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Midlife-Crisis – Brief 3: Der Abschied von der Realität

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Liebe Freundin,
danke für deine Antwort auf meinen letzten Brief. Ich muss dir leider recht geben, dass ich das, was ich dir mitteilen wollte, sehr abstrakt darstellte. Du meinst, dass ich mehr mit Beispielen arbeiten sollte, um besser zu veranschaulichen und zu verdeutlichen, was ich wirklich zum Ausdruck bringen möchte. Ja, damit hast du recht und ich denke, dass mir das früher, ohne dass ich mir wirklich Gedanken darüber machte, einmal wirklich gut gelang. Warum es mir jetzt nicht mehr gelingt? Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich die letzten Jahre eigentlich keine Briefe mehr schrieb und das meiste online erledigte. Selbst die Kommunikation mit meinen Freunden und Bekannten fand entweder durch Sprachnachrichten oder ein paar kurzen Zeilen, in den verschiedensten Chat- und Messangerprogrammen statt. Wann schreibt man denn auch heutzutage schon einmal ausführliche Mitteilungen oder teilt seine Gedanken jemanden schriftlich mit? Kaum! Und so ist es mit dem Schreiben, wie mit jeder Fähigkeit, die man besitzt, nämlich dass sie verkümmert, wenn man sie nicht mehr oder nur selten benutzt.

Aber gut, genug von meinem Unvermögen meine Gedanken überzeugend und leicht verständlich zu Papier zu bringen und dahin, was du weiter schreibst.
Du schreibst mir als Antwort auf meinen letzten Brief auch, dass sich viele Menschen nun einmal egoistische Ziele setzen, da wir in einer egoistischen Gesellschaft leben, in der wir von klein auf eingetrichtert bekommen, dass wir schauen müssen, dass es uns gut geht und wir unsere „Schäfchen ins Trockene“ bekommen. Du meinst, dass wir, besonders in den letzten Jahrzehnten, als Kinder durch unsere Eltern, häufig vermittelt bekommen haben, dass wir das Zentrum des Universums sein. Das Zentrum, der uns bekannten Welt, wodurch sich zwangsläufig alles um uns und unser Wollgefallen drehe, wodurch wir uns leider auch häufig unerreichbare Ziele setzten.
Wenn ich so über diese, deine Sicht auf die Lebensziele nachdenke, muss ich dir überwiegend recht geben. Ich muss dir recht geben, besonders dann, wenn ich mir die Menschen in unserem Alter, in unserer Gesellschaft, ansehe. Schaue ich mir diese Menschen an, stelle ich fest, dass sich viele von ihnen wirklich für das Zentrum des Universums halten. Sie denken, alles dreht sich um sie und besonders, wenn ihnen etwas nicht gelang oder gelingt, sind andere oder gar die ganze Gesellschaft daran Schuld. Für sie sind an Fehlschlägen immer die Anderen schuld, die sich gegen sie verschworen hätten. So beurteilen diese Menschen ihre Leben nicht im Kontext der Realität, sondern des illusorischen Gewünschten. Es findet keine Bewertung des Erreichten im Spiegel des Möglichen statt und selbst positive Leben werden negiert und als negativ empfunden, da man viele Ziele, besonders die wirklich illusorischen, noch nicht erreichte und wahrscheinlich nie erreichen wird.
Für viele der Menschen, die in eine Krise stürzen, wenn sie ihre Lebensziele und das bereits erreichte beurteilen, wäre es vielleicht angebracht, nicht den alten, illusorischen Zielen nachzuhängen, sondern neue, gut erreichbare Ziele zu formulieren. Ziele, die an die weltliche Realität angepasst sind. Aber das machen die wenigsten Menschen! Stattdessen hängen sie an ihren illusorischen Zielen fest und wenn es ganz schlimm kommt, setzten sie sich noch illusorischere Ziele, die noch weniger erreichbar sind. Ziele, die nur sie selbst, aber nicht die Umwelt und andere Menschen, sowie deren Gedanken und Wünsche, einbezieht und schon alleine deswegen nicht erreichbar sind.
Ich sehe, wie viele Menschen in der Mitte ihrer Leben, eine Blase der Ignoranz und des Egoismus erschaffen, in der sie sich häuslich einrichten. Eine Blase, in der sie alles verdammen, was ihr „Wohlbefinden“ stört und ihnen der Rest der Welt egal ist, solange sie, also die Welt, ihr Leibeigener bleibt. Eine Blase, die, wenn sie ausgeprägt genug ist, die Menschen nach einfachen Erklärungen für Unbehagen und Fehlschlägen suchen lässt. Eine Erklärung für die Ursache ihres Ungemachs, die in der Regel nicht bei ihnen, sondern bei anderen liegt, egal ob es nun der Realität entspricht oder nicht.
Leider erlebte ich schon viel zu häufig, dass die Blasen, die sich die Menschen selbst erschaffen, über kurz oder lang zu Psychosen werden, durch die, die betreffenden Menschen, in verschiedenen Ausprägungen der Paranoia und / oder der Schizophrenie anheimfallen. Das geschieht dabei seltenst von jetzt auf gleich. Nein, es ist meistens ein langsamer aber stetiger Prozess, indem diese Menschen mehr und mehr die Schuld für alle Misserfolge und körperlichen Unbehagen anderen Menschen oder der Gesellschaft an und für sich geben. Es ist ein Weg, auf dem sie anfangen, auch immer mehr ihren eigenen Lügen zu glauben und der Wahrheit den Rücken zu kehren. Es sind Lügen, die sie sich von der Schlechtheit der Welt oder Gesellschaft selbst einreden. Lügen, durch die sie sich verfolgt und von anderen Menschen gegängelt fühlen, auch wenn die Ursache für einen Misserfolg bei ihnen selbst oder für ein körperliches Unwohlsein, in ihren alternden Körpern liegt.

In diesem Zusammenhang stellte ich auch fest, dass kaum ein Mensch dazu fähig ist, sich wirklich einzugestehen, dass er einen Fehler gemacht oder sich in einer seiner Ideen verrannt hat. Es fällt vielen Menschen schwer, sich einzugestehen, dass man auch selbst der Grund für das eigene Unbehagen oder das Misslingen der Lebensziele sein kann. Der einfache Weg, in diesen Situationen ist dann, anderen die Schuld zu geben. Anderen die Schuld zu geben, anstatt sich selbst und das eigene Leben zu analysieren, zu hinterfragen und schlussendlich, zu ändern. Ich habe gar den Eindruck, dass nichts den Menschen schwerer fällt, als der Realität in die Augen zu schauen und das eigene Leben immer wieder an ihr auszurichten. Manch einmal kommt es mir gar so vor, als hielten sich die meisten Menschen für unfehlbar und perfekt, wobei doch eigentlich jeder Mensch Fehler macht, und man sich selbst nur wirklich weiterentwickeln und dadurch schlussendlich glücklich werden kann, wenn man sich diese Fehler eingesteht.

Um meine oben beschriebene Sicht auf die Menschen und die Gesellschaft zu verdeutlichen, möchte ich an dieser Stelle von einem Bekannten berichten. Der Bekannte lebte an und für sich ein gutes Leben. Er hatte ein Haus, eine sichere Arbeitsstelle und eigentlich immer genug Geld für gutes Essen und sonstige Bedürfnisse. Nun kam es aber so, dass er älter wurde und um seinen vierzigsten Geburtstag herum plötzlich feststellte, dass ihm etwas fehlte. Es fehlten in die sozialen Kontakte und eine Partnerin, mit der er durchs Leben gehen konnte.
Was die sozialen Kontakte betraf, so lag der Grund dafür, dass er nur wenige und dazu häufig auch noch oberflächliche Kontakte pflegte, daran, dass er rechthaberisch und darüber hinaus auch noch recht religiös war. Ja, man mag es kaum glauben. Der Mensch, der in unserer Gesellschaft aufwuchs und lebte, war wirklich religiöse und versuchte menschliche Verhaltensweisen und wie man leben sollte, mit der Bibel zu begründen! Und was passiert mit gläubigen, rechthaberischen Menschen, die versuchen, alles mit der Bibel zu begründen, in unserer Gesellschaft? Sie werden schnell anstrengend, da wissenschaftliche Argumente für sie nicht zählen. Das anstrengend sein, hat wiederum zur Folge, dass besagte Menschen von anderen, nicht religiösen Menschen, gemieden werden.
Aber zurück zum eigentlichen Geschehen. Der Bekannte begann also sich und sein Leben zu hinterfragen und stellte dabei fest, dass er zwei seiner wesentlichen Lebensziele bisher nicht erreicht hatte. Das eine Lebensziel war. Viele gute soziale Kontakte zu führen und das andere, eine Liebesbeziehung aufzubauen, die die Zeit überdauerte. Als ihm das bewusst wurde, begann er zum einen Bekannte einzuladen und große Feste zu schmeißen, um soziale Anerkennung und Beachtung zu finden, doch das gelang ihn nicht, denn obwohl anfänglich ein paar flüchtige Bekannte kamen, kamen mit der Zeit weniger und weniger, bis schließlich keiner mehr kam, da ihnen sein Verhalten und die ständige „biblische“ Rechthaberei auf die Nerven ging. Als schließlich keiner mehr seinen Einladungen Folge leistete, sah er aber nicht den Grund dafür bei sich und seinem Auftreten, sondern bei allen anderen. Er gab anderen und der Gesellschaft die Schuld daran, die ihn isolieren wollte, da er die Wahrheit sprach, die nicht gehört und mit ihm zum Verstummen gebracht werden sollte.
Was die Liebe betraf, so kam der Bekannte gut mit einer Arbeitskollegin aus und er fing an, sich einzureden, dass das gut klarkommen, eigentlich schon Liebe sei. So fing er an, ihr Avancen zu machen und zu versuchen, auch mit finanziellen Versprechungen, sie von sich zu überzeugen. Doch die Arbeitskollegien hatte kein Interesse an einer Liebesbeziehung mit ihm und sagte ihm das auch. Doch er wollte es nicht wahrhaben und umwarb sie weiter, bis es ihr schließlich zu viel wurde, und sie sich versetzen ließ. Aber selbst dann, gestand er sich immer noch nicht ein, dass sie seine „Liebe“ nicht erwiderte und er sie sogar stattdessen, durch sein Benehmen, dazu gebracht hatte, die Distanz zu suchen. Eine räumliche Distanz, für die er wiederum die Gesellschaft verantwortlich machte, die sie nicht zusammen arbeiten und kommen ließe. Er klagte andere Menschen und die Gesellschaft als solche an, dass sie die tiefe Liebe, die seine Arbeitskollegin und er zueinander hätten, boykottierten und sie entzweiten. Er fing an, für seine fixe Idee, der „Liebe“ zu seiner Arbeitskollegin zu kämpfen und mit seinen Anschuldigungen, dass andere ihre Liebe zerstörten, wie es die Familien von Romeo und Julia in Wilhelm Shakespeares gleichnamigen Roman taten, sich mehr und mehr ins Abseits zu manövrieren.
So isolierte er sich mehr und mehr und der Kontakt mit anderen Menschen wurde weniger und weniger. Durch seine zunehmende Isolation kam es schließlich dazu, dass er noch verbissener an die Dinge glaubte, die er alleinig in seinem Kopf sah.
Die Jahre vergingen und er trug weiterhin die Wut auf die Gesellschaft, die ihn „zerstören“ wollte im Herzen. Doch wie es bei uns Menschen nun einmal so ist, so nahmen mit dem Alter auch bei ihm, die körperlichen Beeinträchtigungen zu. So bekam er vermehrt Gelenkschmerzen, da er seinen Körper viele Jahre lang zu viel körperliche Belastung zugemutet hatte. Doch anstatt die Schmerzen und Beeinträchtigungen als Zeichen der körperlichen, altersbedingten Abnutzung zu sehen, die sie ganz offensichtlich waren, gab er auch die Schuld an ihnen, der Gesellschaft. So beklagte er, dass andere Menschen und die Gesellschaft als solche ihn vergiftete und mental beeinflusste. Er meinte, dass die Gesellschaft ihn ganz bewusst die Schmerzen zufügte, die er immer wieder verspürte. Nach dem Grund für diese Annahme gefragt, meinte er, dass sie ihn mundtot machen wollten, da er als einer der Wenigen, immer die Wahrheit spräche und er ganz genau wisse, was für miese Dinge, die Führenden in unserer Gesellschaft trieben. Ferner brachte er auch, wenn auch selten, zum Ausdruck, dass er vergiftet würde, damit die Liebe zwischen seiner ehemaligen Arbeitskollegin und ihn endgültig endete und andere sie für sich beanspruchen könnten.
Was den Bekannten betrifft, so wurde sein Leben mehr und mehr zu einem Trauerspiel. Einem Trauerspiel, indem er einsamer und einsamer wurde und mehr und mehr seiner Gedankenwelt anheimfiel. Er wurde immer einsamer, denn je mehr er der Gesellschaft und anderen Menschen die Schuld für seine Lebenslage gab, desto mehr trieb er die anderen Menschen dazu, sich von ihm abzuwenden und je mehr sich die Menschen von ihm abwendeten, desto mehr gab er anderen Menschen und „bösen Mächten“ die Schuld an seiner Misere. Kurz, es war ein Teufelskreis.

Dieses Beispiel mag ein Extremfall von Realitätsverlust darstellen, doch in leichter bis mittelschwerer Form beobachte ich regelmäßig dieses Verhalten bei vielen Menschen unserer Gesellschaft. In diesem Zusammenhang denke ich auch manch einmal, dass unsere gesamte Gesellschaft beim Psychologen auf die Couch gehörte, damit die Menschen mal wieder die wirkliche Realität wahrnehmen. Dass die Menschen die Welt und sich selbst so sehen, wie sie wirklich sind, anstatt ihren häufig egoistischen, realitätsfernen Weltbildern nachzujagen und sich dadurch selbst unglücklich zu machen.

Aber damit genug von mir. Was denkst du? Haben wir in unserer Gesellschaft wirklich den Bezug zur Realität verloren und vor allem, was denkst du, dass man dagegen tun könnte und sollte?

Alles Liebe.

Published inMidlife-Crisis

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