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Midlife-Crisis – Brief 4: Die Suche nach einem Schuldigen

Geschätzte Lesezeit: 9 Minuten

Liebe Freundin,
als Antwort auf meinen letzten Brief schriebst du, dass vielleicht ja all die Realisten, die Verrückten sind. Die Realisten, die die Welt sehen, wie sie ist und nicht selten an ihr verzweifeln, während es denen, die sich in Blasen der Ignoranz flüchten, wahrscheinlich leichter fällt, ein glückliches Leben zu führen. Denn ist es nicht ein Segen der Ignoranz, dass es einem durch sie gelingt, viele der Ungerechtigkeiten und Zerstörungen, die tagtäglich auf unserer Welt geschehen, auszublenden. Du meinst weiterhin, dass meistens die zerbrechen, die die wirkliche Realität sehen und trotzdem nach einer Utopie streben, in der alle glücklich, friedlich und nachhaltig zusammenleben.
Was deine Sicht betrifft, so kann ich sie nachvollziehen. Ich kann sie nachvollziehen, auch wenn ich daraus keine Rückschlüsse für mein Leben und mich ziehen kann. Was sollte ich auch an meiner Sicht auf die Realität ändern? Sollte ich etwa ebenfalls ein Teil der stumpfsinnigen, stillen Masse werden? Sollte ich all die Stumpfsinnigen für ihren einfachen Weg verdammen? Sollte ich mir vielleicht auch Schuldige suchen, die ich für alles Schlechte, was der Welt oder mir passiert, verantwortlich machen kann, nur um selbst unbesorgt zu leben? Nein, das kann und will ich nicht!

Aber wenn wir gerade dabei sind, von Schuldigen zu sprechen, denen man die Verantwortung dafür gibt, dass einem im eigenen Leben nicht das Erhoffte in den Schoß fiel oder die Welt und Umwelt durch uns Menschen zerstört wird. So könnte jeder von uns, als Erstes, immer seinen Eltern die Schuld dafür geben, dass man nicht das gewünschte erreichte. Man kann behaupten, dass sie zu arm, zu wenig liebevoll, nicht gebildet genug und so weiter waren und man deswegen nicht das erreichte, was man eigentlich verdiente. So leicht könnte es sein, sich selbst von jeder Verantwortung für sein eigenes Leben reinzuwaschen. Möchte man seinen Eltern nicht die Schuld geben, da man sie ja liebt, so gibt man einfach den Lehrern oder der Gesellschaft als ganzes die Schuld, in dem man den Lehrern vorwirft, einen nicht genügend gefordert und gefördert zu haben oder der Gesellschaft, die den Menschen so unterschiedliche Startchancen gibt, je nachdem, in welche gesellschaftliche Schicht sie geboren wurden. Ja, man kann für das eigene Versagen immer anderen die Schuld geben, auch dafür, welch trauriger Ort die Welt ist und in welchem Ausmaß die Umweltzerstörung voranschreitet. Doch bringt das etwas im Großen und Ganzen? Was bringt es, immer den Anderen, sein es Menschen, Firmen oder die Gesellschaft, die Schuld zu geben, ohne sich selbst zu hinterfragen und konstruktiv an einer Beseitigung der Missstände, die es tatsächlich gibt, zu arbeiten?
Ich sehe immer wieder Menschen in der Mitte ihrer Leben, die jammern und jammern wie schlecht die Gesellschaft und die Welt doch ist. Doch selbst etwas dafür zu tun, dass sich etwas daran ändert, kommt den meisten nicht in den Sinn. Dabei ist es aus meiner Sicht nie zu spät, sich weiterzubilden, sein bisheriges Leben zu hinterfragen und neue Wege zu gehen, wenn man feststellt, dass der alte Weg ein Holzpfad ist. Aber nein, das möchten viele Menschen nicht, denn das bedeutete ja Arbeit und Engagement. Da bleibt man dann doch lieber in seiner Lethargie gefangen und gibt anderen die Schuld, einfach, weil es so bequemer ist.

Liebe Freundin, es tut mir leid, dass ich mich hier so aufrege. Doch mich nervt wirklich dieses „Schuldspiel“. Das Spiel, indem man immer wieder andere als Schuldige ausmacht, aber sich selbst nur seltenst hinterfrag oder gar sein Leben und sein Verhalten ändert. Es ist wie bei einigen „Fridays for Future“-Demonstranten, die mit einem Einweg-Coffee-to-Go-Becher zur Demonstration gehen und anschließend bei Primark noch kurzlebige „Mode der Saison“ kaufen. Viele von ihnen fliegen gar noch gern in den Urlaub, ohne groß darüber nachzudenken, dass sie sich und ihre Forderung, durch dieses Verhalten, lächerlich machen. Spricht man sie dann noch auf ihren gelebten Irrsinn an, bringen sie häufig als Begründung für ihre Verhalten vor, dass sie alleine ja nicht das Problem sein und man die Kirche auch mal im Dorf lassen sollte. Sie geben anderen die Schuld für das, was alles auf der Welt falsch läuft und begreifen nicht, dass sich nie etwas ändert, wenn alle, der fast acht Milliarden Menschen auf dieser Welt, dächten wie sie.

Aber gut. Eigentlich wollte ich ja von der Midlife-Crisis der Menschen schreiben, die wie ich, statistisch gesehen, die Hälfte ihrer Leben hinter sich haben und sich aufgrund dessen psychisch schlecht fühlen. Vielleicht fragst du dich an dieser Stelle zurecht, was das, was ich bisher über die Suche nach einem Schuldigen schrieb, damit zu tun hat. Die Sache ist die, dass ich aus meinen Beobachtungen von vielen Freunden und Bekannten schloss, dass sie in der Mitte ihrer Leben nach Schuldigen für Misslungenes, abseits ihrer selbst, suchen. Mir fiel auf, dass sich die wenigsten von ihnen in dieser Situation fragten, was sie fortan besser machen oder wie sie sich gesellschaftlich einbringen könnten, damit sie es fortan besser machen oder zumindest kommenden Generationen bessere Chancen ermöglichten. Nein, sie sahen nur sich und das nicht Erreichte. Sie sahen das Misslungene und suhlten sich dann meistens nur allzu bereitwillig in ihrer Lethargie, anstatt wirklich etwas zum Besseren ändern zu wollen. Sind wir, in unserer Gesellschaft, wirklich so egoistisch, dass wir uns lieber in Schwermut und im Schuldzuweisungsspiel versuchen, anstatt uns unser eigenes Scheitern einzugestehen und anschließend daraus den Mut und die Kraft zu ziehen, unseren Leben eine neue Richtung zu geben? Unsere Leben neu auszurichten und uns für Chancengleichheit und eine lebenswerte Welt, für kommende Generationen und uns, einzusetzen.

Doch ich vergaß beinah, dass ich dir versprach, mehr mit Beispielen zu arbeiten, damit meine schriftlichen Ergüsse nicht zu abstrakt bleiben.
Als Beispiel für meine Beobachtungen fällt mir gleich ein ehemaliger guter Freund ein, der mehr als drei Dekaden ein guter Freund war, bis wir uns heftig, im Zuge seiner Midlife-Crisis, zerstritten. Ich muss zugeben, dass ich nicht ganz unschuldig daran war, denn meine Worte waren sicherlich etwas harsch gewählt, doch wie ich bereits erwähnte, nervt mich das Gesuhle in Selbstmitleid. Mich nervt es, egal, ob es sich bei den betreffenden Personen um Fremde oder Freunde handelt.
Was jetzt meinen ehemaligen Freund betrifft, so lernte ich ihn mit fünf Jahren im Kindergarten kennen. Wir wurden schnell Freunde und verbrachten anschließend unsere restliche Kindergartenzeit und einen Großteil unserer Schulzeit zusammen, wobei er nach dem Realschulabschluss eine Lehre anfing und ich aufs Gymnasium wechselte, um mein Abitur zu machen. Der Grund dafür, dass er eine Lehre absolvierte, war primär, dass er ein eher körperlicher Typ war, der gern etwas mit seinen Händen tat und darüber hinaus auch kaum stillsitzen konnte. Ich dagegen war eher der verkopfte Typ, dem es gelang, stundenlang über einem Problem zu brüten, bis es schließlich gelang, eine Lösung zu finden. Ich war der Typ, der immer mehr wissen und lernen wollte und dabei am Lernen sogar Spaß hatte. Nun, wir beide wurden älter, lebten unsere Leben und unternahmen regelmäßig etwas miteinander. Das ging so lange gut, bis mein Freund immer unzufriedener mit sich und seinem Leben wurde. Er wurde missmutig und begann die Schuld für alles, was ihm im Leben nicht gelang, anderen Menschen, selbst seinen Eltern, zu geben. Er gab seinen Eltern die Schuld dafür, dass er sich körperlich auf den verschiedensten Baustellen „kaputt schuftete“, da sie ihn nicht dazu angetrieben hätten, dass er doch das Abitur machte und anschließend studierte. Abgesehen von seinen Eltern gab er auch seinen ehemaligen Lehrern die Schuld dafür, dass sie ihn nicht besser gefördert hatten. Schlussendlich gab er sogar der gesamten Gesellschaft die Schuld dafür, dass er in eine arme Familie geboren wurde, die sich keine Nachhilfe für ihn leisten konnte. Einer Familie, deren Mitglieder eigentlich immer nur handwerklich tätig waren und deswegen keinen übermäßigen Ehrgeiz verspürten, ihren Sohn zum Abitur und Studium zu nötigen. Ihn dazu zu nötigen, noch länger die Schulbank zu drücken, was ihn sicherlich keinen Spaß gemacht hätte und aufgrund dessen wahrscheinlich auch wenig erfolgreich gewesen wäre.
Als er so in seiner Lethargie schwelgte, konnte ich nicht an mich halten und meinte, dass er nicht seinen Eltern die Schuld geben sollte, die ich ja selbst seit meinen jungen Lebensjahren kannte und von denen ich wusste, dass sie stets bestmöglich versuchten, für ihr ihn da zu sein. Ich war mir auch sicher, dass sie ihn beim Abitur und Studium unterstützt hätten, hätte er nur selbst dafür Interesse gezeigt, doch das tat er in seinen jungen Jahren nicht, und so war aus meiner Sicht, die Schuldzuweisung an seine Eltern unangebracht. Überdies brachte ich auch zum Ausdruck, dass er sich ja immer noch selbst weiterbilden könne, indem er beispielsweise noch den Meister machte oder das Abitur nachholte. Doch anstatt zu sagen, dass er es wenigstens versuchte, jammerte er nur, dass er jetzt, mit knapp 35 Lebensjahren auf dem Buckel, dafür zu alt sei, und es ohnehin keinen Sinn mehr hätte. Er wälzte sich in seinem Selbstmitleid und irgendwann gerieten wir, da mich das Selbstmitleid nervte, und er sein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen wollte, egal, was ich ihm auch vorschlug, so aneinander, dass wir uns zerstritten und fortan kein Wort mehr miteinander sprachen.

Damit genug von meinem alten Freund. Was mich betrifft, so hätte ich sicherlich auch genügend Anlass das „Schuldspiel“ zu spielen. Nur, dass es bei mir nicht den Bildungs- oder Lebensstandard beträfe, sondern die Liebe und Liebesbeziehungen. Ach, wie schwer fiel es mir nach meinen ersten Fehlschlägen, Frauen mein Herz zu öffnen und ihnen meine Liebe zu gestehen. Wie oft zog ich mich in meinem Leben nur hinter meinen, um mein Herz selbst errichteten, Schutzwall zurück und ließ Gelegenheit um Gelegenheit verstreichen, eine potentielle Partnerin kennen und lieben zu lernen. Ach, wie oft stand ich mir nur selbst im Weg, weil ich Angst hatte, dass mir mein Herz wieder verletzt würde, wie es die ersten beiden Male geschah, als ich jemanden meine Liebe gestand.
Ach, wie leicht fiele es mir doch, die Schuld an meinen misslungen Liebes- und Beziehungsleben den zwei Mädchen zu geben, in die ich während meiner Grund- und meiner Mittelschulzeit verliebt gewesen bin. Wie leicht wäre es, ihnen für meine Vorsicht und Zurückhaltungen in Sache Liebe die Verantwortung zu geben, da sie, anstatt meine Liebe zu erwidern, meine Liebesgeständnisse nahmen, sie in der Luft zerrissen und mich mit bösen Worten abwiesen, wodurch mein Herz zerbrach und unsäglich schmerzte.
Doch, wenn ich ehrlich zu mir selber bin, so kann ich ihnen für das, was in Sachen Liebe und Beziehungen aus mir wurde, keine Verantwortung geben. Bin ich wirklich ehrlich zu mir selbst, so hätte in meinen jungen Jahren keine ehrliche und andauernde Liebesbeziehung führen können, da ich als Kind und Jugendlicher viel zu überdreht und anstrengend war, um mich überhaupt auf einen anderen Menschen wirklich einzulassen und für ihn da zu sein.
Wenn ich wirklich ehrlich zu mir bin, kann man Liebe nie erzwingen und die Schuld für das nicht Zustandekommen einer Beziehung oder den Weg, den man nach einer Abweisung oder dem Ende einer Beziehung geht, alleinige einem anderen Menschen geben, da zu einer Beziehung immer mindestens zwei Menschen gehören. Mindestens zwei Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen und daran glauben, dass zwischen ihnen eine gemeinsame Liebesbeziehung möglich ist.
Wie bei mir, in Bezug auf Liebesbeziehungen, so ist es bei vielen Dingen, in den Leben von uns Menschen. An Miss- und Fehlschlägen haben nur seltenst „die anderen“ schuld. Nein, man hat eigentlich immer eine Teilschuld, da man nie losgelöst von anderen Menschen und der Umwelt leben und agieren kann. Dabei ist es besonders wichtig, dass man begreift, dass man, wenn man glücklich leben möchte, seine Weltsicht und Wünsche nicht anderen Menschen dauerhaft aufzwingen kann.
Doch was bleibt jetzt einem, dem vieles im Leben misslingt, übrig zu tun? Es bleibt einem immer die Möglichkeit, das eigene Leben zu analysieren und es zu versuchen, in eine neue Richtung zu lenken, anstatt sich hinter der Behauptung zu verstecken, dass die anderen an diesem oder jenem schuld sein. In diesem Kontext sollte man sich auch immer wieder selbst hinterfragen und sich selbst dazu motivieren, etwas am eigenen Leben zu ändern, wenn man mit ihm unzufrieden ist. Dabei sollte man aber stets bedenken, die Wünsche und Gedanken von anderen wahrzunehmen und sie bei der eigenen Lebensplanung zu berücksichtigen.

Soviel zu meinen persönlichen Erlebnissen, was die Schuldzuweisungen und die Suche nach einem Schuldigen, in der Lebensmitte, betrifft. Was sind deine Gedanken dazu? Bist du der Meinung, dass wir uns damit abfinden sollten, dass wir nur allzu oft, in der Mitte unserer Leben, lethargisch zurück auf unsere bisherige Lebenszeit blicken oder sollten wir uns bewusst machen, was uns gelang und was nicht? Sollten wir in der Lethargie schwelgen oder uns doch lieber fragen, wie wir uns selbst und die Gesellschaft dahin gehend verändern können, dass die Welt gerechter und lebenswerter für kommende Generationen und uns wird? Sollten wir uns neu orientieren und nach realisierbaren Utopien streben?

Herzlichst, dein guter Freund.

Published inMidlife-Crisis

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