Zum Inhalt springen

Die Umarmung und die Gedanken

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Ein geselliger Abend geht zu Ende und es heißt Abschied nehmen. Es heißt sich von Menschen, die man mag oder nicht, wenn sie einem gar nicht vollkommen egal sind, Abschied zu nehmen. Es heißt, seine Sachen zusammenzupacken, seine Straßenkleidung anzuziehen und den gemeinsamen Abend abzuschließen, in der Hoffnung, dass er, wenn man ihn denn genoss, sich wiederholt.

So stehe auch ich auf und ziehe meine Straßenkleidung an. Ich stehe auf und wende mich den anderen Anwesenden zu. Doch wie sich jetzt „richtig“ verabschieden? Ich muss zugeben, dass ich Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, meines Lebens, in dieser Situation einfach „Bye“ oder „Auf Wiedersehen“ gesagt habe. Ich verabschiedete mich von den Bekannten so, wie man sich auf einem Geschäftstreffen verabschiedet. Doch irgendwann machte es bei mir „klick“ und ich merkte, dass ich durch diese Art der Verabschiedung in meinem Freundes- und Bekanntenkreis Barrieren aufbaute. Barrieren, die man eigentlich nicht aufbauen und noch weniger im Leben haben möchte, wenn man mit den betreffenden Menschen gut klarkommt.
So begann ich, als es bei mir „klick“ gemacht hatte, auch Umarmungen, sowohl zur Begrüßung, als auch zum Abschied, zuzulassen. Umarmungen, mal kurz und flüchtig, mal länger und ehrlich. Kurz und flüchtig, wenn die Umarmung nur zu einer „Floskel“ verkommen ist oder man die betreffende Person nicht wirklich mag. Im Gegensatz dazu, die längeren und ehrlichen Umarmungen, in denen man einfach die Nähe des anderen wahrnimmt und dadurch, dass man die Umarmung zulässt und erwidert, zeigt, dass man sich gegenseitig mag.
Wenn man sich so die Umarmungen betrachtet, so haben sie schon einen intimen Aspekt. Sie haben einen intimen Aspekt, da man die Nähe zulassen muss und sich zeitweise in die „Fänge“ des anderen begibt. Im Mittelalter hätte man bei Umarmungen vielleicht die Angst gehabt, dass einem der andere, einen Dolch in den Rücken stößt oder man durch diesen unsittlich berührt wird. Von diesen beiden Ängsten ist heute hauptsächlich die Angst vor der unsittlichen Berührung geblieben und das Unbehagen, dass man verspürt, wenn einem eine Umarmung von jemanden aufgezwungen wird, den man nicht wirklich mag oder gar vertraut.

Jetzt habe ich meine Straßenkleidung an und verabschiede mich. Ich verabschiede mich von denen, die ich an diesem Abend das erste Mal sah, mit einem einfachen „Bis bald einmal.“, von denen, die ich schon etliche Jahre kenne, die mir aber eigentlich egal sind, mit einer flüchtigen Umarmung, die kaum eine Sekunde dauert, und von den Menschen, die mir wichtiger sind, mit einer längeren Umarmung.
Am längsten dauert die Umarmung mit einer wirklich guten Freundin. Mit einer Freundin, die ich über die Jahre besser und besser kennen- und mögen gelernt habe. Diese gute Freundin ist auch die letzte der anwesenden Personen, von der ich mich verabschiede.
So stehe ich schließlich da. Sie in meiner Umarmung und genieße die Wärme ihres Körpers. Das Gefühl der Vertrautheit. Ihren Duft, den meine Rezeptoren unbewusst wahrnehmen und meinem Gehirn signalisieren, dass es sich bei ihm um einen angenehmen Duft handelt. Ich mag das Gefühl ihrer Wange an meiner und um ehrlich zu sein, manchmal wünschte ich mir sie einfach ewig so zu halten. Sie ewig in meiner Umarmung zu halten und mit ihr fortan durch die Zeit zu gehen. Doch leider ist das nicht möglich und so löse ich schließlich die Umarmung, in der Hoffnung, dass es noch rechtzeitig passierte, bevor sie meine gute Freundin sie als aufdringlich empfand, was manch einmal schneller, als gedacht, der Fall ist.

Als ich mich so von allen Anwesenden verabschiedet habe, gehe ich nach Hause. Ich gehe nach Hause und denke dabei über Umarmungen und das, was sie bedeuten und ausmachen nach. Ich denke an die Vertrautheit, die sie für mich bedeuten. Die Vertrautheit, die ich in meinem Leben suche und behalten möchte.
Beim Gedanken an die Vertrautheit, wandern meine Gedanken zu einer anderen flüchtigen Bekannten. Einer Bekannten, die mich ungläubig ansah und für verrückt erklärte, als sie in einem Gespräch erfuhr, dass ich mal mit einer Frau ausging und bei ihr übernachtete, ohne in dieser Situation mit ihr schlafen zu wollen. Sie fragte mich, warum ich denn dann überhaupt bei ihr übernachtet hätte, wenn ich mich denn nicht sexuell mit ihr vergnügen wollte. Auf ihre Frage konnte ich ihr zu diesem Zeitpunkt keine befriedigte Antwort geben, doch jetzt, da ich nach Hause laufe, wird mir bewusst, dass die einfache Antwort war, dass ich die Frau, mit der ich damals ausging, einfach bei der Übernachtung besser kennenlernen wollte. Ich wollte schauen, ob sich zwischen uns schon die Vertrautheit eingestellt hat oder in der Nacht einstellte, einfach die Gegenwart und die Nähe des anderen genießen zu können, ohne sich gleich körperlich vereinigen zu müssen. Dass man einfach beisammen liegt, sich eventuell umarmt und die Zeit, Zeit sein lässt.
Auf meinen Nachhauseweg wird mir bewusst, dass die Bekannte meine Beweggründe nicht verstünde, denn schon bei unserem Gespräch über das Kennenlernen anderer Menschen, mit denen man vielleicht eine Beziehung aufbauen möchte, meinte sie, dass es primär darum geht, Spaß zu haben. Spaß, der einzig dem sexuellen Akt entspringe. Bei unserer Unterhaltung gewann ich gar den Eindruck, dass das einzige, was ihr an Beziehungen Spaß machte, der sexuelle Akt war und dass das andere, wirklich zwischenmenschliche, ihr eher nebensächlich und unbedeutend erschien. Dort, wo mir in „Liebesbeziehungen“ die Penetration vollkommen egal ist, da Beziehungen so viel mehr sind und mir das Gefühl von Mögen und Vertrautheit wichtig ist, erhebt sie den sexuellen Akt auf einen Thron. Sie macht den Sex zu ihrem Gebieter, dem sie fast alles unterordnet. Na gut, jedem das seine. Soll doch meine flüchtige Bekannte von Bett zu Bett hüpfen und ihre sexuellen Freuden suchen. Ich muss diesen Weg ja nicht gehen und den ihren auch nicht wirklich verstehen.

Was mich betrifft, so kann ich ja einfach weiter durch die Zeit gehen und die Person suchen, die bereit ist, mich auf diesen Weg durch die Zeit, in inniger Vertrautheit, zu begleiten. Die Person, die bei mir auch das Gefühl von Vertrautheit und Zuneigung, dass ich bei der Umarmung meiner guten Freundin empfand, erweckt und diese ebenso empfindet. Diese Person, die dann meine Seelengefährtin ist.

Published inErzählungen

Diese Webseite verwendet nur technische Cookies, die zur Funktion der Webseite notwendig sind. Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du ihrer Verwendung zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen