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Midlife-Crisis – Brief 6: Schrödingers Katze

Geschätzte Lesezeit: 7 Minuten

Liebe Freundin,
ich finde es schön, dass du schreibst, dass du nach der romantischen Liebe und einen Seelengefährten suchst. Nach einem Seelengefährten, mit dem du offen über alles kommunizieren und durch die Zeit gehen kannst.
Ferner bringst du auch zum Ausdruck, dass manche Menschen in der Mitte ihrer Leben nicht unbedingt fremdgehen, um die Bestätigung ihrer selbst, durch die Eroberung, zu erfahren, sondern, weil sie es als ein Abenteuer betrachten. Sie sehen es als ein Nervenkitzel, da immer das Risiko des erwischt werden besteht. Du siehst den Grund für diese Suche nach Abenteuern darin, dass viele Menschen, in der Mitte ihrer Leben, in Routinen gefangen sind und sich nicht selten innerlich tot fühlen. Sie fühlen sich leer und gelangweilt, und suchten aufgrund dessen das Abenteuer, um wieder zu spüren, dass sie noch leben und nicht bereits innerlich gestorben sind.

Was deine Beobachtungen betrifft, so muss ich dir recht geben. Ja, es suchen viele Menschen in der Mitte ihrer Leben wieder nach Abenteuern, um der Tristesse des Alltags zu entkommen, und das sicherlich auch in Beziehungen. Selbst ich, der nie gern reiste und eigentlich nie ein unnötiges Risiko einging, frage mich manch einmal, ob ich doch noch einmal etwas Neues anfangen oder etwas riskieren sollte, um nicht in den Routinen, in denen sich mein Leben bewegt, gefangen zu sein. Manch einmal denke ich sogar, dass ich mich einmal untersuchen lassen müsste, um festzustellen, wer oder was ich wirklich bin. Lebe ich noch oder bin ich bereits innerlich tot? Bin ich noch normal oder bereits vollkommen verrückt? Kurz, ich müsste mal überprüfen, wer und was ich in Bezug auf mein Leben, im Kontext unserer Gesellschaft, bin. Um es kurz zu machen, ich glaube manch einmal, dass es sich mit mir, wie mit „Schrödingers Katze“ verhält, nämlich dass ich sowohl lebendig als auch tot bin, solange man die Box nicht öffnet und den Inhalt gründlich untersucht.
Doch was ist die Konsequenz aus dem Gefühl, sowohl innerlich „tot“ als auch „lebendig“ zu sein? Vor allem werde ich ja wohl nicht der einzige Mensch sein, dem es so geht. Vielleicht ist sogar jeder Mensch ein Stück weit „Schrödingers Katze“ und erst wenn man sich selbst ehrlich analysiert, stellt man fest, ob man schon innerlich tot oder doch noch lebendig ist.

Ach, bei so vielen Freunden und Bekannte erlebte ich bereits, dass sie langsam innerlich starben. Sie siechten langsam innerlich dahin und man merkte es häufig erst, wenn es viel zu spät war, da das „dahinsiechen“ ein langsamer aber stetiger Prozess ist. Einige von meinen Freunden und Bekannten merkten sogar selbst, dass sie in Routinen gefangen waren und mehr und mehr abbauten und versuchten aufgrund dessen dagegen anzukämpfen. Sie versuchten für ein Gefühl von Leben zu kämpfen und das nicht selten dadurch, dass sie sich Abenteuer suchten. Abenteuer, in denen sie sich noch einmal lebendig fühlten, wobei sie nicht selten vieles, was sie bereits besaßen, zerstörten oder anderen grob fahrlässig unnötigen Schmerz und Leid zufügten. Wie bei dem bereits erwähnten Fremdgehen, in einer Beziehung.

In diesem Kontext ist vielleicht die Frage, wie die Menschen agieren, die bereits innerlich gestorben sind, zweitrangig. Die Frage danach, wie man es schafft, erst gar nicht in diese Situation zu kommen, sich fragen zu müssen, ob man selbst noch innerlich lebt oder bereits gestorben ist, ist doch eher die entscheidende. Wäre es denn nicht wichtig zu wissen, wie man leben sollte, um sich sein ganzes Leben lang innerlich lebendig zu fühlen?
Betrachte ich mir Freunde und Bekannte, so stelle ich fest, dass meistens die genügsamen von ihnen, seltenst nach „Schrödingers Katze“ schauen müssen. Die, die genügsam sind und ihr Glück im Kleinen zu finden wissen, sind die, die sich lebendig fühlen. Sein es die Menschen, denen das Engagement im Verein oder das Treffen mit Freunden schon Seelenfrieden gibt. Sein es die Menschen, die ihre Erfüllung in der nachhaltigen Anlage ihres Gartens oder dem Schutz der Natur sehen. Ehrlich gesagt, habe ich den Eindruck, dass sich die Menschen wirklich nachhaltig lebendig fühlen, die sich in Gruppen engagieren oder ihre Zeit für etwas aufwenden, das nicht nur ihnen selber nutzt, sondern auch einen Mehrwert für die Gesellschaft oder gar die Umwelt hat.
Im Gegensatz zu diesen Menschen begegnen mir aber auch immer wieder Personen, die abgrundtief seelenleer sind. Es sind Menschen, die ihr Leben lang nur sich und ihre eigenen Ziele und Wünschen sehen und dadurch häufig nur nach Status streben, anstatt der Welt etwas Positives zurückgeben zu wollen.

Ach, wie vielen Menschen begegnete ich schon, die mit immer neuen Smartphones, selbstdarstellerischen Selfies, Luxusreisen und „dicken Karren“ versuchten, die Leere in ihren Seelen zu füllen. Ach, wie viele traurige Gestalten kreuzten bereits meinen Weg, deren ganze Welt plötzlich, in der Mitte ihrer Leben, zusammenbrach, als sie merkten, dass nichts von ihren Status von Dauer ist und sich wahrscheinlich einst niemand an sie erinnern wird. Manch einer von diesen Menschen wird dann „Größenwahnsinnig“ und versucht Macht anzuhäufen. Macht über andere. Sei es finanzielle Macht oder die Macht des „besseren sozialen Standes“. Die Macht, andere Menschen auszugrenzen, sie zu diskreditieren und Feindbilder zu erschaffen. Feindbilder, die sie selbst immer und immer wieder bedienen, um sich am Ende als „Retter des Abendlandes“ aufzuspielen. Als Retter der westlichen Gesellschaft vor fremden oder feindlichen Kulturen und einer zügellosen Ausbeutung.

Immer wenn ich an solch innerlich tote Menschen denke, muss ich auch an einen ehemaligen Freund denken. An einen Freund aus meiner Schulzeit, dem sein Lebensmotto mit Anfang zwanzig war: „Nichts geht über schnelle Frauen und heiße Autos.“ Dieser Freund versuchte sich seine Bestätigung aus seinem Auto, dass er immer weiter, sowohl mit Geld, das er hatte als auch mit Geld, über das er eigentlich nicht verfügte, aufmotzte, zu holen, indem er es und mit ihm sich selbst zur Schau stellte. Rückblickend muss ich ehrlicherweise zugeben, dass er ein formidabler Poser war, der es immer und immer wieder schaffte, sich gut darzustellen und dadurch, zumindest kurzzeitig, bei den Gleichaltrigen Anerkennung zu finden. Bei Gleichaltrigen Anerkennung zu finden, und Frauen, zumindest kurzfristig von sich zu überzeugen. Doch, wie es nun einmal so ist, die Menschen werden älter und einige von ihnen auch weißer. So gründeten seine Freunde und Bekannten nach und nach Familien, wodurch sie nicht mehr mit ihm „abhingen“ und er langsam vereinsamte, bis er schließlich nur noch sein Auto hatte.
So kam es, dass er an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag mit seinen „Freunden“ feiern wollte und sie aufgrund dessen zu einer Autoshow einlud. Zu einer Autoshow, auf der er sein frisch überholtes Auto darstellen und sich seine Bestätigung abholen wollte. Doch es kam keiner seiner „Freunde“. Traurig und frustriert, aufgrund des versetzt werden, betrank er sich. Der Abend schritt voran und schließlich wollte er doch wieder nachhause. Nachhause, in seine leere, einsame Wohnung. Als er so an seine kalte Wohnung dachte, verließ ihn jegliche Lust, wirklich nachhause zu fahren und er beschloss stattdessen noch eine „kleine“ Spritztour“ zu machen.
Eine Spritztour in seinem angetrunken und selbst mitleidigen Zustand, wodurch es, wie zu erwarten, zu einem unguten Ende kam. Es war auf einer Landstraße, auf der er mit sehr hoher Geschwindigkeit in einer Kurve nicht genug einlenkte und dadurch an einem Baum, auf der anderen Straßenseite, seiner Rundtour und seinem Auto ein Ende setzte. Was ihn selbst betraf, so erlitt er nur mittelschwere Verletzungen und kam in ein Krankenhaus, dass er aber recht schnell wieder verlassen konnte. Im Gegensatz zu ihm, war seinem Auto aber nicht mehr zu helfen. Seinem Auto, in das er all seine Zeit und mehr Geld, als er eigentlich besaß, gesteckt hatte, war nur noch ein Schrotthaufen. Als er so, vor den Trümmern seiner Existenz stand, fluchte und zeterte er. Doch, nicht nur das. Über den Verlust seines Autos und damit seines einzigen Lebensinhalts wurde er auch zunehmend verbittert. An dieser Stelle seines Lebens suchte ich noch einmal den Kontakt zu ihm, um ihn zu fragen, ob ich ihn irgendwie helfen könnte. Ich tat es der guten alten Zeiten wegen, in denen er eigentlich ein ganz lustiger und lebensfroher Geselle gewesen ist. Doch anstatt meine Hilfe anzunehmen und seinem Leben vielleicht sogar eine neue Richtung zugeben, lehnte er sie ab. Dabei merkte ich, dass er gar kein Glück darüber empfand, dass er noch am Leben war und die Chance hätte, seine Existenz mit Sinn zu füllen. Nein, stattdessen gab er allen anderen Menschen die Schuld an seinem Unglück. Wobei, eigentlich nicht allen Menschen, sondern hauptsächlich den Menschen, die in der gesellschaftlichen Hierarchie noch unter ihm standen. So schimpfte er auf Arbeitslose, die seiner Meinung nach, viel zu viel Geld bekämen, während er sich nicht einmal von seinem Auskommen die Reparatur seines Autos leisten könnte. Er schimpfte auf Ausländer, die alle, seiner Meinung nach, nur unseren Wohlfahrtsstaat ausnutzen, sich kriminell betätigten und darüber hinaus auch ihm die Frauen wegnähmen. Die Frauen, die sich aufgrund seines gehobenen Alters und der fehlenden Statussymbole wegen, nicht mehr zu ihm hingezogen fühlten.
Um es kurz zu machen, er füllte die Leere, die sich in seiner Seele befand, mit Hass und Neid. Mit Hass und Neid, wodurch er nicht nur innerlich starb, sondern zu noch etwas gefährlicheren wurde. Er wurde zu einem seelisch und moralischen Wiedergänger, dessen restliches totes Leben nur darauf ausgerichtet ist, anderen das Leben schwer zu machen und ihnen ihr Glück zu neiden.

Liebe Freundin, soviel meinerseits zu Schrödingers Katze, als Metapher für unsere Seelen. Was meinst du zu meinen Ausführungen und was denkst du, macht eine lebendige Seele und ein erfülltes Leben aus?

Herzlichst, dein guter Freund.

Published inMidlife-Crisis

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