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Fällt dir etwas an mir auf?

Geschätzte Lesezeit: 3 Minuten

Es ist Montag und ich stehe gerade etwas kurzsichtig an der S-Bahnhaltestelle „Karlsruhe Marktplatz“. Kurzsichtig, da ich am vergangenen Tag durch Unachtsamkeit meine Brille unreparierbar beschädigte, was auch der Grund dafür ist, dass ich jetzt hier stehe. Ich bin hier, da ich gerade beim Optiker war, um eine neue Brille zu bestellen und mich jetzt auf den Weg zu meiner Arbeitsstelle befinde.
Während ich so da stehe und auf die S-Bahn warte, spricht mich eine Frau an: „Fällt dir etwas an mir auf?“ Ich bin von der Frage irritiert und überlege, ob ich die Frau irgendwoher kenne. Doch trotz meiner momentanen, nicht durch eine Brille korrigierte, Fehlsichtigkeit, bin ich mir sicher, sie nicht zu kennen. Doch da ich direkt angesprochen wurde, lasse ich mein Blick flüchtig über sie wandern und meine: „Nein, mir fällt nichts auf.“, da ich wirklich nichts Auffälliges an ihr sehe. Auf meine Aussage hin sieht sie mich irritiert an und sagt: „Schau mich noch einmal genau an, fällt dir tatsächlich nichts an mir auf.“ Daraufhin schaue ich sie mir noch einmal genau, mit leicht zusammengekniffenen Augen, aufgrund meiner Fehlsichtigkeit, an. Bei der Frau handelt es sich um eine Frau mittleren Alters, die nicht besonders hübsch, aber auch nicht besonders hässlich ist. Sie hat kurzes, gekräuseltes Haar, keine markanten Gesichtszüge und trägt auch kein auffälliges Make-up oder auffälligen Schmuck. Auch ihre Kleidung ist von einem schlichten und zeitlosen Wesen.
Da mir immer noch nichts Außergewöhnliches auffällt, meine ich: „Nein, mir fällt wirkliches nichts auf.“
Auf diese Aussage hin sieht mich die Frau enttäuscht an und ich frage mich, was mir denn hätte auffallen sollen. Doch Zeit, mich länger mit diesem Thema zu befassen, habe ich erst einmal nicht, da meine S-Bahn einfährt und ich mich an einigen Menschen vorbeidrängen muss, um in die S-Bahn einsteigen zu können, bevor sie ohne mich weiter führe.

Während ich in der S-Bahn sitze und zu meiner Arbeit fahre, stelle ich mir die Frau noch einmal bildlich vor. Doch mir fällt immer noch nichts ein, was an ihr besonders wäre und mir hätte auffallen können. Schließlich erreicht die S-Bahn meine Zielhaltestelle und ich steige aus. Ich begebe mich zu meiner Arbeitsstelle, wo es mir schließlich gelingt, die Gedanken an die komische Situation in den Hintergrund zu schieben, da mich meine Arbeit sehr fordert.

Damit könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein, doch das ist sie nicht. Der Grund dafür ist, dass ich am Abend, als ich im Bett liege und langsam zur Ruhe komme, wieder an die Situation denken muss und mich wieder frage, was die Frau nur meinte. So gehe ich noch einmal ihr gesamtes Aussehen vor meinem inneren Auge durch.
Die Frau war einen Kopf kleiner als ich gewesen. Sie hatte kurzes, schwarzes, gekraustes Haar. Ihre Haut hatte einen dunklen Teint. Ihr Gesicht war relativ symmetrisch und von einer schlichten, durchschnittlichen Schönheit. Wie ihre Kleidung genau aussah, fällt mir nicht mehr ein, so durchschnittlich und unauffällig war sie gewesen.
Ich überlege, ob ich bei dem Bild von ihr, vor meinem inneren Auge, noch etwas vergessen habe. Dabei stelle ich fest, dass sie in meinen Gedanken momentan noch einen geschlossenen Mund und einen eher androgynen Körper hat. Aufgrund dessen bemühe ich mich noch einmal, mich genauer an ihren Körper zu erinnern. Mir wird bewusst, dass sie weiße Zähne hatte, die soweit sichtbar, vollzählig und gepflegt waren. Ob sie Lippenstift oder besondere Schminke trug, kann ich partout nicht rekapitulieren. Ebenso fällt mir noch auf, dass sie einen nicht besonders großen, aber eindeutig femininen Busen hatte und ihre Hüftgegend nicht knorrig oder überproportional füllig war, sondern stattdessen von einem aktiven und gesunden Lebensstil kündete.

Mit dem Bild von ihr, vor meinem inneren Auge, fällt mir immer noch nicht ein, worauf die Frau, mit ihrer Frage, hätte abzielen können, denn sie sah aus, wie Millionen anderer Menschen. Das Einzige, was mir beim Erinnern an ihr Aussehen auffiel, war, dass ihr dunkler Teint, nicht typisch europäisch, sondern gesellschaftlich mit Afrika assoziiert wird. Doch darauf hat sie sicherlich nicht angespielt, oder?
Warum sollte ein Mensch, einen anderen Menschen fragen, ob ihm etwas auffällt, nur weil er eine andere Hautfarbe hat? Die Einzigen, die so etwas störte, wären doch Rassisten, oder?

Aber was hätte mir denn jetzt, an dieser Frau, auffallen sollen?

Published inErzählungen

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