss gestehen, dass ich schon lange nicht mehr so viel Spaß und Freund hatte. Einfach alles, was wir taten, sei es das gemeinsame Kochen, das Unterhalten oder auch die Gesellschaftsspiele, die wir am zweiten Tag deines Besuches spielten, machte mir Spaß, so dass ich etwas traurig war, als es schließlich wieder Abschied nehmen hieß. Doch wirklich traurig konnte ich nicht sein, da ich weiß, dass du mir eine gute Freundin bist. Ich bin froh, dass wir unsere Freundschaft trotz der räumlichen Distanz über die Jahre erhalten konnten und hoffe, dass wir es schaffen sie auch weiter über die Jahre hinweg zu erhalten.

Also dann, ich wünsche dir auch weiterhin alles Gute für dein Leben und das du deine schöne aufmerksame Art dir erhältst. Ich freue mich schon darauf, bald wieder von dir zu hören und dich vielleicht auch mal wieder zu sehen. Bis dahin.

Alles Liebe …

Published inErzählungen

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